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Theatrum eroticum: Beziehungstragödien und Liebestode in der Schauplatz-Literatur der Frühen Neuzeit
Alexander Košenina

1. Histoires tragiques auf dem Theater
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Liebestragödien sind Schauplätze schlechthin, auch außerhalb der Theatrum-Literatur. Kaum ein Gegenstand ist dramatischer – tragisch im doppelten historischen Sinne: zum einen schrecklich und ergreifend in der Wirklichkeit, also im Sinne des Genres der Histoires tragiques, zum anderen aber aufführbar und bühnentauglich nach den Begriffen der aristotelischen Poetik. Gelegentlich fallen res facta und res ficta aber zusammen, beispielsweise im historischen Kriminaldrama, etwa in Georg Büchners Woyzeck.

Christiane Karoline Schlegels Trauerspiel Düval und Charmille (1778) ist ein Beispiel für die rasche Literarisierung eines blutigen Verbrechens am Dresdener Hof. Im Sächsischen Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (Standort 100024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv) Loc. 9703/5) findet sich ein Untersuchungsbericht über „Des prinzl. Stallmeister Lachapelle und der Kammerdienerin Birnbaum Selbstentleibung“, datiert auf den 31. Dezember 1777. Schlegel bringt diesen blutigen Skandalfall bereits 1778 auf die Bühne. Sein sensationeller Reiz besteht – wie Christian Felix Weiße zu Recht im „Vorbericht des Herausgebers“ bemerkt – eben in dem Umstand, dass es sich um eine „sehr wahre tragische Geschichte“ (Schlegel, S. 3) handelt.

Aus dem Untersuchungsbericht des Amtmanns Jacob Heinrich Reinhold, der als Anhang der von Pailer 2011 besorgten Textausgabe beigegeben ist, gehen viele Details hervor, die im Stück wiederkehren. Der Ehemann la Chapelle alias Düval unterhielt eine alles andere als geheime Beziehung zu einer Kammerdienerin der Prinzessin. Vor den Augen seiner Frau und seines Sohnes zog er sich gern mit der Mätresse Birnbaum alias Charmille in sein Zimmer zurück und versäumte darüber das familiäre Nachtmahl. Am Abend des 27. Dezember 1777 blieb die Tür besonders lange verschlossen, bis die junge Frau plötzlich „furioes“ heraus rannte, „hilf mir“ zu einem Diener rief und mit durchtrennter Kehle zusammensank. Ein Schuss aus dem Kabinett verkündete den Selbstmord des oft „übel und tyrannisch“ auftretenden Täters, schließlich lagen „beyde in ihrem Blute todt“ da und erregten bei den Vorübergehenden „Horreur“. Zurückgelassene Briefe und Aufsätze machten deutlich, dass der Mann aus „Rache, Haß und Jalousie“ den gemeinsamen Tod erzwang, da eine legale Verbindung mit der Geliebten unmöglich schien (Reinhold, S. 65-70).

Schlegel bettet diese juristische species facti in ein bürgerliches Trauerspiel mit entsprechenden Nebenfiguren ein, für die es am Dresdener Hof wohl ebenfalls Vorbilder gab. Im Theaterstück ist die moralische Verurteilung der Affäre durch die sonst als frivol geltende Hofgesellschaft und das Fürstenpaar erstaunlich. Düvals Ehefrau, die sogar als Freundin Charmilles erscheint, erduldet hingegen auf groteske Weise alle Demütigungen. Sie steht vor der verschlossenen Tür Wache, obgleich ihr die Absonderung des Gemahls laut Protokoll „außerordentlich bedenklich erschienen“ war.

In dem Stück entwirft Charmilles intrigante Stiefmutter einen aussichtslosen Fluchtplan und ein konkurrierender Bewerber um die Liebe des Kammerfräuleins fordert den – nicht nur durch seinen Namen – als teuflisch gezeichneten Düval zum Duell heraus. Man droht gar, ihn aus dem Hofdienst zu entlassen und Charmille ins Kloster zu verbannen. All das trägt zur tragischen Zuspitzung bei, die Mordszene selbst ist aber genau nach den Dokumenten oder den kursierenden Gerüchten gearbeitet. Dem Rezensenten in der Allgemeinen deutschen Bibliothek erscheint diese Geschichte von Mord und Selbstmord indes allzu wild: „Das Süjet ist für eine Frauenzimmerhand zu tragisch“, meint er, „auch zu unmoralisch“ (anonym: [Rezension], S. 708). Doch die Wirklichkeit hält sich eben nicht an Kunstregeln. Wie auf dem Theater hätte dieser oder ähnliche Fälle auch auf der Bild-Bühne nachgestellt werden können. Auf dem kolorierten Kupferstich Die Närrsche Eyffersucht der Weiber (Abb. 1, 2) von Johann Christoph Hafner (1668–1754) – das Original befindet sich in der Graphischen Sammlung Stift Göttweig, die auch das Pendant Die Närrsche Eyffersucht der Männer enthält – ist eine analoge Szene (wenn auch ohne Mord) zu sehen: Vor verschlossener Tür steht eine bewaffnete Ehefrau Wache, während ihr Mann – so erkennt der Betrachter erst beim Öffnen der eingearbeiteten papierenen Klapptür – im Verborgenen mit der Magd buhlt. Der beigegebene Text lehrt:

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Abb. 1: Johann Christoph Hafner: Die Närrsche Eyffersucht der Weiber
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Abb. 2: Johann Christoph Hafner: Die Närrsche Eyffersucht der Männer

„Die thut ihr thür Verwahren Zwar, Und meint es hab gar kein gefahr, Wann sie u. ihr Katz Schildwach stehen So muß’ im Hauß als recht Zugehenc Da doch der Herr u. Magt im Hauß, Es selber auch nicht schlagen auß. Thut ihr nur öffnen die Hauß thür, So könt ihrs selber sehen Hier.“

2. Liebestode in Adamis Theatrum tragicum
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‚Bühnentaugliche Stoffe’ wie die von Christiane Karoline Schlegel aus Gerichtsakten bezogene Beziehungstragödie finden sich in den Theatra der Frühen Neuzeit in reicher Auswahl. Im Folgenden soll exemplarisch ein zweibändiges Theatrum Tragicum (1695/1699) (Abb. 3) vorgestellt werden, das in 950 Einträgen allerhand sonder-und wunderbare Trauer-und Todes-Fälle versammelt.

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Abb. 3: Johann Samuel Adami: Theatrum Tragicum (1695), Frontispiz
Verfasst wurde es von Johann Samuel Adami (1638–1713), einem Pfarrer in Pretzschendorf bei Dresden, der als unermüdlicher Sammler von nützlichen Predigtstoffen hervortrat: Mit vielfältigen Ergötzlichkeiten (Deliciae), einer Realiensammlung von Historien und Gleichnissen, brachte er es auf 60 Bände. Demgegenüber erscheint das Theatrum Tragicum fast wie ein handliches Kompendium. Leichpredigern und Trauerrednern stellt es ungewöhnliche, besonders sinnlose und tragische Todesfälle zur Verfügung, um bei entsprechenden Anlässen zum Vergleich herangezogen werden zu können.

Misander – so nennt sich der Verfasser akronymisch nach den Anfangsbuchstaben aus Magister Joh. Sam. Adami Neo-Dresd. Ecclesiast. Rabenau – reiht in jedem der 950 Kapitel thematisch verwandte Sterbearten aneinander. Eine sittlich und moralisch besonders heikle, für den sensationslüsternen Leser aber ergiebige Rubrik bilden Liebesdinge. Damit bedient er eine Kategorie mit Beispielen, wie sie sich in der Datenbank von rund 10.000 ausgewerteten Leichenpredigten der Herzog August Bibliothek so nicht auf Anhieb finden (Suchoption: Verstorbener – Todesursache). Die angeführten Todesursachen in eroticis lassen sich in folgende drei Kategorien unterteilen: (1) psychophysische Faktoren im Affekthaushalt, (2) physische Überforderung während des Beischlafs und (3) äußere Gewalteinwirkungen, sei es durch Rivalenmord, Vergiftung, missliche Unfälle oder Geschlechtskrankheiten.

Die erste Rubrik ist bemerkenswert, da sie empirische Fallbeispiele für die seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts in der anthropologischen Theoriebildung dominierende antimetaphysische Erklärungshypothese eines Influxus physicus bereitstellt. Nehmen wir folgendes Exemplum:

„Als der Kayser Sigismundis sich einsten eine kurtze Zeit zu Siena in Welschland auffhielte/ verliebte sich einer von seinen Cavallieren/ Euryalus genannt/ in eine Jungfrau/ welche Lucretia hieß/ und diese wieder in jenen. Als nun des Kaysers Auffbruch geschahe/ und Euryalus mit fort muste/ hat sich Lucretia dermassen darüber betrübet/ daß sie wenig Stunden nach dessen Abschied gestorben. Als diese Post dem Euryalo zu Ohren kommen/ ist er in Ohnmacht gefallen/ würde auch gleichen Ausgang seines Lebens genommen haben/ wenn er nicht durch kräfftige Artzneyen/ und durch das Zureden seiner guten Freunde wäre wieder ermuntert worden.“ (Adami, Bd. 2, S. 104)

Die Verhinderung der Liebe führt bei der Frau in wenigen Stunden zu tiefer Betrübnis, also Melancholie oder Depression mit Todesfolge, beim Mann hingegen zu der (sonst meist weiblich konnotierten) physischen Reaktion der Ohnmacht, deren psychische Folgeerscheinungen aber durch Medikamente und Gespräch erfolgreich therapiert werden können. Die theoretischen Grundlagen für diese Zusammenhänge, also für Tod und Heilung, finden sich an anderer Stelle in dem Buch. Dort werden die beobachtbaren Nebenwirkungen des Extremaffekts Liebe aufgezählt – also Antriebsschwäche, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Blässe –, die den Symptomen von Krankheit oder übertriebenem Studium ähneln. „Die Herren Medici“ – heißt es weiter zur Begründung – „nehmen ein Zeichen der Liebe bey den Menschen aus dem Schlage des Pulses/ [...] Galenus behauptet/ dass bey den Verliebten auch die blosse Meynung des abwesenden Liebsten einen hefftigen Schlag und Bewegung der Puls-Ader verursache.“ (ebd., Bd. 1, S. 673f.) Die Schlussfolgerung am Ende des mit Beispielen angereicherten Eintrages „Vor Liebe gestorben“ lautet entsprechend: „Die hefftige Liebe schadet einem solchen Patienten/ so wohl am Leibe/ als am Gemüthe.“ (ebd., Bd. 1, S. 679) Zitiert wird damit das um 1230 entstandene Compendium medicinae (ED 1510) des englischen Arztes Gilbertus Anglicus (um 1180- um 1250).

Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gilt die psychophysische Wechselwirkung – also von den Affekten auf den Körper und umgekehrt von der Physis auf die seelische Disposition – als Selbstverständlichkeit in den theoretischen Debatten. Die folgende kurze Fallgeschichte gibt dafür empirisches Material an die Hand, das auch zu einer vertiefenden literarischen Bearbeitung geeignet wäre. Aus Jacob Daniel Ernsts Curiöser historischer Blumen-Lese (1694) übernimmt Misander die Erzählung,

„daß eine Vestalische oder Heydnische Jungfrau/ so dem Götzendienst gewiedmet/ auff eine Zeit/ aus hefftiger Liebe gegen einen Jüngling entzündet/ die Gesetze der Keuschheit überschritten/ sich heimlich des Nachts aus ihrem Tempel gestohlen/ und mit ihrem Buhlen/ welchen sie hierzu bestellet/ in unziemlicher Liebe sich ergetzet/ davon gedachter Jüngling/ aus Antrieb hitziger Begierden/ in ihren annoch umschlossenen Armen seinen Geist auffgegeben. Welcher/ als er nach Gewohnheit ihrer Lande/ auff einem hierzu auffgerichteten Holtzhauffen verbrennet worden/ diese Jungfrau unerschrocken hinzu getreten/ und mit grosser Standhaftigkeit/ in Gegenwart alles Volcks freywillig zu ihm ins Feuer gesprungen/ sich auch zu Bestätigung ihrer Liebe/ und dass er seyn Leben in ihren Diensten auffgewendet/ zugleich mit ihm verbrennen lassen/ unangesehen berührter Jüngling weder ihr Ehemann/ noch viel lange Jahr mit ihr in guter Freundschafft und Bekanntschafft gelebet/ sondern auff gar wenige Stunden nur ihr Liebhaber und Buhlschafft gewesen. So blind und so thöricht ist die fleischliche Liebe.“ (ebd., Bd. 1, S. 678f.)

Die Schlussfolgerung von der törichten und blinden Liebe, die sich aus dem physischen Versagen des Mannes angesichts einer Affektüberflutung oder Überanstrengung beim sexuellen Akt sowie dem wahnsinnig wirkenden Suizid der Frau ergibt, findet sich ganz ähnlich in Christian Thomasius’ fast gleichzeitig erschienener Abhandlung Von der Artzeney Wider die unvernünfftige Liebe und der zuvorher nöthigen Erkäntnüß Sein Selbst. Oder: Ausübung der Sitten Lehre (1696). Um der vernünftigen Liebe nach der Sittenlehre zum Sieg über ihr triebhaftes Gegenteil zu verhelfen, entwickelt Thomasius in seinem System der drei Hauptlaster Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz eine „vernünfftige Kunst/ böse Affecten zu dämpffen“, etwa durch Vermeidung schlechter Gesellschaft oder die Suche nach Keuschheit (Thomasius, S. 456-488).

Thomasius diskutiert im Wesentlichen Balancestörungen im Affekthaushalt, die sich aus übersteigerten Liebesaffekten ergeben. Nach dem psychophysischen Erklärungsmuster können Kummer und Gram ebenso wie physische Überlastung für einen Zusammenbruch des vegetativ gesteuerten Hirn-Herz-Kreislaufsystems sorgen, also zu Schlagfluss, Herzversagen, tödlichen Krampfzuständen oder schleichender Auszehrung führen. Misander bietet eine lange Reihe von Beispielen der „Lustseuche“ (Adami, Bd. 1, S. 688), also letaler Überbeanspruchung beim Vollzug oder in Folge des Beischlafs. „Wie mancher junger Herr hat sich sein Leben durch die übermäßige Weiber-Liebe selbst abgekürzt“ (ebd., Bd. 1, S. 684), heißt es zusammenfassend. Am Ende der Fallsammlung steht das aus Sprache gebildete emblematische Bild von der durch das Licht angelockten und belustigten Schnake, die selbst dabei verbrennt. Darüber ist die lateinische Inskriptio „Lethalis illa voluptas“ zu denken, die Subskriptio lautet: „Einer solchen Lust geniessen/ Macht das Leben gar einbüssen“ – oder in Prosa: „Der jenige/ der sich der fleischlichen Wohllust allzusehre ergiebet/ versichere sich/ dass er um zeitliche und ewige Wohlfarth gar leichte kommen kann.“ (ebd., Bd. 1, S. 690)

Wie diese emblematische Kommentierung der Fallgeschichten zeugt die Verwendung von Wettermetaphern zur Beschreibung von Liebestoden von der Anwendung literarischer Strategien. Es ist zu unwahrscheinlich, dass Blitz und Donner häufig in einen locus amoenus fahren, um dort ein fest umschlungenes Paar zu töten. Die knappen, fast anekdotischen Eintragungen erinnern dabei stark an alchemische Bildgedichte, in denen Prozessabläufe unter Beteiligung von Schwefel und Quecksilber allegorisch als Vereinigung von Sol (Sonne, König) und Luna (Mond, Königin) dargestellt sind. Sonne und Mond verschmelzen dabei miteinander in einem sexuellen Akt (coniunctio oder fermentatio), werden zu einem erstorbenen Leib mit zwei Köpfen (putrefactio, morteficatio), aus dem der Geist erst entschwindet (extractio, fixatio) und dann wieder zurückkehrt (revificatio, sublimatio) (siehe die Bildtafeln bei Telle, S. 189-251):

„Anno 1542 wurde ein Mann und Weib/ so mit einander Huren-Schande getrieben/ zu Illmenau in Böhmen von dem Wetter erschlagen/ und sind mit umgeschlossenen Armen gefunden worden. [...] Anno 1331 hat den 8. Augusti ein reicher Bürger zu Glatz/ und eines Goldschmieds Weib mit einander gehalten/ als sie nun beysammen im Bette gelegen/ sind sie mit umgeschlossenen Armen von dem Donner erschlagen worden.“ (Adami, Bd. 1, S. 686)

Die von Misander vorgestellten Störungen im Affekthaushalt oder physische Überbeanspruchungen als Ursachen für Liebestode gewinnen im 18. Jahrhundert literarisch zunehmend an Konjunktur. Der Anthropologe Schiller entwickelt beispielsweise 1782 in dem als wahre ‚Anekdote‘ bezeichneten Erzähldebüt Eine großmütige Handlung den Entsagungswettstreit zweier Brüder, die der gleichen Frau in feuriger Liebe ergeben sind, aber dem jeweils anderen den Vortritt lassen wollen. Zunächst entfernt sich der ältere der beiden nach Holland, um dem jüngeren Bruder im Falle des gelingenden Experiments die Geliebte als Frau zu überlassen. Doch der Versuch scheitert nicht an Vorsatz und Willen, sondern an überhitzter Einbildungskraft, kurz: der psychophysischen Begrenztheit des Menschen:

„Fern von dem Himmelstrich seiner Liebe, aus einer Gegend verbannt, die seines Herzens ganze Seligkeit einschloß, in der er allein zu leben vermochte, erkrankte der Unglückliche, wie die Pflanze dahin schwindet, die der gewalttätige Europäer aus dem mütterlichen Asien entführt und fern von der milderen Sonne in rauere Beete zwingt. Er erreichte verzweifelnd Amsterdam, dort warf ihn ein hitziges Fieber auf ein gefährliches Lager. Das Bild seiner einzigen herrschte in seinen wahnsinnigen Träumen, seine Genesung hing an ihrem Besitze. Die Ärzte zweifelten für sein Leben, nur die Versicherung, ihn seiner Geliebten wieder zu geben, riß ihn mühsam aus den Armen des Todes. Halbverwest, ein wandelndes Gerippe, das erschröcklichste Bild des zehrenden Kummers, kam er in seiner Vaterstadt an – schwindelte er über die Treppe seiner Geliebten, seines Bruders. [...] Ohnmächtig sank er in die Arme des Fräuleins.“ (Schiller, S. 4)

Selbst wenn man von der typisch Schiller‘schen Rhetorik absieht, bleibt der deutliche Befund einer schweren psychosomatischen Erkrankung bestehen. Misanders Beispielsammlung bietet aber auch Material für den umgekehrten Fall, die Untergrabung der Körpermaschine durch physische Ursachen. Ein Kapitel ist Aphrodisiaka gewidmet, die bei falscher Dosierung tödlich wirken können. Uralt ist die Hoffnung, dass in „Kräutern und andern Dingen was stecke/ das die Liebe zu wege bringen könne“ (Adami, Bd. 1, S. 694). Eine illustrierte Flugschrift mit dem Titel Der Hochverdient und Wohlbelohnte Greise (Mitte des 17. Jahrhunderts, Abb. 4) offeriert dem abgebildeten alten, geschwächten Mann etwa „Austern“, „Schnecken“, „Eyer“, „Mannswurzeln“, „Rettich“ und „Rapunzeln“ (V. 29-34), um ihn „das süsse Manns-Vermögen“ (V. 38) wiederzuschenken (Harms, S. 240f.; siehe auch Košenina 2012, S. 355-376).

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Abb. 4: Der Hochverdient und Wohlbelohnte Greise, illustrierte Flugschrift mit dem Titel (Mitte des 17. Jahrhunderts)

In der Frühen Neuzeit wird aber – nicht zuletzt im Zeichen der aufblühenden Alchemie und Chemiatrie – auch mit hoch toxischen anorganischen oder organischen Substanzen experimentiert. In Alexander Popes 1754 in deutscher Übersetzung erschienener Ehebruchsgeschichte Januarius und Maja (engl. Original 1709) kommt beispielsweise das aus der spanischen Fliege und verschiedenen Käferarten gewonnene riskante Reiz- und Nervengift Cantharidin zum Einsatz: „Allein zuförderst hielt er es für nöthig, den Beistand anzunehmen, welchen ehrwürdige Aerzte zu geben sich kein Gewissen machen. Satyrion und das heisse Eringo und Cantharides waren bei der Hand; das träge Geblüt anzufeuern, deren Nutzen alte Dichter in wollüstigen Liedern beschreiben, und gelehrte Kunstrichter der neuern Zeiten erklären.“ (Pope, S. 26) Cantharidin kann bei Einreibung der Genitalien starke Hautreizungen auslösen und bereits bei Einnahme kleinster Dosen tödlich wirken; Misander warnt entsprechend vor „Liebes-Träncken“, falls „der Teufel das seinige auch darzu contribuir[t]“ habe (Adami, Bd. 1, S. 694) – falls sie also „aus vergiffteten Kräutern/ und andern verbotenen Dingen/ welche an statt der Liebe Unsinnigkeit/ und gar den Todt zuwege bringen“ (ebd., Bd. 1, S. 696).

Aus dem Motiv von Liebesgiften, die Misander in einem eigenen Abschnitt verborgen im biblischen Sündenapfel aufsucht (ebd., Bd. 1, S. 696–699), gestaltet Harsdörffer in seinem Grossen Schauplatz Jämerlicher Mordgeschichte (1649-1652) eine kleine novellistische Szene mit dem Titel „Der Liebesbissen“. Sie handelt von einem deutschen Adligen, der in Neapel der Hetäre Duriclea verfallen ist. Als er nach Hause zurückgerufen wird, will ihn Duriclea kaum ziehen lassen, gibt ihm dann aber zum Abschied wenigstens „allerhand Zuckerwerck/ und schleckerbißlein“ mit auf den Weg. Unterwegs schwächelt das Pferd, kann mit den „Liebes-Zelten“ aber nicht nur wieder auf die Beine, sondern auch zum unerklärlichen Rücktrab nach Neapel gebracht werden, wo es an Duricleas Tür schlägt und sie bespringen will. Der Reisende ist erleichtert, dass er die ihm zugedachten Liebesbissen selbst nicht angerührt hatte, weil er sonst „gewisslich rasend worden/ und von Sinnen kommen were/ allermassen dergleichen Liebsgetränke und Bulerspeisen solche Würkung zu haben pflegen“. Bemerkenswert ist die Erklärung für diese übernatürliche Wirkung, die mit einem Hund verglichen wird, der Witterung seines Herrn aufnimmt: „Warumb solte dann nicht ein Weib etwas von ihrem Leib (ich will nicht sagen was/) einem Manne beybringen können/ daß er ihrer begehren muss.“ Abschließend wird eindringlich vor solcher Sirenen-Gefahr, insbesondere in fremden Ländern, gewarnt: „Viel haben die Weiber verführet/ und in zeitliche und ewige Seelen Gefahr gestürtzet.“ (Harsdörffer, S. 103-106)

Weitaus lebensbedrohlicher als falsch dosierte Aphrodisiaka waren in der Frühen Neuzeit venerische Krankheiten, die man im Falle der Syphilis mit gefährlichen Quecksilberpräparaten behandelte – mit oft tödlicher Folge. Die ausführlichen Sauerbrunnen-Episoden in Grimmelshausens Simplicissimus (1669) handeln von solchen langwierigen, nur selten erfolgreichen Therapien. Misander berichtet in einem Abschnitt über Opfer, „Die an der abscheulichen Kranckheit der so genannten Frantzosen gestorben sind“ (Adami, Bd. 1, S. 918-922). Zwei Züge an dem Artikel sind hervorzuheben, erstens die perfide Idee biologischer Kriegsführung, zweitens das noch mangelhafte Wissen über Infektionswege. Der Name für das Leiden wird auf die legendäre Schamlosigkeit der Franzosen zurückgeführt, hinzu kommt aber eine politisch-geographische Herleitung: „Es haben die jenigen Indianerinnen/ welche Columbus mit nach Neapolis geführet/ als sie von den Spaniern so sehre geliebet worden/ die Manns-Personen mit angestecket/ hernach sollen die Spanier ihren Feinden/ den Frantzosen/ die schönsten Huren zugeschantzet haben/ dadurch sie denn in Franckreich kommen. Andere Nationen haben sie ohne Zweiffel daher geholet/ oder sind von ihnen zu uns heraus gebracht worden [...].“ (ebd., Bd. 1, S. 919)

Der offensichtliche Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Erkrankung nutzt der Verfasser für perhorreszierende Warnungen: Schließlich gelte als gewiss, „daß solchen Unzüchtigen/ beyderley Geschlechts/ die Geburths-Glieder hinweg faulen/ und tode stickende Aeser bey lebendigen Leibe werden.“ (ebd., Bd. 1, S. 922) Andererseits scheinen Infektionen keuscher Personen auch für alternative Übertragungswege zu sprechen. Der Vergleich mit der Pest trägt zu dem Verdacht bei, Syphilis könne man auch „in unreinen Betten/ durch Trincken/ oder auff dem heimlichen Gemache bekommen“, insbesondere solche Menschen, die „sich etwan dafür fürchten“ (ebd., Bd. 1, S. 920). Berichtet werden Fälle von einer Ansteckung mit der Syphilis durch verunreinigte Aderlasswerkzeuge oder unzüchtige Säugammen, die Erreger über das Kind auf die Mutter und weiter auf den Vater übertragen haben sollen. Tatsächlich wirkt das Bakterium Treponema pallidum nicht nur bei sexuellen Kontakten hoch ansteckend, bekannt ist vor allem der Übergang bei Schwangeren auf den Fötus (dazu Schonlau).

Eine kleine Gruppe von Fällen in Misanders Theatrum ist Sexualdelikten gewidmet, die als Vorlagen für das im 18. Jahrhundert aufblühende Genre sensationeller Kriminalerzählungen hätten dienen können. Eine „Greuliche Blut-Schande und Unzucht“ (ebd., Bd. 2, S. 281f.) berichtet etwa von einem verheirateten Leinweber, der mit seiner Schwester ein Kind zeugte, dieses „jämmerlich erwürget“ habe, dabei aber von der eigenen Familie in flagranti ertappt worden sei – „Worauff beyde Blut-Schänder und Mörder eingezogen/ die Schwester lebendig begraben/ und ihr ein Pfahl durch den Leib geschlagen/ der Bruder aber an allen Gliedmassen mit dem Rade zerstossen worden“ (ebd., Bd. 2, S. 282). Solche knappen Relationes facti greifen Autoren wie August Gottlieb Meißner, Karl Müchler oder Christian Heinrich Spieß aus Schauplätzen, Fallsammlungen und anderen Histoires tragiques à la Harsdörffer, François Gayot de Pitaval oder François Rosset auf, um sie literarisch zu variieren und zu modellieren.

3. Literarisierte Fallgeschichten
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Misander bringt in seinem Theatrum nicht nur Todesfälle aller Art zur Aufführung, sondern nutzt dafür auch unterschiedliche literarische Formen – von der nüchternen species facti über kurze Anekdoten bis zur novellistischen Kurzprosa. Darüber steht die Theatermetapher des Buchtitels, die der Lieddichter und Theologe Georg Serpilius (1668-1728) im ersten der Vorreden-Gedichte weiter ausführt:

„Ein Schau-Platz ist die Welt/ wo selten wohl gespielet/ Und wo ein Unglücks-Fall den andern überfällt. Wohin auch diese Schrifft in jedem Actu zielet/ Wohl dem/ ders also macht/ daß er auch Lob erhält! Ich zieh den Vorhang auff; G’rad zu giebt gute Renner/ Es spricht ein ieder schon/ der dieses lesen wird: Adami selbsten sey ein Schau-Platz wackrer Männer/ Er hats recht nett gemacht/ und trefflich wohl agirt!“ (ebd., Bd. 1, Vorrede, unpag. [S. 1])

Im zweiten Vorreden-Gedicht greift Adami die Theatermetapher auf („Es stellet uns die Welt/ ein solch Theatrum vor/ Auf welchen man sonst nichts/ als Lustbarkeiten siehet“, ebd., Bd. 1, Vorrede, unpag. [S. 2]), um sodann den Tod selbst zum Spielleiter zu erklären: „Hier stellet ebenfalls der Todt/ ein Schauspiel an/ Er geht gantz unvermerckt zu einem und dem andern“ (ebd.). Im dritten Gedicht, einem Sonett, heißt es schließlich über diesen „Schau-Platz“:

„Am meisten wird der Todt auff selben auffgeführet Der Fälle finden sich so gar viel iederzeit/ Und die begeben sich hier und auch anderweit/ So wunderlich wird nun in dieser Welt agiret.“ (ebd., Bd. 1, Vorrede, unpag. [S. 4])

Die „Fälle“, die in der Vorrede auch als ‚Exempla‘ oder ‚Historien‘ bezeichnet werden, findet Misander in unterschiedlichsten Quellen, andere Autoren übernehmen sie von ihm oder anderen Überlieferungsträgern. So entstehen Erzählstränge, die durch Variationen, Adaptionen, Übersetzungen, Hinzudichtungen von der nüchternen Form der Chronik oder species facti entfernen und nach Literarisierung oder Fiktionalisierung streben. Exakte Überlieferungswege solcher Wandergeschichten und Sensationsanekdoten wären erst auf Grundlage einer komparatistischen Datenbank zu rekonstruieren, die derzeit nicht einmal in Anfängen existiert. Es ist aber davon auszugehen, dass nicht nur die prominenten Causes célèbres et intéressantes (1735-1743) des französischen Juristen François Gayot de Pitaval Autoren wie Meißner, Schiller oder E.T.A. Hoffmann als Quellenfundus für eigene Kriminalerzählungen diente. Theatra des 17. Jahrhunderts, die selbst zu den Vorlagen Pitavals zählen könnten, kommen dafür ebenso in Frage. Liegen einzelne Überlieferungsketten erst einmal vor, wie sie jetzt anhand von Karl Müchlers Kriminalgeschichten (1792) versuchsweise rekonstruiert wurden (siehe Müchler, Košenina 2011, S. 255, 270), lässt sich der Prozess der Literarisierung und damit der changierende Übergang von res facta zu res ficta exemplarisch belegen.

Auch Außenseiter wie Misander, alias Johann Samuel Adami, sind an einem solchen ‚literarischen Feld’ zu beteiligen – selbst in der untergeordneten Funktion des Zwischenträgers. Das folgende Beispiel, mit der sich eine juristische Fallgeschichte Ferdinand von Schirachs aus dem Jahre 2010 unmittelbar verknüpfen lässt, mag verdeutlichen, dass die meist nur aus bloßen Aufzählungen bestehenden 950 Kapitel immer wieder auch kurze Prosatexte enthalten, denen man literarische Züge nicht absprechen kann. Die Geschichte, die Misander aus Martin Zeillers Theatrum Tragicum (1628) übernimmt, handelt von einem Pfarrer, der von seiner Ehefrau systematisch drangsaliert wird, bis er sie schließlich im Affekt erschlägt:

„Ein kläglicher Fall hat sich vor Zeiten in der untern Pfaltz zugetragen/ indem ein Pfarrer ein stutzig/ eigensinnig Weib gehabt/ so ihme/ ihrem Manne/ im geringsten nichts wollen nachgeben. Unter andern merckt er einsmahls/ daß sie ihme seine Studier-Stuben wolte räumen/ fegen oder butzen lassen; welches er/ wegen seines Catharrs oder Schnuppens/ und Haupt blödigkeit/ ihr zu thun verboten. Da er aber ausgehet/ thut sie es gleichwohl. Als er nun heimkömmt/ und das siehet/ so nimmt er das vorige/ indem er sich ergrimmet/ zu dem ietzigen/ erwischt ein Beil/ und hauet sein eigen Eheweib in etliche Stücke/ steckt dieselbe in einen Sack/ und macht sich damit auff Creutzenach zu. Als er sich nun über das Wasser/ die Nahe genannt/ führen läst/ und das Blut durch den Sack rinnet/ vermeint der Schiffmann/ weil es eben um die Herbstzeit war/ es wären rothe Trauben/ und fraget/ was er damit machen wolle? Sie würden zerdrückt. Der Pfarrer antwortete: Es wären keine Trauben/ sondern seiner Frauen die er zerhauen/ Kopff und Stück/ er wolle sie nach Creutzenach tragen. Der Schiffmann erschrickt/ zeigt es an: wiewohl es der Pfarrer selbsten thun wollte. Er wird gefangen/ und ob man schon gerne seiner/ als sonsten eines frommen Mannes/ verschonet hätte/ so hat man doch nicht anders gekunt/ als dass man ihme den Kopf abgeschlagen hat.“ (Adami, Bd. 1, S. 757f.)

Die knappe Geschichte, die den Topos der ‚bösen Frau’ bedient (siehe Roßbach), geht über eine spröde juristische species facti deutlich hinaus. Mit der nüchternen Aussparung von Handlungsmotivationen ähnelt sie viel eher Johann Peter Hebels grotesk unterkühlten Kalendergeschichten vom Zundelfrieder und Zundelheiner. Der nichtige Anlass eines gegen die ausdrückliche Anweisung gereinigten Zimmers lässt nur ahnen, welche alltäglichen Verletzungen das stutzige, eigensinnige Weib ihrem Ehemann über die Jahre und Jahrzehnte zugefügt haben muss. Anders ist nicht zu erklären, dass dieser ruhige, „fromme“ Pfarrer ohne jede Vorwarnung „sein eigen Eheweib in etliche Stücke“ haut. Der Kontrast zwischen dieser plötzlichen, höchst grausamen Tat und der aus nur sechs knappen Worten bestehenden Tatschilderung innerhalb einer Aufzählung könnte größer kaum sein. Noch erschütternder ist die Entsorgung der Leichenteile in einem Sack, aus dem das noch frische Blut sickert.

Wenn es im spannendsten Teil um die fast zufällige Aufklärung des Verbrechens geht, wechselt der Erzähler in die lebendigere und unmittelbarere Form des (in indirekter Rede geführten) Dialogs. Auf die arglose Nachfrage des Fährmanns nach den mutmaßlichen Trauben in dem Sack erwartet der Leser eine geschickte Ausrede des Delinquenten. Völlig überraschend ist der Pfarrer aber sogleich geständig, schließlich wollte er sich in Bad Kreuznach ohnehin selbst anzeigen. Damit wird das Strafbedürfnis des Lesers, der durch die Titulierung des Opfers als „stutzig/ eigensinnig Weib“ bereits von Anbeginn positiv für den Täter eingenommen ist, schlagartig vermindert. Der Rezipient teilt ein gewisses Wohlwollen mit der Justiz, die gleichwohl die Exekution veranlassen muss – „hat man doch nicht anders gekunt“ heißt es wie zur Rechtfertigung, dass die Gesetze überhaupt angewendet wurden. Nur aufgrund der suggestiven Erzählweise bleibt so bis zum Schluss ein seltsames Mitleid für den grausamen Mörder erhalten, das in der Sache unangemessen und nicht zu begründen ist.

Ganz ähnlich funktioniert mehr als 300 Jahre später eine kurze Verbrechenserzählung des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach, die sich im Unterschied zu Misander keinen dokumentarischen Quellen, sondern der anwaltlichen Praxis verdankt. Fähner, so der Name des Titelhelden, leidet fast 50 Jahre in der Ehe mit einer zankhaften, launischen Frau. Fähner schweigt zu allem, was er ertragen muss. Eines Tages, er ist inzwischen 72 Jahre alt, brüllt seine Frau in den Garten hinaus, „er habe schon wieder vergessen, das Fenster im Gästezimmer zu schließen, er sei einfach nur ein Idiot. Ihre Stimme überschlug sich. Blankes Metall“ (von Schirach, S. 14). Nachdem man kurz aus retrospektivem personalem Blickwinkel erfahren hat, was dieser nichtige, keineswegs neue Vorwurf in Fähner ausgelöst haben mag, wechselt die Erzählperspektive in die kühle, distanzierte Sicht eines forensischen Tatbeobachters (der sein Wissen freilich dem Verhör oder Geständnis des Delinquenten verdankt):

„Als sie die Tür öffnete, nahm Fähner wortlos die Baumaxt von der Wand. Sie stammte aus Schweden, handgeschmiedet, sie war eingefettet und ohne Rost. Ingrid verstummte. Er trug noch die groben Gartenhandschuhe. Ingrid starrte auf die Axt. Sie wich nicht aus. Bereits der erste Schlag, der ihre Schädeldecke spaltete, war tödlich. Die Axt drang mit abgesplitterten Knochenstücken weiter bis in das Gehirn, die Schneide teilte ihr Gesicht. Noch bevor sie zu Boden fiel, war sie tot. Fähner hatte Mühe, die Axt aus ihrem Schädel zu hebeln, er stellte seinen Fuß auf ihren Hals. Mit zwei wuchtigen Hieben trennte er den Kopf vom Rumpf. Der Gerichtsmediziner verzeichnete später siebzehn weitere Schläge, die Fähner benötigte, um Arme und Beine abzutrennen.“ (ebd., S. 15)

Ebenso schockierend wie die Schilderung des Tathergangs ist der Blick auf den Verbrecher unmittelbar nach dem Blutbad. Er bekommt Hunger, wäscht sich, kleidet sich an, ist völlig ruhig, verständigt die Polizei mit den kargen Worten: „Ich habe Ingrid klein gemacht. Kommen Sie sofort.“ (Ebd., S. 15f.) Wie im Fall aus dem Theatrum Tragicum reagiert das Publikum mit Sympathie und Mitleid: „Jeder bedauerte Fähner, jeder ergriff für ihn Partei.“ (ebd., S. 16) Die Strafe fällt entsprechend milde aus: drei Jahre Haft, verbüßt im offenen Vollzug.

4. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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4.1. Quellen
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  • Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. Nachdr. der Ausgabe Hamburg 1656. Hildesheim, New York 1975, S. 103-106 [opac]
  • Karl Müchler: Kriminalgeschichten. Aus gerichtlichen Akten gezogen. Mit einem Nachwort hg. v. Alexander Košenina. Hannover 2011, S. 152-154 (Erfassung von Parallelüberlieferungen) [gbv]
  • Alexander Pope: Januarius und Maja. Mit einem Nachwort hg. v. Alexander Košenina. Hannover 2011, S. 26 [opac]
  • Jacob Heinrich Reinhold: [Ermittlungsbericht], in: Christiane Karoline Schlegel: Düval und Charmille. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen (1778). Mit dem Ermittlungsbericht des Dresdner Kriminalfalls von 1777 und einem Nachwort hg. v. Gaby Pailer. Hannover 2011 [opac]
  • Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe, Bd. 16: Erzählungen. Hg. v. Hans Heinrich Borcherdt. Weimar 1954, S. 4 [opac]
  • Ferdinand von Schirach: Fähner, in: Verbrechen. Stories. Zürich 2010, S. 7-19 [gbv]
  • Christiane Karoline Schlegel: Düval und Charmille. Ein bürgerlich Trauerspiel in fünf Aufzügen. Von einem Frauenzimmer. Leipzig 1778 [gbv]
  • Christian Thomasius: Von der Artzeney Wider die unvernünfftige Liebe und der zuvorher nöthigen Erkäntnüß Sein Selbst. Oder: Ausübung der Sitten Lehre. Halle 1696, S. 456-488 (14. Hauptstück) [opac]

4.2. Forschungsliteratur
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  • Anonym: [Rezension zu Schlegels Düval und Charmille], in: Anhang zur Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Bd 25-36 in 6 Teilbden. Bd. 2 (1774), S. 708f. [gbv]
  • Wolfgang Harms (Hg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Tübingen 1985, Bd. 1, S. 240f. (Nr. I, 112) [opac]
  • Alexander Košenina: Anthropologische Kriminalfallgeschichte. Karl Müchlers Diebstahl aus kindlicher Liebe und Goethes Ferdinand-Erzählung, in: Ders., Carsten Zelle (Hg.): Kleine anthropologische Prosaformen der Goethezeit (1750-1830). Hannover 2011, S. 255-270 [gbv]
  • Alexander Košenina: "Alles ohne Hexerei": Verjüngungsmedizin in Kunst und Literatur seit der Frühen Neuzeit, in: Thorsten Fitzon, Sandra Linden, Kathrin Liess, Dorothee Elm (Hg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Berlin 2012, S. 355-376 [gbv]
  • Nikola Roßbach: Der böse Frau. Wissenspoetik und Geschlecht in der Frühen Neuzeit. Sulzbach 2009 [opac]
  • Anja Schonlau: Art. "Syphilis", in: Bettina von Jagow, Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen 2005, Sp. 762-766 [opac]
  • Joachim Telle: Sol und Luna. Literatur- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht. Mit Text- und Bildanhang. Hürtgenwald 1980, S. 189-251 [opac]

4.3. Abbildungsnachweise
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