Patrizia Carmassi: In Vorbereitung: Katalog der mittelalterlichen lateinischen Handschriften der SUB Göttingen, beschrieben von Patrizia Carmassi. (Vorläufige Beschreibung)

Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 2° Cod. Ms. philol. 36 Cim.

Aristoteles latinus

Pergament — IV, 198, IV Bl. — 28 × 20 cm — Florenz — um 1460

Lagen: 19 V (192). V-1 (201) Mittelalterliche Lagen- und Seitenzählung mit Kleinbuchstaben und arabischen Zahlen in der rechten unteren Ecke der ersten 5 Blätter einer Lage. Der Beginn der zweiten Hälfte der Lage an gleicher Stelle mit einem Kreuz gekennzeichnet. Vorsatzblätter nicht nummeriert. Moderne Foliierung in arabischen Zahlen (Bleistift), beginnend mit 3 (bis 201). Generell in gutem Zustand. Das Pergament weist einige kleine Löcher (z. B. auf fol. 119). Dazu auf der Haarseite manchmal starke dunkle Verfärbung der Follikel. Tinte gelegentlich verblasst (z. B. fol. 178r). (Messer)Schnitt im Pergament am Blattrand (fol. 160-162). Einige Flecken (z. B. 152). Bei der Ausstattung weist das Gold kleine Risse und Sprünge auf. Schriftraum: 18 × 10,3 cm Nach den Untersuchungen von Albinia de la Mare gehört der Codex zu einer Gruppe von Handschriften, die von einem anonymen Schreiber ("The scribe of Laur. Fiesole 44") in der Werkstatt von Vespasiano da Bisticci (1421-1498) in Florenz geschrieben wurden. Siehe A. de la Mare, New Research on Humanistic Scribes in Florence, in Miniatura fiorentina del Rinascimento 1440-1525. Un primo censimento, hrsg. von A. Garzelli, 1, Firenze 1985 (Inventari e cataloghi toscani 18), S. 395-600, hier Nr. 88, S. 547, S. 437-438, S. 557; Ead., Vespasiano da Bisticci e i copisti fiorentini di Federico, in Federico da Montefeltro. Lo stato, le arti, la cultura, hrsg. von G. Cerboni Baiardi, G. Chittolini und P. Floriani, Roma 1986 (Biblioteca del Cinquecento 30), 3, S. 81-96. Die Handschrift Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Fiesol. 44, geschrieben von demselben Schreiber wie die Göttinger, wird von Bisticci als "fato scrivere" im Juni 1464 verzeichnet. Vgl. auch A. Dressen, The Library of the Badia Fiesolana. Intellectual History and Education under the Medici (1462-1494), Firenze 2013 (RICABIM Texts and Studies 1), bes. S. 17-25, 117-118. Zur Buchproduktion in Bisticcis Werkstatt vgl. auch A. de la Mare, Vespasiano da Bisticci as Producer of Classical Manuscripts in Fifteenth-Century Florence, in Medieval Manuscripts of the Latin Classics: Production and Use, ed. by C. A. Chavannes-Mazel and M. M. Smith, Los Altos Hills, Calif., London 1996, S. 166-207. Neben der Göttinger Handschrift war dieser Schreiber an der Herstellung weiterer Corvinen beteiligt (durch existierende oder ausradierte Wappen des Matthias Corvinus belegt): Budapest, ELTE Egyetemi Könyvtár, Cod. lat. 7, Scriptores Historiae Augustae. Budapest, Egyetemi Könyvtár, Cod. lat. 10, Tertullianus. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 170, Lucretius. Diese letzte Handschrift weist auch in der Ausstattung bedeutende Ähnlichkeiten mit der Göttinger Handschrift auf (Wachteln, geflügelter Putto im linken Teil der Bordüre in der Titelseite). Siehe Abb. in C. Csapodi und K. Csapodi-Gárdonyi, Bibliotheca Corviniana 1490 - 1990. International Corvina Exhibition on the 500th Anniversary of the Death of King Matthias. National Széchényi Library, 6 april - 6 october 1990, Budapest 1990, Tafel CXCVI. Man kann hier von einer kleinen Gruppe von zwei naturphilosophischen Werken sprechen, die anscheinend zusammen entstanden sind. Vom selben Schreiber stammt auch eine weitere Aristoteles-Handschrift in der Übersetzung von Johannes Argyropulos, heute Chicago, Newberry Library, f. 96 (Ethica). Der Wiener und der Göttinger Codex wurden tatsächlich vom gleichen Künstler Filippo Torelli illuminiert wurden. Ich danke für diesen Hinweis Maria Theisen (Wien). Vgl. Österreichische Nationalbibliothek, Supplementum Hungaricum, Band III (in Vorbereitung). Frühneuzeitliche Marginalien, nur im ersten Teil. Humanistische Buchschrift (Rotunda) von einer Hand. Rubrizierte Explicit und Titel der Bücher in Capitalis. Die Paragraphen rubriziert, aber in Minuskelschrift. Schemata und Diagramme teilweise in roter Tinte (Kreise, Linien, Vierecke), mit schwarzen Buchstaben. Rubriziert. I. Titelschmuck mit Rankeninitiale und Wappen des Königs und Besitzers (Titelrahmung). II. Sieben bis neun Zeilen hohe (ca. 5,5 bis 7 cm) Goldinitialen mit Weißranken (sog. "bianchi girari") und Deckfarbengrund zu Beginn der Praefatio und der einzelnen Bücher. Schlichter Stamm in Blattgold, umwoben von bianchi girari vor Deckfarbengrund. Dieser geteilt in verschiedenfarbige Parzellen mit weißem Streumuster (drei Punkt-Gruppen). Rechteckiges Feld mit unregelmäßiger Kontur. Farben (I und II): Rot, Gelb, Grün Blau, Rosa, Hellbraun, Gold. III. Zwei bis drei Zeilen hohe einfache Initialen (Capitalis) in blauer Farbe. Hier kleine Buchstaben in brauner Tinte als Anweisung für die Ausführung noch sichtbar. Die Ausstattung ist der Wekstatt des Florentiner Illuminators Francesco di Antonio del Chierico (1433-1484) zuzuschreiben. Zum Künstler vgl. Miniatura fiorentina del Rinascimento 1440–1525. Un primo censimento, I–II, a cura di A. Garzelli, Firenze 1985 (Inventari e cataloghi toscani 18); C. Barbieri, Art. Francesco d'Antonio del Chierico, in Dizionario Biografico degli Italiani 49 (1997), S. 660-662; M. Bollati, Art. Francesco di Antonio del Chierico, in Dizionario biografico dei miniatori, S. 228-232, mit weiterer Literatur. Zu den verschiedenen Phasen in der Ausstattung der Corvinen U. Bauer-Eberhardt, Italienischer Buchschmuck in den Münchener Corvinen, in Ex Bibliotheca Corviniana, S. 107-141, bes. S. 109-110 zu der ersten, im Buchschmuck eher zurückhaltenden Phase der Dekoration. Vergleichbar in der Ausstattung mit der Göttinger Corvine sind die beiden Münchener Handschriften des Matthias Corvinus: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 69 und München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 310, ebenfalls in Florenz illuminiert. Vgl. ibid., S. 115-119, mit einer Zuweisung für beide Handschriften an Francesco di Antonio del Chierico. Eine ausführliche Beschreibung auch in U. Bauer-Eberhardt, Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Bd. 6: Die illuminierten Handschriften italienischer Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek. Teil 2: Von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis um 1540. Textband, Wiesbaden 2014, Kat.-Nr. 203 und 204, S. 217-219. Zu den in Italien illuminierten Corvinen, die heute in Budapest aufbewahrt werden, vgl. auch Á. Mikó und J. Hapák, The Corvinas of King Matthias in the National Széchényi Library, Budapest 2008, S. 36-75, bes. S. 36-47 zu den ältesten Stücken. Reproduktionen von fast allen Handschriften im erhaltenen Corvinenbestand mit bianchi girari sind in Cs. Csapodi und K. Csapodiné Gárdonyi, Bibliotheca Corviniana, Budapest 1990, zu finden. Eine wichtige Vergleichsgruppe bieten die Corvinen der ELTE Egyetemi Könyvtár (Universitätsbibliothek), die fast alle neben Florentiner bianchi girari aus der Mitte des 15. Jh., hergestellt durch Vermittlung von Vespasiano Bisticci, auch einen ursprünglich lila Corvinen-Samteinband und vergoldeten Schnitt aufweisen. 3r I. Als Titelschmuck dreiseitige Rahmenbordüre mit unregelmäßiger Kontur, gefüllt mit farbig hinterlegten bianchi girari um eine zentrale Goldleiste, die am oberen und unteren Ende eine Raute bildet. Die Bordüre ist von Wachteln, Schmetterlingen und einem stehenden, geflügelten Putto bewohnt. Zwei weitere Schmetterlinge scheinen sich gerade auf den oberen Rand des unteren Rahmenteils gesetzt zu haben. Auf den rechten Schmetterling fliegt von hinten eine Wachtel mit offenem Schnabel zu. Weitere Spannung auf der Seite kommt durch die Szene, die zwischen Mensch und Tier in der bewohnten Initiale (s. u.) abspielt. An den Ecken und Enden sowie um den Wappenring üppige Blattkonstellationen und Gruppen von (drei) Goldpollen mit Wimpernbesatz. Mittig im unteren Rahmenteil in einem goldenen Ring und auf blauem Grund Wappen von König Matthias Corvinus, flankiert von den Initialen M und A für Matthias Augustus. Gevierter Wappenschild, darüber offene, goldene Krone, mit Herzschild. Der Herzschild zeigt das Familienwappen der Hunyadi: in blauem Feld sitzt auf einem schrägrechten goldenen Ast mit drei Blättern ein rechtsgewendeter schwarzer Rabe mit einem goldenen Ring im Schnabel. Im ersten und vierten Feld das Wappen Alt-Ungarns: Siebenfach geteilt von Rot und Silber; im zweiten und dritten Feld das böhmische Wappen: in rotem Feld ein steigender, doppelschwänziger golden gekrönter Löwe. Der Wappen stimmt mit dem Typus Nr. II/a, beschrieben in Bibliotheca Corvina, S. 85, oder mit dem Typus A, beschrieben in The Corvinian Library, S. 493, überein. Es wird dort dem "second heraldic painter of King Matthias" zugeschrieben und stellt eine spätere Ergänzung dar, die in Buda vorgenommen wurde. zum "second heraldic painter" vgl. E. Hoffmann, Régi magyar bibliofilek, Budapest 1929 (mit neuer Literatur ergänzt durch T. Wehli, Budapest, 1992), S. 81-82; Cs. Csapodi, The Corvinian Library. History and Stock, Budapest 1973, S. 50-51; E. Zsupán, A Corvina Könyvtár „első címerfestője”: Stílushűség és imitáció (A Philostratus- és a Ransanus-corvina provenienciájához), in Művészettörténeti Értesítő 66 (2017), S. 273–302, bes. 292f. Zu den Wappen vgl. auch P. di Pietro Lombardi, Mattia Corvino e i suoi emblemi, in Nel segno del corvo, S. 117-128. Auf dieser Seite auch große vergoldete, bewohnte Anfangsinitiale I(ohannes). Goldinitiale mit Weißranken auf Deckfarbengrund (wie II.). Zusätzlich hält sich ein Mensch mit den Händen am oberen Stamm des Buchstabens I und auf einer Ranke (Typus: Rankenkletterer). Unter ihm blickt am Fuß des Buchstabenstammes ein Hase ängstlich zu ihm nach oben. II. Liste der Goldinitialen mit Weißranken und Deckfarbengrund: 7r C(um). 25v C(orum). 46v C(um). 66v V(t). 106v E(orum). 151v O(mne). 164r A(t).

Holzdeckeleinband (Buchenholz) mit teilweise erhaltenem violettem originalem Samtüberzug. Unter Verwendung von Originalteilen und -mustern zwischen dem 3.11.2009 und dem 25.11.2010 von Peter Gönczi restauriert. Moderner Überzug aus hellrosa Stoff (Moleskine), auf den die Reste des alten Samtüberzugs geklebt wurden. Vier Hakenverschlüsse (neu) aus Messing, hergestellt nach vergleichbaren Einbänden. Scharnierplatten auf VD, Lager auf HD, nach italienischen Modellen. Beschläge in Form einer Lilie. Schließenriemen aus grünem Stoff mit gelbem Flickmuster. Die alten Schließen (drei erhalten 2009) sind durch Digitalfotos dokumentiert. Sie weisen eine aufwendigere Verzierung auf als die Nachahmung: Eichelblatt oder stilisierte Lilie mit Aussparungen (Dreiblatt). Goldschnitt, bemalt in den Farben Grün und Rosa mit vegetabilen Motiven (Ranken). Auf der Langseite in einem grünem Rahmen Inschrift in Majuskel mit Namen des Übersetzers: IOHANNES ARGIROPULOS. Vergleichbar mit Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. Lat. 529. Siehe Abbildung 5 in E. Madas, La Bibliotheca Corviniana et les Corvina "authentiques", in De Bibliotheca Corviniana, S. 47. Diese Art von Einband mit vier Schließen und violettem Samt wurde in Buda gemacht und ist bei weiteren erhaltenen Corvinen nachweisbar, beispielsweise Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. Lat. 234, 241, 281; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 69. Siehe Abb. in Nel segno del corvo, S. 257. Zu der Art der Einbände und der Dekoration des Schnittes vgl. auch die kurzen Angaben in der Tabelle in De Bibliotheca Corviniana, S. 48-77. Vgl zuletzt zu dem sogenannten Budaer Schnitt auch E. Zsupán, Zur Genese des Beatrix-Psalteriums, in Corvina Augusta. Die Handschriften des Königs Matthias Corvinus in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, hrsg. von E. Zsupán, unter Mitarbeit von Ch. Heitzmann, Budapest 2014 (Supplementum Corvinianum III.), S. 179-207, bes. 201f. Doppelstöckiges Kapital (neu) auf Lederkern in den Farben Grün und Gelb. Vier Doppelbünde. Auf dem Rücken zwei moderne Schilder aus Papier mit jeweils der Signatur Cod. Ms philol. 36 und Cim. Vier moderne Vorsatzblätter aus Papier vor und nach dem Buchblock (nicht nummeriert). Kein VS und HS vorhanden. Auf dem ersten Vorsatzblatt moderne Signatur (Bleistift): 2° Cod. Ms. philol. 36 Cim. Ältere Vorsatzblätter aus Pergament vom Buchblock bei der Restaurierung getrennt. Diese, ehem. fol. 1-2 (Doppelblatt) und 202, sind in einer separaten Mappe im modernen Schutzbehältnis für den Codex aufbewahrt. Zur Zeit Meyers (Göttingen 1, S. 12), war der Handschrift ein Brief von Heyne vom 22.2.1782 vorgeheftet. Dieser ist ebenfalls herausgetrennt worden, und die nun separaten Papierblätter werden sich zusammen mit den alten Vorsatzblättern in der genannten Mappe aufbewahrt. Ein Bericht über die Restaurierung des Codex befindet sich in der Restaurierwerkstatt der Göttinger Universität unter der Nr. 6142.

Brief von Christian Gottlob Heyne (1729-1812), gerichtet an einen Consistorialrat und Generalsuperintendenten, vom 22.02.1782. Papier, 25 x 18,5 cm, heute aus vier getrennten Bl. bestehend. Moderne Foliierung 1-4 an der oberen rechten Ecke (Bleistift). Fol. 4: leer. Edition: Ein Codex Corvinianus, S. 149-150. Heyne bedankt sich, auch bei Prinz Georg zu Waldeck, für die Zusendung der Handschrift. Zu dieser liefert er in diesem Brief eine wissenschaftliche Einschätzung. Nach Broszinski, "...ein ganz artiges Stück", S. 165, ist der Superintendant in Arolsen mit Johann Franz Christoph Steinmetz (1730-1791) zu identifizieren. Siehe schon Ein Codex Corvinianus, S. 148, Anm. 2.

Herkunft: Der Codex wurde in Florenz geschrieben und dekoriert. Höchstwahrscheinlich zusammen mit Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 170, entstanden. Wie andere ähnliche Handschriften der Bibliotheca Corvina, die genau so von dem "zweiten Wappenmaler" bearbeitet wurden, konnte auch die vorliegende Handschrift einen früheren ungarischen Besitzer gehabt haben. Neue Forschungen weisen darauf hin, dass die älteren Handschriften innerhalb der Corvina (meistens diejenigen, die mit bianchi girari dekoriert wurden), einen Vorbesitzer in Ungarn hatten, bevor sie in die königliche Bibliothek gelangten. Eine Gruppe lässt sich dem Erzbischof von Gran Johannes Vitéz de Zredna (ca. 1408-1472) als früheren Besitzer zuweisen. Auf Vitéz weist nicht zuletzt auch die Tatsache hin, dass Argyropoulos seine Übersetzung von Aristoteles' De caelo ihm gewidmet hat. Zu Vitéz und seiner Bibliothek vgl. K. Csapodi-Gárdonyi, Die Bibliothek des Johannes Vitéz, Budapest 1984, bes. Nr. 8, S. 85-86; A Star in the Raven’s Shadow. János Vitéz and the Beginnings of Humanism in Hungary, Exhibition org. by the National Széchényi Library 14th March – 15th June 2008, ed. by F. Földesi, Budapest 2008. Ich danke für diesen Hinweis Edina Zsupán. — Der Codex war Bestandteil der Bibliothek von Matthias Corvinus, König von Ungarn (amt. 1458-1490). Vgl. Wappen auf fol. 3r. Die Geschichte des Codex ab dem 16. Jh. lässt sich durch zeitgenössische Einträge und Besitzvermerke z. T. rekonstruieren. Im Jahr 1568 befand sich die Handschrift in Hadrianopolis (heut. Edirne, Türkei) und wurde von einem Elisaeus Infimarius (= infirmarius?) seinem Freund Georg von Haym zu Reichenstein (Oberösterreich) († 04.04.1583) geschenkt, als dieser nach einem Aufenthalt in Konstantinopel aus der Türkei abreiste. Über die dramatischen historischen Verhältnisse, die zur Zerstreuung der königlichen Bibliothek im 16. Jh. führten, berichtet das Gedicht des Elisaeus in den vv. 17 ff. Er sagt, das Buch gefunden zu haben und es in der Stadt am Marmarameer [= Konstantinopel] aus abscheulichen Händen gerettet zu haben. Er bezieht sich auf die Plünderung Budas unter Sultan Sulaiman I. (1494-1566) im Jahr 1526 (dieses Datum ist auch am linken Rand des Gedichtes bei dem Vers Bibliotheca etiam libris spoliata... hinzugefügt): ... dulce volumen habe. Hoc - dum Thurca ferox Corvina palatia rumpit / Budenisque rapax diripit urbis opes / Bibliotheca etiam libris spoliata venustis / Hoste domum misere diripiente fuit / Pars iniecta luto periit pars ignibus arsit / Pars quota adhuc rigido pulvere mersa iacet / Inventum e tenebris tetroque e pulvere tractum / In claram rediit sorte valente diem / E manibus tetris Propontidis urbe redemptum / Eius saepe mihi lectio grata fuit / Aspicere hoc quoties vultu dignabere amico / Blanda tibi in mentem repat imago mei …. Vgl. zu den Ereignissen Cs. Csapodi und K. Csapodi-Gárdonyi, Bibliotheca Corviniana. Die Bibliothek des Königs Matthias Corvinus von Ungarn, S. 30-31; E. Milano: Mattia Corvino. La biblioteca, il potere e l'età moderna, in De Bibliotheca Corviniana, S. 287-301, hier S. 301. Von Georg von Haim gelangte die Handschrift an seinen Bruder Johannes († 24.01.1602), dann an den jüngeren Bruder Stephan von Haym († 1627). Zu dieser Familie und dem Vater Christoph von Haym siehe F. K. Wißgrill, Schauplatz des landsässigen Nieder-Oesterreichischen Adels vom Herren- und Ritterstande von dem 11. Jahrhundert an, bis auf jetzige Zeiten, Bd. 4, Wien 1800, S. 71-76; Ein Codex Corvinianus, S. 146-147. Als nächster Besitzer, durch den Kauf von Schloß Reichenstein, ist Graf Gundakar Thomas von Starhemberg (1663-1745) zu vermuten, der seine Initialen auf fol. 202r hinterließ (s.u.). Der letze dokumentierte Vorbesitzer war der Fürst Georg zu Waldeck (1747-1813). Dieser weilte während seines Militärdienstes in den Jahren 1781-86 in Linz, ohne an kriegerischen Aktionen teilzunehmen: vgl. Broszinski, "...ein ganz artiges Stück", S. 164. Da Schloß Reichenstein nur 30 Km. entfernt von Linz ist, und Mitglieder der Familie Starhemberg in der Kapuzinerkirche in Linz eine Kapelle und eine Grabgruft erbauen ließen und bis 1784 nutzten, ist es wahrscheinlich, dass der Codex in den Besitz von Georg zu Waldeck kam, als er sich in dieser Region aufhielt. — Am 15.05.1794 Schenkung an die Bibliothek der Göttinger Universität von Seiten des Prinzen Georg zu Waldeck. Vgl. Erwerbungsjournal (Manual) der Universitätsbibliothek Göttingen, zitiert von O. v. Gebhardt, S. 138. Siehe dazu auch Broszinski, "...ein ganz artiges Stück". Darin werden auch die Inkunabeln aufgelistet, die in drei Transaktionen von Arolsen nach Göttingen kamen. Dazu siehe auch Gutenberg und der europäische Frühdruck. Zur Erwerbungsgeschichte der Göttinger Inkunabelsammlung, Göttingen 1995, S. 66-68. Zu den kulturellen Hintergründen und der Geschichte der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek vgl. J. Wolf, Die Fürstenbibliothek Arolsen und ihre Erforschung, in Lesen. Sammeln. Bewahren. Die Bibliothek Joachims von Alvensleben (1514-1588) und die Erforschung frühneuzeitlicher Büchersammlungen, hrsg. von B. Heinecke und R. von Alvensleben, Frankfurt am Main 2016 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderbände 119), S. 283-312; Id. und D. Motz, Die Fürstlich Waldecksche Hofbibliothek in Bad Arolsen, in Imprimatur. N.F. 25 (2017), S. 221-248. Auf fol. 3v schwarzer ovaler Stempel: Ex BIBLIOTHECA REGIA ACAD. GEORGIÆ AUG:

Ein Codex Corvinianus, S. 133-151. — Göttingen 1, S. 11-12. — G. Fraknói, G. Fógel, P. Gulyás und E. Hoffmann, Bibliotheca Corvina. La biblioteca di Mattia Corvino Re d'Ungheria, per cura di A. Berzeviczy, F. Kollányi, T. Gerevich. Traduzione dall'Ungherese di L. Zambra, Budapest 1927, Nr. 45, S. 70. — The Corvinian Library, Nr. 58, S. 138. — C. Csapodi und K. Csapodi-Gárdonyi, Bibliotheca Corviniana. Die Bibliothek des Königs Matthias Corvinus von Ungarn, Budapest 1978, Nr. 66, S. 54, S. 124-5, Tafel XXII. — C. Csapodi und K. Csapodi-Gárdonyi, Bibliotheca Corviniana 1490 - 1990. International Corvina Exhibition on the 500th Anniversary of the Death of King Matthias. National Széchényi Library, 6 april - 6 october 1990, Budapest 1990, Nr. 7, S. 151 mit Tafel XXXI. — P. di Pietro Lombardi, Kat.-Nr. 61. Aristoteles, in Nel segno del corvo, S. 294. — E. Madas avec la collaboration de A. Dillon et M. Rozsondai. 1. Manuscrits de Matthias Corvin, Tabelle in E. Madas, La Bibliotheca Corviniana et les Corvina "authentiques", in De Bibliotheca Corviniana, S. 35-78, Nr. 9, S. 49, S. 76. — K. Rogoski, Matthias Corvinus und die Bibliotheca Corviniana, in Concilium medii aevi 12 (2009), S. 97-114. — Kostbarkeiten, Nr. 48, S. 114-115 (H. Rohlfing). — P. Carmassi, Manoscritti italiani nel progetto di nuova catalogazione dei codici latini medievali della SUB-Göttingen. Precisazioni e scoperte, in Rivista di Storia della miniatura **(2020), S. 58-69**

3r-201v Aristoteles latinus: Physica. (Translatio Iohannis Argyropuli).

1r Bibliothekarische Angabe zur Erwerbung (schwarze Tinte, Kurrentschrift): Von Sr. Durchlaucht Prinz Georg zu Waldeck zum Geschenk erhalten. Den 15ten May 1794 Cf. Manuale h.a.. Dazu moderne bibliographische Angabe (Bleistift): Cf. Centralblatt f. Bibliothekwesen I p. 133-151 (1884). Auf dem unteren Teil des Blattes alte Signatur (?), ausradiert: ... 122.

1v-2r leer.

2v Schenkungsvermerk [30.11.1569]: Per me Georgium ab Haym in Reichenstain dono datum est hoc volumen fratri Johanni ab Haym in Reichenstain in perpetuam Constantinopolitani itineris memoriam. Anno salutifero Virginis partu supramilesimum DLXIX prid. cal. Decembris.. Es folgt der Besitzvermerk: 1. 5. 6. 9. Vivit post funera Virtus / Johannes Ab Haym in Reichenstein. Daneben weiterer Besitzvermerk: 1. 5. 7. 5. N. A. V. Steffan v. Haym zu Reichenstain. Es folgen in der zweiten Hälfte des Blattes einige ausradierte Zeilen, aus denen O. von Gebhardt noch einige Worte lesen konnte, darunter das Datum .781 und den Namen GPz Waldeck für Georg Prinz zu Waldeck (1747-1813). Heute auch mit UV-Lampe kaum erkennbar. Fol. 1-2 heute getrennt vom Buchblock aufbewahrt.

3r-6v Johannes Argyropulus: Praefatio. ›Iohannis Argyropili Constantinopolitani praefatio in librum physicorum Aristotelis de greco in latinum per eum traductum ad magnificum clarissimumque virum Cosmam Medicem‹. Iohannes Argiropolus Constantinopolitanus praeclarissimo viro Cosimo … — … aut a te nobis accipere decet. Aufgrund der Widmung an Cosimo de Medici (1389-1464) gilt sein Tod, oder zumindest die Zeit bis zur Vollendung seiner zweiten Übersetzung der Physica als Terminus ante quem für die Herstellung des Codex. Siehe C. Tristano, La biblioteca greca di Mattia Corvino, in De Bibliotheca Corviniana, S. 215-236, hier S. 216. Eine neue Übersetzung verfasste Argyropulus mit Widmung an Piero Medici († 1469). Diese ist im Codex Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. LXXXIV,1, illuminiert von Francesco Rosselli, überliefert.

7r-200v Aristoteles: Physica. ›Aristotelis Phisicorum liber per Iohannem Argyropylum in latinum traductus incipit ad clarissimum virum Cosmam Medicem. Lege feliciter.Cum in universis doctrinis quarum sunt principia vel causae vel elementa ex eorum perceptione … — … magnitudinis nullamque prorsus habeat molem. ›Finis. Liber octavus et ultimus naturalis auditus Aristotelis explicit‹. Die Druckausgabe erfolgte nur von der zweiten Übersetzung (Incipit: Cum in omnibus docendi viis ac rationibus quarum sunt principia). Vgl. GW 1442. Rom, Olivierius Servius, um 1481.

Eine Liste von weiteren Ausgaben dieser zweiten Übersetzung des Argyropulus unter: Aristoteles, Physica, Giovanni Argiropulo, in Repertorio delle traduzioni umanistiche a stampa. Secoli XV-XVI, a cura di M. Cortesi e S. Fiaschi. Volume I, Firenze 2008 (Ministero per i beni e le attività culturali III. Edizione Nazionale delle traduzioni dei testi greci in età umanistica e rinascimentale 5. Strumenti 2), S. 238-244. Bibliographie: Argyropoulos, Janos, in Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, Band 1, Bio-bibliographisches Repertorium, hrsg. von H. Jaumann, Berlin 2004, S. 43. G. Cammelli, I dotti bizantini e le origini dell'Umanesimo, II. Giovanni Argiropulo, Firenze 1941, S. 183 zur Übersetzung der Physica; S. 116-128 zu den Widmungen an Cosimo und Piero de Medici; S. 132, Anm. 1 zum Wunsch, geäußert von Matthias Corvinus in einem Brief aus dem Jahr 1471, den Gelehrten nach Ungarn einzuladen. E. Bigi, Argiropulo, Giovanni, in Dizionario Biografico degli Italiani 4 (1962), S. 129-131. P. Ekler, Die Bibliotheca Corviniana: Lateinische Übersetzungen Griechischer Autoren, in De Bibliotheca Corviniana, S. 237-247. C. Tristano, La biblioteca greca di Mattia Corvino, in ibid., S. 215-236. B. Mondrain, Jean Argyropoulos professeur à Constantinople et ses auditeurs médecins, d'Andronique Éparque à Démétrios Angelos, in Polypleuros nous. Miscellanea für Peter Schreiner zu seinem 60. Geburtstag, hrsg. von C. Scholz und G. Makris, München 2000 (Byzantinisches Archiv 19), S. 223-249. G. Abbamonte, Considerazioni su alcune dediche di traduzioni latine di opere greche fatte da Umanisti del Quattrocento, in Pratiques latines de la dédicace. Permanence et mutations, de l'Antiquité à la Renaissance, hrsg. von J.-C. Julhe, S. 523-560.

201r-v Elisaeus Infimarius: Disticha. Threiciis quoniam discedis laetus ab oris … — … Meque tuos inter quemlibet esse sine. Vorangestellt Dedikation an Georg von Haym: Nobili atque Egregio iuveni / Domino Georgio Haymero ex / Turcia abeunti amicorum / suorum integerrimo. Es folgen Datum und Unterschrift: A° MDLXVIII. Elisaeus Infimarius scribebat Hadrianopoli in die Solstitii verni. [11.12.1568]. Edition: Ein Codex Corvinianus, S. 144-145.

202r leer. Im unteren Teil des Blattes eine ausradierte Notiz: ... 122. Fol. 202 heute getrennt vom Buchblock.

202r leer bis auf die frühneuzeitliche Notiz (dunkelbraune Tinte): Th: C: d: S:. O. von Gebhardt, Ein Codex Corvinianus, S. 147, interpretierte diese Angabe als eine Abkürzungsformel für einen "Comes de Sauer", Thomas oder Theodor, ohne allerdings dafür konkrete Belege finden zu können. Vielmehr könnte es sich um eine Abkürzung für Thomas Comes de Starhemberg handeln. Ein Gundakar Thomas Graf von Starhemberg kam 1730 in den Besitz des Schloßes Reichenstein, das bis 1729 in den Händen der Familie Haim geblieben war. Vgl. O. Hille, Burgen und Schlösser von Oberösterreich, Steyr 1990, Art. Reichenstein in Mühlviertel, S. 149-150. Zu Gundakar Thomas Graf von Starhemberg vgl. C. von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche 1750 bis 1850 im Kaiserstaate und in seinen Kronländern gelebt haben. Theil 37: Stadion - Stegmayer, Wien 1878, S. 179-180; B. Holl, Hofkammerpräsident Gundaker Thomas Graf Starhemberg und die österreichische Finanzpolitik der Barockzeit (1703 - 1715), Wien 1976 (Archiv für österreichische Geschichte 132).


Abgekürzt zitierte Literatur

Broszinski, "...ein ganz artiges Stück" H. Broszinski, "… ein ganz artiges Stück". Waldecker Fürsten als Mäzene der Universitätsbibliothek Göttingen, in Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Claudia Brinker-von der Heide zu ihrem 60. Geburtstag, hrsg. von A. Gardt und S. Schul, Berlin 2011, S. 163-180
De Bibliotheca Corviniana De Bibliotheca Corviniana. Matthias Corvin, Les Bibliothèques princières et la genèse de l'état moderne, hrsg. von J.-F. Maillard, I. Monok und Donatella Nebbiai, Budapest 2009 (Supplementum Corvinianum II.)
Dizionario biografico dei miniatori Dizionario biografico dei miniatori italiani. Secoli IX - XVI, a cura di M. Bollati, Milano 2004
Ein Codex Corvinianus O. von Gebhardt, Ein Codex Corvinianus in Göttingen, in Centralblatt für Bibliothekswesen 1 (1884), S. 133-151
Ex Bibliotheca Corviniana Ex Bibliotheca Corviniana. Die acht Münchener Handschriften aus dem Besitz von König Matthias Corvinus. Begleitband zur Schatzkammerausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek "Die Münchener "Corvinen" – Handschriften im UNESCO-Weltkulturerbe" vom 30. Januar – 24. Februar 2008, hrsg. von C. Fabian und E. Zsupán, Budapest 2008
Göttingen 1 Die Handschriften in Göttingen, Bd. 1: Universitäts-Bibliothek: Philologie, Literärgeschichte, Philosophie, Jurisprudenz, beschrieben von W. Meyer, Berlin 1893 (Verzeichniss der Handschriften im Preussischen Staate, Abt. 1: Hannover. Bd. 1: Die Handschriften in Göttingen 1)
Gutenberg und der europäische Frühdruck H. Kind und H. Rohlfing, Gutenberg und der europäische Frühdruck. Zur Erwerbungsgeschichte der Göttinger Inkunabelsammlung, Göttingen 1995
GW Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Bd. 1–, Leipzig 1925–1938, Stuttgart 1978–
Nel segno del corvo Nel segno del corvo. Libri e miniature della biblioteca di Mattia Corvino re d'Ungheria (1443 - 1490), a cura di N. Bono e A. Dillon Bussi, Mantova 2002 (Il giardino delle Esperidi 16)
The Corvinian Library C. Csapodi, The Corvinian Library. History and stock, Budapest 1973 (Studia humanitatis. Publications of the Centre for Renaissance Research, Hungarian Academy of Sciences, Institute for Literary Studies 1)