Artikel
Zitieren: http://diglib.hab.de/ebooks/ed000081/id/ebooks_ed000081_04/start.htm

Sensationeller Abgang. Eine Bergsturz-Inszenierung im Theatrum Europaeum und in Flugblättern
Jörn Münkner

1. Einleitung - Das Bergsturzdesaster von Plurs
[arrow up]

Naturkatastrophen sind existenzbedrohlich und sie erregen die Gemüter. Im Jahr 1618 machte ein Bergsturz von sich reden, der die kleine Stadt Plurs/ital. Piuro im oberen Bergell-Tal im Graubündner Land komplett zerstörte. Der Ort befand und befindet sich unterhalb des Monte Conto, dessen reiche Vorkommen an Lavezstein, einem weichen und hitzebeständigen Schiefer, jahrhundertlang extensiv abgebaut wurden. Der Bergsturz, den die Untergrabungen und Aushöhlungen im niederschlagsreichen Sommer 1618 auslösten, ereignete sich am Abend des 4. September, alter Kalenderrechung zufolge am 25. August (Kahl, S. 249; Schilling, S. 434, 436; Weber, S. 241; Hauer, S. 272). Unter anderem ist die Ortsauslöschung Thema in der von Matthaeus Merian groß angelegten Jahrhundertchronik denkwürdiger Geschichtsereignisse, dem Theatrum Europaeum. Dort wird relativ ausführlich über „den plötzlichen und erschröcklichen Bergfall“ berichtet, den zudem ein Kupfer mit zwei Ansichten und einem titelanalogen Einzeiler „Eigentlich Vorbildung des schönen Fleckens Plurs“ (Abb. 1) als Schautafel ins Bild setzt (TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, S. 97-99; Bingel, S. 6, 15ff.).1

Abbildung
Abb. 1: Eigentlich Vorbildung des schönen Fleckens Plurs, vnd wie derselbe nach seinem schröcklichen vndergang beschaffen. 1618, aus: Theatrum Europaeum, 3. Ausg., Bd. 1, 1662, Tafel 16 (nach S. 96).

Das Desaster von Plurs kann – für Katastrophenforscher ebenso wie für diejenigen, die sich im Feld der frühneuzeitlichen Publizistik und der Theatrum-Literatur im Besonderen bewegen (Scholz Williams, S. 125f.)2 – bekannt sein, denn es hat nachweislich eine breite mediale Abdeckung erfahren. Bis ins 18. Jahrhundert kommen Flugblätter, Flugschriften und Newe Zeytungen auf den Markt, werden zeitgeschichtliche Serienwerke und Chroniken wie die Rätische des Johann Guler von Weineck, Merians Theatrum Europaeum, Johann Jacob Scheuchzers Naturgeschichte des Schweizerlandes von 1716 oder David Herrlibergers Topographie der Eydgenossschaft (1754-1773) zusammengestellt, die den kapitalen Bergabgang als mehr oder weniger phantasievolles Ereignisbild figurieren und ihm mediale Präsenz verschaffen (Weber, S. 241; Schilling, S. 434). Bruno Weber macht darauf aufmerksam, dass das außerordentliche Sensationspotential der Plurser Katastrophe wie ihre Stellung als Extremereignis jene Bergsturz-Ikonographie hervorbrachte, die bis weit ins 18. Jahrhundert in den unterschiedlichen Darstellungskontexten anzutreffen sein sollte. En passant ist anzumerken, dass Weber diesen Bildformen interessanterweise eine angemessene, d.h. eindrückliche und nachhaltige Vorstellbarkeit des Elementarereignisses von Plurs und vergleichbarer Geschehnisse abspricht: Die an die zweidimensionalen Papierflächen gebundenen, phantasievollen Gebilde könnten den unfassbaren Ausmaßen der Vernichtungsgewalt nicht gerecht werden; möge auch ein Wirklichkeitsbezug zum Geschehen gegeben sein, so scheiterten die Zurschaustellungen vielfach daran, ihren Gegenstand zu beseelen, d.h. durch ihre Perspektive zu versachlichen und zu verinnerlichen (Weber, S. 238-242, 258). Im Vorgriff auf das, was die hier vorzustellenden Artefakte an Veranschaulichungsstrategien zu bieten haben, teile ich diese Einschätzung nicht: Die frühneuzeitliche Bildpublizistik, selbst wenn sie keine naturalistisch-elegischen Bilder liefert, ist durchaus in der Lage, glaubwürdig und unprätentiös die Außergewöhnlichkeit und nicht selten den (tatsächlichen oder imaginierten) Geschehensverlauf von Elementarereignissen der beschriebenen Art vor Augen zu stellen, vorstellbar werden zu lassen und dem kollektiven Gedächtnis einzuprägen. Außer auf das Theatrum Europaeum richtet sich mein Augenmerk auf Flugblätter, insbesondere auf ein Exemplar von 1618, das mit dem Plurser Untergang jene Bergsturz-Ikonographie begründet hat. Die Bild-Text kombinierenden Einblattdrucke mögen die kompilatorische und kombinatorische Logik des voluminösen Theatrum Europaeum ansatzweise erhellen, insofern Merians Quellenverarbeitungskoloss zahlreiche Konstituenten des Medienverbundes im 17. Jahrhundert zitiert und aufnimmt. Gerd Dethlefs zufolge spiegelt oder repliziert das Theatrum Europaeum das, was die zeitgenössische Tagespublizistik produziert und zirkuliert, und zwar im Bemühen um eine kritische Auswahl und Auswertung, um eine zusammenhängende Geschichtserzählung hervorzubringen, die als eine Vorstufe räsonierender Öffentlichkeit auch Kausalitäten erörtert (Dethlefs, S. 158f.). Zugegebenermaßen fokussiert dieser Geschichtsbegriff die geopolitischen, religiösen und machtdynastischen Großereignisse. Doch stellt die Medienlandschaft der Zeit den Quellenfundus für das Theatrum Europaeum, wozu neben Newen Zeytungen, Avisen und den noch jungen, regelmäßig erscheinenden Zeitungen halbjährliche Messrelationen, Flugblätter und Flugschriften gehören. Die publizistischen Informationsträger warten keineswegs ausschließlich mit den ‚eigentlich denkwürdigen Geschichten‘, d.h. den Haupt- und Staatsaktionen auf, sondern bieten eine Menge Unterhaltungsstoff. Dieser umfasst zwar ebenfalls außerordentliche, doch eher wunderbare, herrliche, schädliche oder grässliche Geschehnisse und Vorkommnisse, wozu der Plurser Bergsturz zählt. Was im Folgenden interessiert, sind die Inszenierungsweisen des Bergsturzes, sowohl im Theatrum wie in den Blättern. Im Zuge eines close reading der Präsentationen, insbesondere der Szenengestaltung auf dem ‚Ur-Blatt’ von 1618, geht es um die Frage, welche mediale und medienanthropologische Logik den Bergsturz-Darstellungen zugrunde liegt und welche Lesarten sie ermöglichen.

2. Das Desaster im Theatrum Europaeum
[arrow up]

Die zweigeteilte Tafel im Theatrum Europaeum, die den Bergsturz auf einer Seite veranschaulicht, geht der prosaischen Ausfaltung eine Seite voraus. In einer veristisch anmutenden, jedoch schematischen Mischperspektive aus schräger Draufsicht und in die Tiefe vorstoßendem Fernblick wird der wie in einer bukolischen Idylle gelegene Ort am Fuße des massiven Contoberges lokalisiert: im oberen Bildteil die Stadt vor der Zerstörung, im unteren danach. Ein Einzeiler bietet Informationen über Ort, Geschehen und Zeit des Dargestellten und sichert mit einigen weiteren Gravuren die Einordnung der Szene. In der oberen Ansichtsebene referenzialisiert außerdem eine kleine Legende mit Ziffern die teilweise indizierten Gebäude und Plätze von Plurs. Im unteren Bildteil sind vier Fünftel der Stadt durch die Geröllmassen überdeckt, wobei der Merafluss zu einem See angeschwollen ist und eine beträchtliche Fläche des vormaligen Stadtgebietes einnimmt. Menschen sind keine auszumachen. Erkennbar wird in dem Kupfer das Bemühen um eine präzise, gleichwohl komprimierte Visualisierung des Bergrutsches, vor allem seiner Auswirkung. Dem Text obliegt es, die im Doppelbild gebotene duale Ansichtigkeit von Plurs vor und nach der radikalen Zäsur narrativ als Szenario zu entfalten, das zwar im Bruchteil von Sekunden ablief und dennoch einen Phasenverlauf aufwies. In einer für die ersten beiden Theatrum-Bände charakteristischen Berichtmanier – auch dadurch gekennzeichnet, dass sich Sachverhalte aneinander reihen, die thematisch oft zusammenhangslos, wenigstens aber durch Chronologie und Ländernähe miteinander verknüpfbar sind (Bingel, S. 25ff.) –, wird der Bergsturz im Gestus weitgehend objektiver Schilderung rekonstruiert. Auf die Bildtafel wird nicht eigens hingewiesen. Die Wiedergabe legt großes Augenmerk auf den genauen Katastrophenverlauf wie auf die Nachwehen, inklusive der Aufräumarbeiten. Indem mehrere Zeugen zu Wort kommen und andere Quellen aufgerufen werden, ergibt sich ein Echoraum mehrstimmiger, indirekter Rede. Vereinzelt finden Ausdrücke wie ‚erschröcklich‘ und ‚erbärmlich‘ Verwendung, deren emotiv-metaphysische Tonlage etwas irritiert. Ebenso steht der Schluss quer zum Erzählfluss, wenn vom Auffinden eines prodigiösen Zeichens in Form eines gravierten Steins berichtet wird. Dessen Schriftcode habe von einem Gelehrten aus Luzern dechiffriert und verdeutscht werden müssen, weil er auf Hebräisch verfasst war. Die somit als Geheimschrift klassifizierte Mitteilung hielt eine Warnung Gottes parat, die Menschen mögen im Wissen um die zerstörerische Allmacht des Herrn von Sünde und Bosheit ablassen. Obwohl oder gerade weil dieser für die Zeit geläufige Passus wie angeklebt an den überwiegend neutralen Bericht erscheint, markiert er wie die beiden Vokabeln den formelhaften Einsatz von Topoi, die aus heutiger Sicht dem dominanten objektiven Narrativ zu kontrastieren scheinen. Jedoch ist das Verhältnis von empirischem Bericht, sensationsaffiner Vergegenwärtigung und religiös-theologischer Paränese ein natürliches und keineswegs überspannt. Dass den Bericht grundsätzlich das Anliegen um die Nacherzählung eines historischen, welthaltigen Naturereignisses auszeichnet, dessen Sinn natürlicherweise in der Wirkungsabsicht des Allmächtigen und Allerhöchsten verborgen sein mag, erweist sich als für die Frühe Neuzeit idiosynkratische Pluralität und akzeptierte bzw. gar nicht als widersprüchlich empfundene Widersprüchlichkeit von Wissen, Meinen und Glauben (Scholz Williams, S. 219). Das unkomplizierte Miteinander epistemologisch betrachtet unterschiedlicher Weltsichten und Wahrnehmungsweisen verschafft sich schließlich auch in Passagen beredten Ausdruck, die einerseits Evidenz für die immense Augenblicksleistung des Bergsturzes geben wollen, anderseits (vielleicht unfreiwillig) zu dunkelhumorigem Lachen provozieren: etwa wenn eine Magd unter den Geröllmassen gefunden wird, die noch eine frisch gerupfte Henne in ihren Händen hält und in deren Mund ein gerade angekauter Bissen steckt. Um auf die bildliche Formgebung zurückzukommen, so bietet sie in zwei separaten, eng miteinander verkoppelten Bildausschnitten eine Vor-/Danach-Schau mittels einer geteilten oben-unten-Perspektive auf das Naturereignis an.

3. Das Desaster im Flugblatt
[arrow up]

Bildkompositorisch der Darstellung im Theatrum vergleichbar, stellt ein undatiertes Flugblatt mit dem Titel „Warhaffte vnnd eigentliche Abbildung deß Fleckens Pluers“ das Geschehen in Plurs vor Augen (Abb. 2).

Abbildung
Abb. 2: Warhaffte vnnd eigentliche Abbildung deß Fleckens Pluers, aus: Deutsche illustrierte Flugblätter. Bd. IV, S. 398.
Das Exemplar aus Straßburg, bei dem es sich noch nicht um das anfangs erwähnte Blatt mit der Ur-Szenographie von 1618 handelt, legt seinen Schwerpunkt auf die Auswirkungen der Katastrophe: ein dominantes Hauptbild, das den Zerstörungseffekt ostentativ in den Vordergrund rückt. Klarheit über das Was-Wann-Wo stellt sich ein, wenn der das Schlag-Bild wahrnehmende Rezipient das kleine Insert oben rechts im Bild genauer in den Blick nimmt. Darin wird wie durch ein Fernrohr und ebenfalls aus erhöhter Perspektive die Voransichtigkeit des noch unzerstörten Plurs geboten. Wenngleich die Darstellungen sowohl im Theatrum Europaeum als auch auf diesem Exemplar mit unterschiedlichen Präzisionsgraden gestaltet sind, so weisen beide ein dualistisches Kompositionsprinzip in eher konventionellem Zuschnitt auf. Es besteht in der simultanen Vorführung einer Ortschaft antequem und postquem Katastrophe (Weber, S. 243). Demonstriert wird im Modus der Simultaneität die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Zustände. Statt Plurs-davor und Plurs-danach in einem Nacheinander, zum Beispiel auf zwei unterschiedlichen Blättern in Szene zu setzen, wird die instantane Erfassung des Geschehens favorisiert. Diese präsentationslogische Entscheidung geht aber konform mit der generellen Wahrnehmung des Bergsturzes, der „gleichsamb wie in einem Augenblick“ vonstatten gegangen sein soll. (TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, S. 97) Ein Bergsturz als „spontane, unerwartet plötzliche gravitative Massenbewegung von Locker- und Felsgesteinen […], die sich innerhalb weniger Minuten […] mit großer Augenblicksleistung [ereignet]“ (Weber, S. 239) findet hier eine durchaus adäquate repräsentative Entsprechung.

4. Das Desaster im Zugriff der Hand
[arrow up]

Was die angekündigte „Warhaffte abbildung deß fläckens PLVES“ von 1618 anbetrifft, so gilt sie als die erstbekannte Darstellung des Bergsturzes (Abb. 3).

Abbildung
Abb. 3: Warhaffte abbildung deß fläckens PLVES, aus: VD17 23:676381V.
Der Druck wurde bald nach dem Ereignis in Zürich bei Johann Hardmeyer verlegt. Dem Himmelsrichtungsanzeiger zufolge, der sich linkerhand in der Mitte des Bildes befindet, ist die Präsentation genordet, wodurch die Präzision und geographische Verort- und Nachprüfbarkeit für sich reklamiert. Ähnlich wie im Theatrum und auf dem zuvor gezeigten Flugblatt, ist auf der ersten Ansichtsebene des Blattes in einer Mischperspektive aus Draufsicht und Tiefenblick die Stadt vor der Zerstörung wiedergegeben. Entlang der Mera, die das Bergell durchfließt, befinden sich auch hier die Häuserzeilen, die sich insbesondere jenseits des Flusses bergaufwärts ziehen. Dort münden sie in den Sc(h)ilano-Platz, auf dem u.a. die Kirche S. Johann von Sc(h)ilano, Schloss der Herren Bekarien und der Sc(h)ilano-Brunnen stehen. Diese Gebäude und der Platz sind insofern zentral, als bei ihnen eine Indizierungsreihe mit den Ziffern 1, 2 und 3 beginnt. Diese läuft bis zur Ziffer 93 weiter und markiert Häuser, Paläste, Kirchen, Brücken, ein Spital, den Monto Conto sowie die in seinen Hang gegrabenen Eingänge zu den Abbaustollen für das Lavezgestein. Menschen sind auch hier keine zu sehen. Der in der unteren Blatthälfte befindliche Textteil, der aus vier Spalten besteht, enthält in der linken Kolumne eine prosaische Zusammenfassung des Geschehens, während rechts eine ausführliche Legende die indizierten Orte referenzialisiert.

Fein gepunktet ist eine dünne Linie in die Radierung gestanzt, die am oberen Bildrand ansetzt, nach unten wandert, sich als Wulst in die Breite zieht, im Halbrund den Ort bis diesseits des Flusses umkreist und wieder bergauf läuft. Die Linie ahmt bereits den Bergrutsch nach bzw. bereitet ihn szenisch vor, markiert jedenfalls den Umriss der Geröllausbreitung, den eine Klappe anzeigen wird (Abb. 3a).

Abbildung
Abb. 3a: Blatt mit rekonstruierter Klappe, aus: VD17 23:676381V (Rekonstruktion J.M.).
Die Klappe war wahrscheinlich mittels eines Falzstreifens unterhalb der Titelzeile angeklebt und nach oben bzw. hinter das Blatt aus der ersten Ansicht wegfaltbar. Im Prosateil des Textes, also in der linken Kolumne, wird nicht nur berichtet und geschildert, um was für einen Ort es sich bei Plurs in unberührter Ausgangslage handelte, nämlich „in einem schoenen luftigen vnd fruchtbaren Land gelaegen/ begaabet mit guotem gesundem Luft“; es wird auch die Lesart oder Verwendungsweise des Bildes/Blattes geboten, wenn auf die Klappe verwiesen und ihre darstellerische Wirkung suggeriert wird. So heißt es, dass ein „berg erschrockenlicher vnversehener weiß“ den Ort überfallen habe, was „[…] seinen anfang genommen von dem end/ als die figur deß oberen Kupfferstucks andeutung gibt“. Wird damit zunächst ein Vorstellungsbild von dem Moment evoziert, da der Bergsturz abzugehen beginnt, hat sich die Katastrophe einige Zeilen weiter ereignet, während das klappbare Bildelement synchron die Ortschaft bedeckt und sich in die vorgestanzte Umrisslinie eingepasst hat. Der Text führt dazu aus: „Dann an statt deß Flaeckens sihet man jetzund einen See/ einer halben Weltschen meil lang: als gleichfals das Kupfferstuck zuerkennen gibt.“

Mit Hilfe des Klappmechanismus kann der Betrachter die Verheerung modellhaft nachvollziehen. Das Ausmaß der Katastrophe wird dank der Klappbildtechnik ‚filmartig‘ vorführbar, indem das Vorher und Nachher als nahtloser, den Ort verschüttender Transgress sicht- und (nach)erlebbar wird. Abhängig von der individuellen Klappgeschwindigkeit kann diese Nachstellung in Zeitlupe geschehen oder – dem Bericht zufolge in „unversehener weiß“ – als pfeilschnelle Augenblicksleistung. Der Betrachter-Leser kann indes die Katastrophe nicht nur vergegenwärtigen, sondern sie wird durch die Klappe nachgerade verstetigt. Eine Dimension der Zeitlichkeit wird im Blatt erfahrbar, die primär mit dem Klappmechanismus, zugleich jedoch mit der latent an die Klappe gebundenen Zugriffshand zusammenhängt. Die Hand fungiert als Zeitscharnier zwischen Bild und Text. Die Klapptechnik verstärkt zudem den Sensationscharakter des Bergrutsches, indem die Emphase auf dem Unglück als Ereignissequenz liegt. Der Verlauf ist, wie bereits gesagt, zum einen abhängig von der individuellen Handhabung der Klappe, zum anderen aber grundsätzlich als Bildfluss in die Darstellung integriert und überbietet damit immer schon eine statische Wiedergabe. Die Klappe schafft eine Appellzone, die den Wahrnehmungsprozess dynamisiert und auf Wiederholbarkeit abstellt. Sie öffnet das Blatt für die imaginative wie manipulative Teilhabe des Rezipienten, der durch den Eingriff das Ausmaß des Unglücks vergegenwärtigen und es nach Belieben reinszenieren kann.

Während der Druck bei einer ersten Annäherung als Sensationsblatt erscheint, wird er im Zusammenspiel von Text und Legende mit der ausführlichen Objekterfassung auch als zeitgenössischer Inventarisierungsbericht lesbar. Das komponierte Ortsbild Plurs stellt, wie Günther Kahl plausibel macht, vermutlich eine „katastermäßige Rekonstruktion zur Lage einzelner Grundstücke“ dar, welche die „Neuordnung der Rechtsverhältnisse“ für die Hinterbliebenen und Erben regeln helfen sollte (Kahl, S. 257, 259; Weber, S. 243). Die topographische und pseudokartographische Auszeichnung der Szene macht das Exemplar zudem zu einer ‚Text-Bild-Karten-Schaubühne‘, das Blatt wird zu einem mehrfach lesbaren Objekt.

Das spielerische Moment des Klappens, so scheint mir, kann den Wahrnehmungs- und Verwendungsspielraum von Medien erweitern. In dem präsentierten Flugblatt dürfte es dem zeitgenössischen Betrachter möglich gewesen sein, ausgehend von der ersten visuellen Annäherung an das Ereignis, der Kenntnisnahme des Berichts und der Vertrautheit mit derartigen Darstellungstypen auf ein Mehr an Überraschung und Information zu schließen. Die Einladung zur taktilen Teilhabe an der Entfaltung des Informationsangebots entbindet das Sehen von der Alleinherrschaft über die Sinneshierarchie. In der Wechselseitigkeit visueller Wahrnehmung – sowohl ikonisch-graphischer als auch sprachlich-diskursiver Strukturfelder – sowie taktiler Aneignung arbeiten sich zwei Sinne zu. Was beim ersten Wahrnehmungsmoment offenbar ist, wird im Verlauf entweder offensichtlich oder auch enttäuscht. An Blättern wie dem Plurser wird mittels der Klappelemente erkennbar, wie die Buchdrucktechnologie zu Beginn des 17. Jahrhunderts, und nicht erst dann, heterogene Darstellungstechniken zu koppeln versucht. Es werden klapp- und drehbare Bilder kunstfertig produziert, feinsinnig operabel gemacht, zudem Bild- und Textelemente durch Indizes miteinander verschaltet. Hinzu kommen tendenziell geometrisierte Gestaltungen, die als Effekte einer zunehmend technischen Routiniertheit des Druckgewerbes interpretierbar sind, aber auch Anforderungen der Käuferschaft im 17. Jahrhundert zu gehorchen scheinen. Schließlich, dieser Exkurs sei erlaubt, ließe sich behaupten, dass auch im Zeitalter digital-elektronischer Datenprozession, da in Relation zur Vergangenheit direkte Handgriffe beim medial vermittelten Zugriff auf die Welt zurückgetreten sind, die Hand für das sich-zur-Welt-Verhalten des Menschen nach wie vor bedeutsam ist. Verändert haben sich die Distanz und die Beziehungsart zwischen der Hand und den Gegenständen. So steuern unsere Finger über die Klaviatur des Hypermediums Computer artifiziell dynamisierte Werkzeughände auf den Bildschirmschnittflächen an. Hand-icons als Indikatoren symbolischer Arbeit ebenso wie Funktionshände lassen sich im skriptographischen und typographischen, aber auch im digitalen Medium finden (Wenzel, S. 141).

5. Fazit
[arrow up]

Resümieren lässt sich, dass die Plurser Katastrophe unterschiedlich repräsentiert wurde. Eine „Warhafftige vnd erschröckliche Newe Zeittung“ aus Augsburg etwa, die ebenfalls von 1618 datiert, inszeniert den Bergsturz mittels eines vergröberten Schablonismus und instrumentalisiert ihn als Aufruf Gottes zu Buße und Umkehr (Abb. 4).

Abbildung
Abb. 4: Warhafftige vnd erschröckliche Newe Zeittung / Von dem plötzlichen undergang/ deß wolbekandten Flecken Plur, Augsburg 1618, aus: VD17 23:677561X.
Die Darstellung orientiert sich nicht an den topographischen Gegebenheiten, sondern intendiert die affektive Teilnahme des Betrachters, indem es die Konfrontation von entsetzten (blattinternen) Beobachtern mit der überproportionierten und bedeutungsperspektivisch herausgehobenen Zerstörungskulisse zur Ansicht bringt. Die mediale Aufarbeitung des Plurser Bergsturzes ist mithin integraler Bestandteil einer diversifizierten Darstellungskultur zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in der plurale Vorstellungs- und Verstehensmodelle produktiv sind und übernatürliche wie natürliche Ursachen als Erklärungen für ‚erschröckliche und plötzliche Ereignisse‘ wie Naturkatastrophen in Anschlag gebracht werden. Was sich anhand des vorgestellten Materials zeigt, sind gegenseitige Bezug- und Übernahmen von Bildentwürfen und Textbausteinen. Das Theatrum Europaeum profitiert von (chronologisch vorgängigen) Quellen, zu denen Flugblätter wie Flugschriften gehört haben. Was letztere anbetrifft, lassen sich gleichfalls mehrere Exemplare ausmachen, zu denen die ausführlicher als die Flugblätter berichtende „Warhafftige[n] erschreckliche[n] Newe[n] Zeitung“ gehört, die ebenfalls von 1618 datiert und in Prag erschienen ist (Abb. 5).
Abbildung
Abb. 5: Warhafftige erschreckliche Newe Zeitung/ von dem plötzlichen Untergang der Stadt Plurs, Augsburg 1618, aus: VD17 12:117214R.
Was die Kompilationslogik des Theatrum anbetrifft, so bezog es Hermann Bingel zufolge seine Informationen „zweifellos aus den in dem Frankfurter Sammelbecken zusammenfließenden journalistischen und publizistischen Produkten“. Mit Bezug auf die ersten beiden Bände der Chronik konkludiert Bingel, dass ihr Verfasser, Johann Philipp Abelinus„unverhohlen einzelne Relationen [und] eine ganze Reihe von Traktätchen, besonders solche, in denen sich Gelehrte über Gegenstände des Unterhaltungsstoffes verbreitet haben, mit Angaben des Autors anführt und ausdrücklich benützt.“ Dabei aber gehe das Bestreben von Abelinus bei der Verarbeitung seiner Quellen dahin, alle Merkmale, die sie als Sonderprodukte kennzeichnen, zu entfernen und sie so unauffällig zu einer allgemeinen Darstellung auszugleichen (Bingel, S. 113, 27). Diese Einschätzung findet hinsichtlich dieses kurzen Rundgangs Bestätigung, insofern das Theatrum Europaeum seine Quelle in der Tat spiegelt bzw. repliziert. Das ‚Abkupfern‘ ohne explizite Autoren- und Quellennennung hat System. Für die Gestaltung der Plurs-Episode hat Abelinus die Inhalte der Flugblätter und Flugschrift keineswegs 1:1 übernommen, sondern Versatzstücke, die sich ihrerseits unterschiedlich adaptiert in den Blättern untereinander finden, was den zirkulierenden Informationsfluss der Zeit untermauert. Abelinus dürfte in jedem Fall die Blätter, oder zumindest eines davon, wahrgenommen und sich an ihnen orientiert haben. Der Text des zweiten Blattes mit dem dualistischen Ansichtsmodus in ein- und demselben Bildraum wiederum stimmt wortwörtlich mit dem des Klappblattes überein. Zwangsläufig aber ist jener Passus getilgt, der im Klappblatt auf die Funktionsweise der Papierklappe hinweist. Was schließlich das Blatt mit der Klappe anbetrifft – soviel als letzte Anmerkung dazu –, so verlangt es den Zugriff des Rezipienten von außen. Dieser wird zu einem performativ und interaktiv involvierten Agenten, vielleicht darf man sagen: Papieroperateur. Er/Sie generiert die Visualisierungen in gewisser Weise eigenständig. Die Klappe reagiert auf den spielerischen Reflex des Operateurs, was für den konzeptionellen Kern dieser Darstellungsvariante zu berücksichtigen ist. Es liegt an dem Rezipienten, die Entblätterungsaufforderung des Mediums anzunehmen, um der latenten Darstellungsebene ansichtig zu werden.

6. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
[arrow up]

6.1. Quellen
[arrow up]

  • Anonym: „Warhaffte vnnd eigentliche Abbildung deß Fleckens Pluers“, Flugblatt. Straßburg o.J. (gedruckt von Marx von der Heyden, verlegt von Jacob von der Heyden).
  • Anonym: „Warhaffte abbildung deß fläckens PLVRS“, Flugblatt. Zürich 1618 (gedruckt von Johann Hardmeyer). [opac]
  • Anonym: „Warhafftige erschreckliche Newe Zeitung“, Flugschrift. Altenstadt Prag 1618 (gedruckt und verlegt von Paul Sessen). [vd17]
  • W. Harms, in Zusammenarbeit mit M. Schilling u. weiteren Wissenschaftlern (Hg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bislang 6 Bände. Tübingen 1979, S. 80ff.
  • Daniel Manasser: „Warhafftige vnd erschröckliche Newe Zeittung“, Flugblatt. Augsburg 1618 (gedruckt von Lucas Schultes, verlegt von Daniel Manasser). [vd17]
  • Matthaeus Merian: Theatrum Europaeum. 21 Bde., Frankfurt a.M. 1633-1738 (ausführliches Siglenverzeichnis). [opac]

6.2. Forschungsliteratur
[arrow up]

  • Hermann Bingel: Das Theatrum Europaeum. Ein Beitrag zur Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts. Lübeck 1909 (Neudruck Schaan/Liechtenstein 1982).
  • Gerd Dethlefs: Schauplatz Europa. Das Theatrum Europaeum des Matthaeus Merian als Medium kritischer Öffentlichkeit, in: Klaus Bußmann und Elke Anna Werner (Hg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Wiesbaden 2004, S.149-179. [opac]
  • Katrin Hauer: Bergstürze kulturhistorisch betrachtet: Salzburg und Plurs im Vergleich, in: Lars Kreye et al. (Hg.): Natur als Grenzerfahrung. Europäische Perspektiven der Mensch-Natur-Beziehung in Mittelalter und Neuzeit: Ressourcennutzung, Entdeckungen, Naturkatastrophen. Göttingen 2009, S. 261-280. [gbv]
  • Günther Kahl: Plurs. Zur Geschichte der Darstellungen des Fleckens vor und nach dem Bergsturz von 1618, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 41 (1984), S. 249-281. [opac]
  • Jörn Münkner: Eingreifen und Begreifen. Handhabungen und Visualisierungen in Flugblättern der Frühen Neuzeit. Berlin 2008. [opac]
  • Michael Schilling: Kommentare zu den Flugblattexemplaren Abb. 3 und 4, in: Wolfgang Harms und Michael Schilling, zus. mit Barbara Bauer und Cornelia Kemp (Hg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. I, KA (Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel). Tübingen 1985, S. 436, 434. [opac]
  • Gerhild Scholz Williams: Ways of Knowing in Early Modern Germany. Johannes Praetorius as a Witness to his Time. Aldershot/Burlington 2006. [opac]
  • Bruno Weber: Das Elementarereignis im Denkbild, in: Dieter Grob, Michael Kempe und Franz Mauelshagen (Hg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, S. 237-259. [opac]
  • Horst Wenzel: Deixis und Initialisierung. Zeighände in alten und neuen Medien, in: Heike Gfrereis und Marcel Lepper (Hg.): Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger. Göttingen 2007, S. 110-142. [gbv]

6.3. Abbildungsnachweise
[arrow up]

  • Abb. 1: Eigentlich Vorbildung des schönen Fleckens Plurs, vnd wie derselbe nach seinem schröcklichen vndergang beschaffen. 1618, aus: Theatrum Europaeum, 3. Ausg., Bd. 1, 1662, Tafel 16 (nach S. 96).
  • Abb. 2: Warhaffte vnnd eigentliche Abbildung deß Fleckens Pluers, aus: Deutsche illustrierte Flugblätter. Bd. IV, S. 398.
  • Abb. 3: Warhaffte abbildung deß fläckens PLVES, aus: VD17 23:676381V.
  • Abb. 3a: Blatt mit rekonstruierter Klappe, aus: VD17 23:676381V (Rekonstruktion J.M.).
  • Abb. 4: Warhafftige vnd erschröckliche Newe Zeittung / Von dem plötzlichen undergang/ deß wolbekandten Flecken Plur, Augsburg 1618, aus: VD17 23:677561X.
  • Abb. 5: Warhafftige erschreckliche Newe Zeitung/ von dem plötzlichen Untergang der Stadt Plurs, Augsburg 1618, aus: VD17 12:117214R.

1Die Erstausgabe des 1. Bandes datiert auf 1635, der Band deckt den Zeitraum 1618-1629 ab. Hermann Bingel unterläuft ein Lapsus: In seiner Übersichtstabelle steht als Erscheinungsdatum für die 1. Ausgabe 1645, die korrekte Jahreszahl 1635 erscheint später im Abschnitt „Historische Chronik und Theatrum Europaeum“.
2Gerhild Scholz Williams hat in Ihrem Buch zu Johannes Praetorius einen Exkurs zum Theatrum Europaeum und zur Theatrum-Literatur eingefügt. Bei letzterer handele es sich um eine spezifische Gattung (oder ein Medienformat, möchte ich meinen) im frühneuzeitlichen Publikationsspektrum: In den Vertretern offenbare sich die zeitgenössische Überzeugung, Wissen und Information in großer Dichte (nicht zuletzt durch die fast immer praktizierte Text-Bild-Kopplung, wie ich hinzufüge) und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, kohärent übersichtlich und ohne den Leser bei der Rezeption zu überfordern, zusammenzutragen und wiederzugeben. Dieses Anliegen teile die Theatrum-Literatur mit anderen polyhistorischen Informationsträgern, wobei das Theatrum Europaeum ein herausragendes Beispiel für die Gattung abgebe.
XML: http://diglib.hab.de/ebooks/ed000075/tei-transcript.xml
XSLT: http://diglib.hab.de/ebooks/ed000081/tei-ebooks.xsl