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Das Theatrum Europaeum. Wissensarchitektur einer Jahrhundertchronik Einführung
Flemming Schock

1. Einführung
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Am 12. und 13. März 2011 fand an der Universität Kassel der interdisziplinäre Workshop Das Theatrum Europaeum. Wissensarchitektur einer Jahrhundertchronik1 statt. Ziel des Workshops, dessen Ergebnisse die vorliegenden Beiträge dokumentieren, war kein Querschnitt durch das Theatrum-Korpus als Ganzes, das im Rahmen des veranstaltenden DFG-Projekts „Welt und Wissen auf der Bühne. Die Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit“ erforscht wird. Vielmehr stand mit Matthäus Merians ‚Jahrhundertchronik‘ Theatrum Europaeum (1633-1738) ein einzelnes, wenngleich monumentales Werk im Mittelpunkt. Die Entscheidung, sich ausschließlich auf ein einziges Theatrum zu konzentrieren, erschien mit Blick auf die Frankfurter Nachrichtensammlung vorbehaltlos und einfach. Naheliegend war sie aus zwei (zunächst widersprüchlich klingenden) Gründen, denn Merians Projekt vereint exzeptionelle mit repräsentativen Zügen.

1. Exzeptionalität: Die Prominenz des Theatrum Europaeum darf als konkurrenzlos gelten, und zwar gleichermaßen bezüglich seiner Schlüsselstellung im zeitgenössischen Mediensystem als auch der Anmerkungen gegenwärtiger Forschung. Obwohl sich seit Hermann Bingels Pionierstudie von vor über 100 Jahren allein Lucas Heinrich Wüthrich2 in den 1990er Jahren mit dem Theatrum Europaeum in monographischer Länge auseinandergesetzt hat3 – was angesichts des Umfangs von rund 30 000 Folioseiten allerdings auch nicht überrascht –, ist der Tenor bezüglich des Quellenrangs eindeutig: Wer immer sich mit der Frühen Neuzeit insgesamt befasst, so der Konsens, kommt um das Theatrum Europaeum nicht herum. Epochal ist nicht nur sein Erscheinungszeitraum, sondern auch sein bleibendes Gewicht – „Ein Mammutwerk für die frühneuzeitliche Geschichte“ (Emich, S. 248), so die ehrfürchtige Einschätzung von Birgit Emich in einer jüngeren Epocheneinführung. Das Fundament für diese geradezu monolithische Rolle legte der verlegerische Instinkt, aber auch das künstlerische Geschick von Matthäus Merian. Ein qualitativer Quantensprung markiert hier bekanntlich die intensive Bebilderung mit über 1300 Kupferstichen, die aus 21 Bänden nicht nur eine ‚illustrierte Zeitgeschichte‘ des Berichtszeitraums (1618-1718) machen; vielmehr prägten sie im konkreten wie übertragenen Sinn maßgeblich das Bild, das sich ein Jahrhundert von sich selbst machte. Kaum ein anderes Werk aus dem Theatrum-Korpus ist vergleichbar dicht, vor allem aber vergleichbar kostbar (und kostspielig) bebildert. Lesbar wird der bereits zeitgenössische Publikumserfolg nicht nur in mehreren Neuauflagen diverser Bände, sondern auch und vor allem in der schier unglaublichen Zitationsdichte4 in allen erdenklichen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts – sie belegen eindrucksvoll den beispiellosen ‚impact factor‘ des Frankfurter Verlagsprojektes. Dennoch ist seine Rezeptions- und Wirkungsgeschichte weiter ungeschrieben.

2. Repräsentativität: In seiner herausragenden Stellung ist das Theatrum Europaeum nicht nur ein ‚typischer Merian‘. Es ist auch repräsentativ für das Profil der Theatrum-Literatur als Ganzes. Das beginnt – vom plakativen Titel und der barocken Theatrum Mundi-Konzeption ausgehend – bei der Auffassung, dass sich historisches Welttheater und gedrucktes ‚Geschichtstheater‘ deckungsgleich verhalten würden – Merian habe sich „[…] von Jugend auff […] vorgenommen […], in diesem Theatro oder SchawPlatz der Geschichten der Welt mich zu üben […]“ (TE, 1. Aufl., Bd. 1, 1635, Widmung, Bl. ):( iiiv ), so in der Dedikation des ersten Bandes von 1635. Auch später zieht er mehrfach „[…] den Vorhang unsers Theatri ein wenig auff […]“ (TE, 2. Aufl., Bd. 8, 1693, Widmung, Bl. ):( iiir) und gibt den Blick frei auf die entscheidenden Akte im großen historischen Weltschauspiel – Politik und Krieg. Damit entspricht das Theatrum Europaeum sowohl in thematischer Hinsicht den Schwerpunkten im Theatrum-Korpus insgesamt als auch der zeitgenössischen Publizistik: Chronikalische ‚Buchtheater‘ zwischen Universal- und Partikulargeschichte hatten im 17. und 18. Jahrhundert Konjunktur, ob sie sich nun Historischer Schauplatz oder Theatrum Historicum nannten. Insgesamt ist rund ein Viertel der Theatrum-Literatur der historiographischen Werkgruppe zuzuordnen. Merian machte sich also einen zweifachen Trend zunutze, indem er neben der Titelmode auch auf bewährte Inhalte setzte.

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Abb. 1: : Titelkupfer, aus: TE, 1. Aufl., Bd. 1, 1635.
Nach diesen allgemeinen Einschätzungen nur noch einige Gedanken zu Kernfragen und -problemen, auf die die Beiträge des Workshops verschiedentlich Antwort geben: Auch wenn sich die bisherige Erforschung des Theatrum Europaeum bescheiden ausnimmt, gab es in jüngerer Zeit gleichwohl eine Reihe von Aufsätzen zu Teilaspekten des Werks (Scholz Williams 2006; dies. 2009; Schreurs).5 In Ansätzen erschlossen ist etwa der Beitrag des Theatrum Europaeum zu Europa-Vorstellungen im 17. Jahrhundert (vgl. Dethlefs), die in geographischer Sicht zugleich den Fokus der Chronik begrenzen. Sichtbar ist das schon in Merians elaboriertem Bildprogramm (Abb. 1) – etwa im Titelkupfer des ersten Bandes: Europa thront in der Mitte, gehuldigt von den Weltteilen Afrika und Asien. Innovativ war diese Ikonographie allerdings im Kontext der Theatrum-Literatur nicht, hier deuten sich bereits die medialen Traditionen an, aus denen Merian schöpfte (Abb. 2). Denn bereits geographische Welttheater wie Abraham Ortelius‘ berühmtes Theatrum Orbis Terrarum von 1570 zeigen die Europa in ähnlich pointierter Position. Mit den Titelkupfern ist zugleich auf die Bild-Text-Relationen und visuellen Strategien im Theatrum Europaeum verwiesen, die auf dem Kasseler Workshop wiederholt zur Sprache kamen; sie liefern zweifellos einen wichtigen Baustein zur ‚Wissensarchitektur‘ der Chronik. Daneben seien zwei weitere Komplexe angestoßen, die bei der Frage nach dem ‚Ort‘ des Theatrum Europaeum im zeitgenössischen Mediensystem vordringlich sind: der Zusammenhang von Text und Kontext sowie die publizistische Konzeption und Programmatik von Merians Projekt. Der Komplex von Text und Kontext zielt auf das Verhältnis der ‚Oberfläche‘ des Textes zu ihren Quellen. Hier gibt es neben grundsätzlichen Antworten immer noch weiße Flecken. Strukturell unstrittig ist das kompilatorische Grundprinzip, es verbindet das Theatrum Europaeum wiederum mit der Theatrum-Literatur als Ganzes – das „Corpus Historicum“ (TE, 1. Aufl., Bd. 3, 1639, Widmung, Bl. 2v) als einhundertjähriger Recyclingprozess. Spezieller und mit Blick auf die Gattungstradition der Chroniken aussagekräftiger ist die Einbettung des Theatrum Europaeum in den publizistischen Medienverbund des 17. Jahrhunderts. Kurz: Als serielle Chronik wäre das Theatrum Europaeum ohne die periodische Zeitung als Quelle und Materiallieferant nicht denkbar gewesen. Schon in einer der frühesten Theorien des Zeitungsmediums überhaupt bemerkte Caspar Stieler: „Von den Zeitungen haben wir […] gemeldet/ daß die Historien oder Geschichte eine sehr grosse Aehnlichkeit und Verwantnüß mit ihnen haben: Dennoch sind sie nur ein Anfang und Grund zu denselben“ (von Stieler, S. 101). Im Hinblick auf die Leistungen des Mediums deutet sich der Übergang von der Chronistik und Zeitberichterstattung zur narrativ-verdichteten, aber immer auch perspektivischen Geschichtsschreibung an. Einige Fragen, die in diesem Zusammenhang zu stellen wären, lauten: Was macht der jeweilige Redakteur oder Kompilator des Theatrum Europaeum aus seinen Quellen, wie organisiert und strukturiert er sie? Wie steht es um den Bearbeitungsgrad, wie verhält sich reine Darstellung zu Kommentar und Deutung? Oder anders: Wie wird aus tagesaktueller Information ‚gemachte Geschichte‘? Wie dieser Prozess im Einzelnen genau ablief und wo es Verschiebungen in der langen Publikationsgeschichte gibt, bleibt zukünftigen Untersuchungen vorbehalten. Immerhin macht schon ein Blick in die Vorworte klar, dass der dabei genutzte Quellenfundus umfassend war und sich nicht auf Gedrucktes beschränkte: Merian bedankt sich etwa beim Hessischen Landgrafen für die „Vbersendung nützlicher vnd nothwendiger Documenten aus E. Fürstl. Gn. Archiven“ (TE, 1. Aufl., Bd. 3, 1639, Widmung, Bl. 3r).
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Abb. 2: : Titelkupfer, aus: Abraham Ortelius: Theatrum Orbis Terrarum, 1570.

Die Vorworte führen zur publizistischen Programmatik oder zum medialen Selbstverständnis des Theatrum Europaeum: Wiederholt und umfassend äußert sich Merian in den Paratexten zur Ausrichtung und Intention seines Projektes – hier finden sich alte Wirkungspostulate wie die Rede von der Belustigung und des Nutzens, das zeitgenössisch gängige Lob der Weltneugier und die gestiegenen Informationsbedürfnisse, aber auch weitergehende Erörterungen über den exemplarischen Sinn der Geschichte und mehr. Immer in Rechnung zu stellen sind sicher auch die adressierten Leserkreise. Doch wer konnte, wer wollte sich das Theatrum Europaeum wirklich leisten? Im Kontext von Merians ganzem Œuvre und Verlagsprogramm ist sicher nicht zuletzt an die repräsentative Funktion der Prachtwerke zu denken.

Mit diesem Fragenkatalog sind einige Diskussionshorizonte der Tagung und Felder zukünftiger Arbeiten lediglich angerissen. Schon angesichts des Quellenumfangs konnten die Antworten des Workshops nur vorläufig und punktuell ausfallen. Im Wesentlichen ging es darum, die verschiedenen Schichten von Merians Großprojekt sichtbarer zu machen und weitere Forschungen anzustoßen. Immerhin ist der Quellenwert des Theatrum Europaeum sowohl für kunsthistorische als auch für medien- und wissensgeschichtliche Zusammenhänge unbestritten und nicht annähernd ausgeschöpft.

2. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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2.1. Quellen
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2.2. Forschungsliteratur
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  • Hermann Bingel: Das Theatrum Europaeum. Ein Beitrag zur Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1909. [gbv]
  • Gerd Dethlefs: Schauplatz Europa. Das Theatrum Europaeum des Matthaeus Merian als Medium kritischer Öffentlichkeit, in: Klaus Bussmann, Elke Anna Werner (Hg.): Europa im 17. Jahrhundert: ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004, S. 149-181. [gbv]
  • Birgit Emich: Geschichte der Frühen Neuzeit studieren. Konstanz 2006. [opac]
  • Hans-Joachim Jakob: Die Schauplatz- und Theater-Bildlichkeit in Georg Philipp Harsdörffers ‚Grossem Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte‘, in: Stefan, Keppler-Tasaki, Ursula Kocher (Hg.): Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock. Berlin, New York 2011, S. 83-115. [opac]
  • Gerhild Scholz Williams: Formen der Aufrichtigkeit: Zeitgeschehen in Wort und Bild im „Theatrum Europaeum“ (1618-1718), in: Claudia Benthien (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 343-373. [opac]
  • dies.: Sensationslust, Tabu und Scham. Öffentlichkeit und Berichterstattung im 17. Jahrhundert: Thurneysser, Pierre de Lancre, „Theatrum Europaeum“, in: Tabu 2009, S. 75-100. [opac]
  • Helmar Schramm: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne im ‚Theatrum Europaeum‘. Zum Wandel des performativen Raums im 17. Jahrhundert, in: ders., Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Berlin 2004, S. 10-34. [gbv]
  • Anna Schreurs: Der Vesuvausbruch von 1631, ein Spektakel auf der Weltbühne Europa: Anmerkungen zu Joachim von Sandrarts Beitrag zum Theatrum Europaeum von Matthäus Merian, in: Flemming Schock, Ariane Koller, Oswald Bauer und metaphorik.de (Hg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Hannover 2008, S. 305-340, zugleich in: metaphorik.de 14 (2008). [opac]
  • Lucas Heinrich Wüthrich: Theatrum Europaeum, in: ders.: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d.Ae., Band 3: Die großen Buchpublikationen. Hamburg 1993, S. 113-272. [opac]

2.3. Abbildungsnachweise
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1Der Workshop, geleitet von Flemming Schock und Nikola Roßbach, wurde im Rahmen des DFG-Projektes „Welt und Wissen auf der Bühne. Die Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit“ von der Technischen Universität Darmstadt und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ausgerichtet. Das DFG-Projekt selbst wurde bei diesem Anlass in einem nicht schriftlich dokumentierten Beitrag des bibliothekarischen Projektleiters Thomas Stäcker und des wissenschaftlichen Mitarbeiters Flemming Schock präsentiert („Theatrum Europaeum digitale in der Projektvorstellung“). Unser Dank gilt allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops, die durch ihre instruktiven Vorträge und anregenden Diskussionsbeiträge zu seinem Gelingen beigetragen haben – und nicht zuletzt der Universität Kassel für ihre Gastfreundschaft.
2Siehe hier den weiterhin gültigen Befund: „Eine wirklich grundlegende Untersuchung ist bis heute nicht geschrieben worden“, Wüthrich, S. 119.
3Im Anschluss an Wüthrich mahnte Gerd Dethlefs noch 2004 an: „Eingehendere neuere Analysen des Gesamtwerks fehlen noch“, S. 149.
4Diese lässt sich auch für die starken intertextuellen Zusammenhänge innerhalb der Theatrum-Literatur beobachten: Viele chronikalisch-‚zeitgeschichtliche‘ Theatra des 17. Jahrhunderts referierten auf das Theatrum Europaeum als eine ihrer Hauptquellen und boten kostengünstige Auszüge und ‚Extrakte‘ aus Merians teurem Prachtwerk, beispielsweise der Neu-eröffnete kleine Schau-Platz Denckwürdiger Begebenheiten (Augsburg 1731).
5Darüber hinaus wurde und wird das Theatrum Europaeum immer wieder in Publikationen mehr oder weniger umfassend gestreift; siehe jüngst etwa Jakob.
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