Grammatica Latina
Aino Kärnä und Lauri Marjamäki. TEI-Kodierung durch Jenny Malinen

Inhaltsverzeichnis

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  1. Überlieferung
    1. Standort der ersten autorisierten AusgabeDie Erstausgabe liegt als moderne Edition von Heinrich E. Bindseil (1854: Sp.245-336) vor. :
    2. Weitere Ausgaben und Überarbeitungen (in Auswahl)
  2. Verfasser
  3. Inhalt
  4. Kontext und Klassifizierung
  5. Rezeption
  6. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
    1. Quellen
    2. Literatur

1. Überlieferung[arrow up]

Der Erstdruck der Grammatica Latina Philippi Melanchthonis erfolgte 1525 in Hagenau bei Setzer ohne Zustimmung des Autors. Im Jahr darauf wurde die Grammatica Latina dann ebendort mit seiner Einwilligung gedruckt. Darüber hinaus kam sie in Wittenberg bei Josef Klug und in Nürnberg bei Johann Petreius unter dem Namen Elementa latinae grammatices heraus. Auch bei Josef Klug, Johann Soter (Köln), Johann Knobloch (Strassburg), sowie Nicolaus Faber (Leipzig, 1531) trug sie diesen Namen (neben Grammatices Latinae Elementa). Im Jahr 1527 druckte Petreius sie nochmal in Nürnberg mit dem ursprünglichen Titel. Weitere Ausgaben folgten in rascher Folge in zahlreichen Offizinen im deutschsprachigen Raum.

Auch in anderen Teilen Europas hatte die Grammatik sofort Erfolg: In Paris wurde sie bereits 1526 und danach noch mehrmals bei Robertus Stephanus (Robert Estienne) publiziert. In Antwerpen erschien sie bei Michael Hillenius Hoochstratanus im Jahr des Erstdrucks. Insgesamt sind in den Niederlanden 12 Auflagen nachweisbar.

Die Syntax wurde zunächst separat in Hagenau 1526 veröffentlicht, und auch später erschien sie mitunter gesondert, meist aber zusammen mit dem morphologischen Teil.

Diese Grammatik hatte eine außerordentlich lange Druckgeschichte. Sowohl inhaltlich als auch dem Umfang nach wurde sie bis zur gänzlichen Umgestaltung bearbeitet. Einige Editionen, wie die von Jacob Micyllus 1 (1540 und mehrmals) und Joachim Camerarius 2 (1550 und öfter), die von Melanchthon selbst angeregt wurden, blieben dem ursprünglichen Grundgedanken treu und behielten z.B. die Definitionen Melanchthons bei. Zugleich brachten sie erhebliche Erweiterungen und zusätzliche Beispiele. Dies trifft weitgehend auch auf die von Johannes Faber (1602 und öfter) herausgegebenen Ausgaben zu.

Die von Erasmus Schmidt LINK besorgten Ausgaben dagegen weisen grundlegende Änderungen auf. Sie brachten so viele Anregungen und Zusätze aus anderen grammatikographischen Richtungen, dass es angebracht ist, diesen Text gesondert vorzustellen.

Die oben angeführten Ausgaben weiteten den Stoff der Grammatica Latina aus. Dagegen ist die von Lucas Lossius 3 1544 herausgegebene erotematische Ausgabe im Stil von Donatus‘ ars minor. eine vereinfachte, auf Anfänger zugeschnittene Fassung. (Zur Druckgeschichte vgl. v.a. Bindseil 1854: 193ff., Hartfelder 1889: 266, Jensen 1997: 95-99.)

1.1. Standort der ersten autorisierten Ausgabe 4 :[arrow up]

1.2. Weitere Ausgaben und Überarbeitungen (in Auswahl)[arrow up]

2. Verfasser[arrow up]

Philipp Melanchthon wurde 1497 in Bretten geboren. Sein Vater Georg Schwarzerd starb, als Philipp 10 Jahre alt war. Der Junge kam nach Pforzheim auf die Schule, wo er von Georg Simler 5 in die lateinische und griechische Sprache eingeführt wurde. Der Großonkel Johann Reuchlin nahm sich der Bildung des jungen Philipp an und schenkte ihm eine griechische Grammatik, die ihn später zur Herausgabe einer eigenen Grammatik bewog. Reuchlin gab seinem Großneffen auch den Namen, unter dem er später berühmt werden sollte.

Mit knapp 13 Jahren immatrikulierte sich Melanchthon an der philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg und machte 1511 dort sein Bakkalaureat. Den Schwerpunkt seiner Studien machten nach den damaligen Anforderungen Grammatik, Philosophie und Logik aus. Zwischen 1512 und 1518 studierte er in Tübingen, gehörte mit seinem Pforzheimer Lateinlehrer Georg Simler und Johann Hiltebrant sowie Heinrich Bebel und Jakob Heinrichmann zu dem Tübinger Kreis von Humanisten. Nach zwei Studienjahren wurde er ­zum Magister der Freien Künste promoviert. Er unterrichtete die jüngeren Scholaren in Latein und Griechisch, während er selber Mathematik, Theologie und Jura studierte. Auch hatte er 1514-1516 eine Stelle als Korrektor in der angesehenen Offizin von Th. Anshelm inne.

Nach Heinrich Bebels Tod (1518) wurde Melanchthon zunächst sein Nachfolger. Doch erhielt er bereits im selben Jahr den Ruf nach Wittenberg, wo er über vierzig Jahre als Professor wirkte. Dort wurde er Martin Luther Mitstreiter im Kampf für die Kirchenreform.

Philipp Melanchthon ist besonders in der evangelisch-lutherischen Welt als bedeutender Theologe und Reformator bekannt. Er hat ein sehr umfangreiches theologisches Schrifttum hinterlassen und war außerdem einer der einflussreichsten pädagogischen Neuerer seiner Zeit. Er befasste sich mit Universitätsreformen, Prüfungsordnungen, Lehrplänen, Schulordnungen und ˗gründungen. Nicht zuletzt kennt man ihn aber als ‚Praeceptor Germanie‛, Lehrer Deutschlands. Der überaus produktive Philologe und Pädagoge hat neben eigenen Lehrbüchern zur Rhetorik und Dialektik, Philosophie und Geschichte auch Lehrwerke anderer Autoren herausgegeben und mit einem Vorwort versehen. Im vorliegenden Kontext sind seine griechische und lateinische Grammatik von Belang und im Folgenden soll seine Lateingrammatik im Mittelpunkt stehen.

3. Inhalt[arrow up]

Das Vorwort des Herausgebers Chilianus Goldstein (datiert in Wittenberg im Januar 1525) hebt hervor, wie gut sich das Lehrbuch für den elementaren Privatunterricht eignet. Anders als viele Vorgängergrammatiken es taten, wolle man so dem Widerwillen der Schüler gegenüber der Grammatik entgegenwirken und daher werde alles einfach und folgerichtig präsentiert.

In der kurzen Einleitung definiert Melanchthon die Grammatik als „certa loquendi et scribendi ratio“ (Lehre über richtiges Sprechen und Schreiben). Als ihre Teile werden die Orthographie, die Prosodie, die Etymologie (d.h. die Formenlehre) und die Syntax genannt (A3r). Diese Einteilung – obgleich in unterschiedlicher Reihenfolge – ist bereits aus mittelalterlichen Texten, u.a. aus dem Catholicon bekannt, und wir treffen sie in vielen Grammatiken des 15. Jahrhunderts, u.a. bei Zenders de Wert, an.

Nach einer sehr knappen Behandlung der Rechtschreibung, die aus der Aufzählung der Vokale (mit einigen Hinweisen zu ihrer Aussprache) und Konsonanten (darunter die ‚mutae, semivocales und liquidae‛) besteht, fängt unter der Überschrift ‚De Etymologia‛ die Darstellung der Morphologie an. Die Besprechung der Wortarten und ihren Akzidentien folgt dem aus der Antike tradierten Modell, und zwar nach dem Vorbild von Donatus: ‚Nomen, Pronomen, Verbum, Adverbium, Participium, Coniunctio, Praepositio, Interiectio‛. 6

Um die Schüler nicht mit grammatischen Wissen zu überlasten, versieht Melanchthon jede Wortart mit einer knappen, semantisch begründeten Definition, die den Kern dieser ‚pars orationis‛ zusammenfasst. Deswegen unterscheiden sich seine Definitionen von den traditionellen, aus der Antike stammenden Begriffsbestimmungen, die die Wörter möglichst umfassend charakterisierten und demnach sowohl semantische, formale als auch distributionelle Eigenschaften umfassten.

Das mit Abstand ausführlichste Kapitel ist das Nomen. Die Definition der Nomina unterscheidet sich von den überlieferten Charakteristiken, in denen meist das Vorhandensein der Kasus und das Fehlen des Tempus erwähnt wurde: ‚cum casu sine tempore‛. 7 Melanchthons Definition sondert zwar ebenfalls die Nomina von den Verben, aber allein durch die semantische Bestimmung, es seien Wörter, die eine Sache, keine Tätigkeit bezeichnen (‚que rem significat, non actionem‛). Die Nomina werden in Eigennamen (‚Propria‛) und Gattungsnamen (‚Appellativa‛) unterteilt. Die letzteren zerfallen wiederum in Substantive und Adjektive. Für diese Unterteilung greift Melanchthon auf die Methode zurück, die bereits in den Grammatiken des 15. Jahrhunderts (vgl. Compendium octo, Exercitium puerorum grammaticale) gebraucht wurde, nämlich die „Probe per Muttersprache“. Demnach sei das Substantiv ein Wort, zu dem man das Wort ‚man, wyb, ding‛ nicht hinzufügen kann (wie ‚campus‛). Das Adjektiv hingegen sei ein Wort, bei dem der Zusatz möglich ist (wie ‚albus‛).

Es folgt eine Liste der Akzidentien des Nomens: ‚comparatio, genus, figura, casus‛ und ‚declinatio‛. 8 Die Komparation kommt laut Melanchthon denjenigen Nomina zu, deren Bedeutung sich vergrößern oder verkleinern lässt. Sie wird recht ausführlich dargestellt, und zwar zunächst die regelmäßigen Formen und danach die unregelmäßigen. Eine Reihe von Beispielwörtern mit ihren Komparativ- und Superlativformen erläutern den Sachverhalt. Auch einige Präpositionen werden kompariert: ‚extra, exterior, extimus‛. Es fällt auf, dass im Abschnitt über die Komparation der Terminus ’Adjektiv’ nur einmal vorkommt, obgleich die Nomina anfangs in Substantive und Adjektive aufgeteilt wurden. Das Kapitel schließt mit der Bemerkung, man bei der Bildung der Komparationsformen solle man dem ‚usus‛ der Autoritäten Beachtung schenken ([A6v]).

Das Genus folgt, und zwar in den ersten Ausgaben sind es: ‚masculinum, foemininum, commune, omne‛, ‚ἐπίκοινον‛bzw. ‚promiscuum‛ und ‚dubium‛. In der Auflage 1526 fehlt das Neutrum in dieser Liste, es wird aber im Text behandelt. 9

Anschließend werden Regeln zur Genusbestimmung angeführt, etwa: „Virorum, officiorum virilium, mensium, ventorum, fluviorum nomina sunt masculini.“ Auffallend ist, dass bei den Monatsnamen nicht nur die Etymologie des lateinischen Ausdrucks, sondern auch die (alten) deutschen Entsprechungen und etymologische Hinweise gegeben werden: „Ianuarius Ienner a Iano, cui erant rerum principia dicata, Februarius Hornung, Martius a Marte Mertz. Junius, Brachmon, à Junone. Julius, Heumon, à Julio Caesare“ usw. ([A7r]) – Die gleichen Interpretamente finden sich ebenfalls in den Grammatiken von Heinrichmann (1506: [b6r]), und Brassicanus (1508: C3r).

Die Zahlwörter werden an dieser Stelle angeführt, da sie Beispiele für Wörter mit dem ‚Genus omne‛, also Wörter mit beliebigem Geschlecht darstellen. Die Numeralien nach den drei ersten erhalten darüber hinaus die Überschrift ‚Indeclinabilia‛.

Im Kapitel ‚Regulae speciales‛ folgen eine Aufzählung von Substantiven nach dem Auslaut (A, E, I, O, U, C usw.) und die Bestimmung ihres Geschlechts, wobei auch zahlreiche Ausnahmen genannt werden. (B2v-C2v)

Der Numerus, der in der obigen Aufzählung der Akzidentien fehlt, wird im Text behandelt und es heißt dazu ganz kurz: „Singularis ut hic Caesar, Pluralis ut hi Caesares. Neq. uel ratio, uel usus uetat & propria nomina pluraliter efferri, ut hi Philippi.“ Die ‚figurae‛, die bei Melanchthon vor allem Präfixkomposita umfasst, werden knapp abgehandelt. Dort heißt es nämlich lediglich: „Simplex ut aptus, Compositae ut ineptus“. Dazu die Notiz, dass dabei eine Lautveränderung stattfinden kann: ‚amicus, inimicus‛ (C2v).

Melanchthon führt nach dem antiken Vorbild sechs Kasus an: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Vokativ und Ablativ. Zum letztgenannten fügt er den Hinweis hinzu, dass es auch der lateinische Kasus genannt wird, da ihn die Griechen nicht hatten. Diesen kurzen Bemerkungen folgt eine ausführliche Behandlung der fünf Deklinationen mit vielen Beispielparadigmen, wobei die Beispielwörter nach ihrem Endbuchstaben gruppiert sind. Zahlreiche griechische Wörter werden hier mitberücksichtigt. Als nächstes werden Ausnahmefälle der Numerusbildung behandelt: ‚De Anomalia in Numeris‛. Darunter werden die ‚singularia tantum‛ und ‚pluralia tantum‛ besprochen, nach ihrem Genus gruppiert (F1r-F3r).

Noch ein Akzidens, das in der Liste am Anfang fehlte, findet hier seinen Platz, nämlich die Spezies, womit im priscianischen Sinn die Wortbildung gemeint ist. Dazu will der Autor laut eigener Aussage wenig sagen, um den Jungen keine Umstände zu machen (F4r). Und tatsächlich gibt es dazu nur eine Seite Text, wo die Wortbildungsmuster ‚Possessiva, Denominativa, Diminutiva, Patronymika‛ usw. lediglich genannt und mit einem Beispielwort illustriert werden. Bevor der Übergang zur nächsten Wortklasse erfolgt, stehen hier nochmal die Numeralien, die dekliniert werden, ‚unus, duo‛. (F5r).

Als nächstes sind die Pronomina an der Reihe. Ihre überlieferte Definition 10 taugte nicht für Melanchthon; er gibt ihnen stattdessen eine funktionsbezogene Definition, die besagt, dass sie gebraucht werden, um auf Sachen hinzuweisen, wenn es nicht angebracht ist, ein Nomen zu gebrauchen. „Pronomen est vox, qua utimur in demonstranda aut repetanda re, cum nomine uti non erat commodum.“ (F5v). Die Akzidentien des Pronomens sind – leicht abweichend von sowohl Donatus als auch Priscianus 11 – ‚species, significatio, genus, numerus, figura, persona‛ und ‚casus‛. Melanchthons Zusatz ist die ‚significatio‛. Melanchthon zählt folgende Pronomen auf: ‚ego, tu, sui, ille, iste, ipse, hic, is, quis, qui, meus, tuus, suus, noster, vester, nostras, vestras‛. Eine Aufzählung also, die Unterschiedliches zusammenführt.

Die Subklassen bzw. Spezies der Pronomina sind: ‚Primitiva, demonstrativa, relativa, reciprocae, interrogativa, possessiva‛ und ‚gentilia‛.

Die Deklination der Pronomina sei aus dem Donat zu lernen, den die Knaben stets zur Hand haben sollten. Am Ende dieses Kapitels streift Melanchthon den Artikel, und weist darauf hin, dass er im Lateinischen fehlt, im Deutschen und im Griechischen aber vorhanden ist. Deswegen sei es verfehlt, ihn im Lateinischen wie im Deutschen zu gebrauchen. Melanchthon überträgt es dem Lehrer auf diese Problematik einzugehen und kritisiert die Grammatiker, die meinen, es gäbe einen Artikel auch im Lateinischen (F7r-v).

Das Verb erhält eine umfangreiche Behandlung von 25 Seiten. Es wird als eine Wortart definiert, die Tun oder Erleiden ausdrückt (‚vox significans agere aut pati, ut verberare actio est‛) (F7v) – eine Definition, die ihre Wurzeln bereits in der antiken griechischen Tradition hat. 12

Die Akzidentien des Verbs sind ‚genus, species, tempus, modus, figura, persona, numerus & coniugatio‛. Diese werden dann in der genannten Abfolge besprochen: die Genera mit den Kategorien Aktiv, Passiv, Neutrum und Deponens; die Spezies ‚Frequentativa, Meditativa, Diminutiva‛; die fünf Tempora ‚Praesens, Praeteritum imperfectum, Praeteritum perfectum, Praeteritum plusperfectum, Futurum‛. Die Tempora werden mit deutschen Beispielen erläutert: „ich kom, ich kam, ich byn kommen, ich war kommen, ich wird kommen“ (G2v).

Die Modi ‚indicativus, imperativus, optativus, subjunctivus‛ werden als nächstes besprochen. Unter diese Überschrift fallen auch der Infinitiv, das Gerundium und das Supinum. Wie beim Nomen, werden auch beim Verb die Wortbildungsmuster Simplex und Kompositum unterschieden. Die Akzidentien Person und Numerus werden erwähnt, aber ihre Behandlung fällt knapp aus im Vergleich zu den Konjugationen, die sehr ausführlich behandelt und mit Beispielen erläutert werden. Auch hier folgt Melanchthon dem Prinzip, die Beispielwörter nach ihrem Auslaut zu ordnen.

Die nächste Wortart, das Partizip wird definiert als Verbalsubstantiv, das das Tempus mit bezeichnet „nomen verbale significans tempus“ (I4v). Dazu werden die Akzidentien ‚genus, numerus, figura, casus, tempus‛ und ‚significatio‛ angeführt. Zum letztgenannten warnt er die Schüler, man müsse genau auf den Unterschied der aktiven und passiven Partizipien achten, weil hierbei oft Fehler unterliefen.

Zum Adverbium liefert Melanchthon eine innovative Definition, die hernach in fast alle Lateingrammatiken Eingang fand und später auch in die deutschen Grammatiken übernommen wurde: Als Adverb wird ein Wort genannt, das den Umstand eines Tuns oder Leidens mit einem Wort ausdrückt: „Adverbium vocarunt, quod actionis aut passionis circumstantiam una voce effert, ut, dicit graviter, venit propere. Ideoque adverbium vocarunt, quod verbum circumstantiam adiiciat.“ ([I6v]). 13

Die Akzidentien des Adverbs sind: ‚Species, figura, comparatio, significatio‛. Bedeutungen gibt es nach Melanchthon viele, und diese rühren aus den unterschiedlichen Umständen der Tätigkeiten her: „Significationis multa capita sunt, cuius vim ita recte poterit pervidere puer, si cogitabit illam varietatem significationis ex varietate circumstanitiarum in actionibus nasci. Nam tempus, locu, quantitas, qualitas, nihil sunt nisi actionum circumstantiae.“ Bei Melanchthon liegen keine ausführlichen Listen der Adverb-Bedeutungen vor, wie sie in den früheren Lateingrammatiken zu finden waren, denn er meint, es erübrige sich diese zu wiederholen, da sie Donatus behandelt habe. Ganz besonders mahnt er die Schüler, die Lokaladverbien sorgsam einzusetzen, zumal es bei deren Verwendung oft zu Fehlern komme ([I7r]).

Die Präposition vergleicht Melanchthon mit einem ‚articulus‛ (im Sinne eines Gelenkes oder Verbindungsstückes), da sie das Verb mit dem Nomen verknüpft. Der Autor nimmt an, dass die Präpositionalkonstruktionen in der Regel aus Donatus gelernt werden können, aber dass sich aus den verschiedenen Kasus so viele unterschiedliche Bedeutungen ergeben, dass sie nicht in Regeln erfasst werden können, sondern am besten beim Lesen und Schreiben gelernt werden sollten. Die Präpositionen werden anschließend je nach den unterschiedlichen Kasus, den sie verlangen (Akkusativ, Ablativ), aufgezählt und mit Beispielen erläutert. ([I8r] – K2v)

Melanchthon definiert die Konjunktionen als Wörter, die mit unmittelbar vorausgehenden Sätzen oder deren Teilen andere Sätze oder Satzteile verbinden: „Coniunctio est, qui subinde superioribus sententiis alias connectit.“ (K2v). Ihre Akzidentien sind ‚figura, potestas & ordo‛. Er sagt, es gebe sieben Bedeutungstypen, aber führt ihrer acht auf: ‚copulativa, disiunctivae, aduersativae, causales, collectivae, ordinis, approbativae und completiva‛. Von den letztgenannten stellt er allerdings fest, es seien solche, die nicht wegen ihrer Bedeutung, sondern wegen des Schmuckes (‚ornatus gratia‛) gebraucht werden, ein Gesichtspunkt, der bereits in der griechischen Tradition vorkommt.

Das kurze Kapitel über die Interjektionen, das den morphologischen Teil beendet, bringt lediglich eine Aufzählung von ihren Bedeutungstypen: Verwunderung, Schmerz, Furcht und Entrüstung.

Die Syntax ist zuerst separat, in Ausgaben nach 1526 jedoch meist im Anschluss an den morphologischen Teil erschienen. Ihr Gegenstand wird als Lehre vom richtigen Zusammenfügen von Sätzen und Wörtern bestimmt (‚ratio contexendae orationis et coniungendarum vocum‛). Die Satzlehre verfolgt ein praktisches Ziel: den Schülern im Sinne des Humanismus zu einem klaren und eindeutigen sprachlichen Ausdruck zu verhelfen.

Das erste Kapitel befasst sich mit der Nominalsyntax: mit Verbindungen von mehreren Nomina untereinander (Substantive, Adjektive aber auch Pronomina). Darauf folgt die Syntax des finiten Verbs mit dem Nominativ. Diese gliedert Melanchthon in regelmäßige (‚cum nominibus certa quadam ratione verba agmentantur‛) und unregelmäßige Fälle. Letztere bespricht er als ‚figurae ab analogia‛. Dazu gehören etwa die Pluralformen der Verben bei ‚singularia tantum‛. Anschließend geht die Betrachtung auf die Syntax von obliquen Kasus mit finitem Verb über. In den acht Regeln hierzu geht Melanchthon teils von der Bedeutung des finiten Verbs, teils von der des Kasus aus. Mitunter erinnert er an die Forderung der Idiomatizität: dass man ‚verba activa‛ (d.h. transitive Verben) und Akkusative nicht willkürlich, sondern nur im Einklang mit der ‚ratio‛‚φράσεως‛ verbinden sollte. ([A8v]) Die Terminologie wird aus stilistischen Gründen variiert, was bisweilen einen uneinheitlichen Eindruck macht: für Kongruenz wird sowohl ‚cohaerere‛ als auch ‚consentire‛ gebraucht; ‚adsciscere‛ darf mal für Kongruenz, mal für Rektion stehen.

Nach der Behandlung der einzelnen Kasus werden Regeln für die Rektion von Infinitiven, Gerundien und Supina angegeben. Hierbei erwähnt Melanchthon den Streit über die Gerundien [‚Gerundiva‛], die nicht denselben Kasus wie das Finitum regieren. Er meint, sie gehörten – so sei die üblichere Auffassung unter Grammatikern – zu den Partizipien, da diese Erklärungsweise auch den Schülern leichter nahezubringen sei (B4r). Das Kapitel schließt mit Zeit- und Maßangaben, wobei die Verben des Handelns und des Veranschlagens eine eigene Regel erhalten. Als eigenes Kapitel folgen dann die Kasus der Ortsbezeichnungen. Danach wird der Gebrauchsunterschied von Kardinal-, Ordinal- und Distributionszahlen erläutert, auch mit Hilfe deutschsprachiger Übersetzungen. Die ‚verba impersonalia‛ werden zuerst in ihrer passiven, dann in ihrer aktiven Konjugation vorgestellt, worauf ihre Syntax mit verschiedenen Kasus oder mit einem Infinitiv folgt. Dabei kommt auch ein kontrastiver Aspekt mit ins Spiel: Melanchthon vergleicht die ‚legitur‛-Form, die normalerweise kein Akkusativobjekt hat, mit den deutschen und griechischen Entsprechungen. ([B8v])

Die übrigen Wortarten, Partizipien (darunter der ‚ablativus absolutus‛), Adverbien, Konjunktionen, Präpositionen und Interjektionen werden knapp besprochen; für die Adverbien und Präpositionen merkt Melanchthon an, sie seien bereits in der Morphologie behandelt, ‚in etymologia recensui‛. Bei der Besprechung der Konjunktionen werden verschiedene Bedeutungen von ‚ut‛ kurz erläutert. Darunter finden sich zwei Beispielsätze zum Tempusgebrauch [‚consecutio temporum‛].

Der Syntax schließt sich in einigen Auflagen noch ein Kapitel über die Periodenlehre der klassischen Rhetorik an. Melanchthon bedauert die mangelhaften Kenntnisse der Schüler über das Zusammenfügen der Teilsätze (Kola). Er betont, dass ihnen zumindest das Entschlüsseln der klassischen Perioden beigebracht werden sollte, indem man die Wörter einzeln durchgeht und in kleinere syntaktische Einheiten einteilt. Sodann werden zwei Perioden aus Ciceros Werken vorgestellt, die eine durch ‚comparatio‛, die andere durch ‚collatio‛ zusammengefügt, und diese noch in Kola und Kommata zerlegt.

Die Prosodie wird als die Lehre von der richtigen Betonung der Silben (‚accentus‛) bezeichnet. Die Verbindungen von variierenden Silbenlängen ergeben Versfüße (‚pedes‛), aus denen sich unter Einhaltung bestimmter Regeln wiederum Verse aufbauen lassen. Die ersten sieben Regeln geben Auskunft über die Festlegung der Silbenlänge. Darunter finden sich sowohl phonetisch als auch etymologisch begründete Regeln. Diese werden nach der letzten Silbe des Wortes (Überschrift ‚De ultimis syllabis‛) näher präzisiert. Die Ausführung folgt hauptsächlich der alphabetischen Reihenfolge. Auch hier gibt der Autor viele Zitate aus klassischen Quellen, wohl auch mit dem Ziel, die Einprägung der Vokallänge zu erleichtern. Anschließend werden die verschiedenen Versfüße aufgezählt. Dem folgt ein Überblick über die wichtigsten Versmaße, in der Reihenfolge Hexameter (als ‚Metrum Heroicum‛ bezeichnet) – Pentameter – Phaläkischer Vers – Sapphischer Vers – Jambus – Dimeter – Chorjambus. Die Verse werden noch in Versfüße zerlegt und anschaulich mit Beispielen versehen.

Der letzte Abschnitt der Prosodie befasst sich mit der ‚Scansio‛, d.h. mit der Silbenmessung oder -zählung sowie den möglichen Elisionen der Silben. Die Prosodie schließt mit der Bemerkung ab, dass andere Figuren der Metrik durch die Praxis, den Meister aller Disziplinen, gelernt werden sollten.

4. Kontext und Klassifizierung[arrow up]

Die Grammatica Latina muss Aufsehen erregt haben, denn sie unterschied sich schon rein äußerlich stark von den üblichen Grammatiken ihrer Zeit. In den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts hatten viele der Lateingrammatiken noch ein ganz anderes Erscheinungsbild: es waren stattliche Bände oder auch Hefte in Quartformat mit der zu dieser Zeit noch üblichen gotischen Schrift oder der größeren Antiquaschrift. Melanchthons Grammatik dagegen war ein kleines, handliches Büchlein in Oktavformat, das man leicht in die Tasche stecken und mit sich tragen konnte. Die Schrift war eine kleine Kursivschrift, die neue Aldine Type.

Inhaltlich war sie nicht sehr originell: genau wie ihre Vorgänger behandelte sie der Reihe nach die Wortarten mit ihren Formenmerkmalen. Die Grammatiken von Jakob Heinrichmann und Johannes Brassicanus haben wahrscheinlich als Vorlage gedient, aber im Vergleich zu diesen war Melanchthons Lehrbuch auf ein Minimum reduziert. Die Definitionen zu den Wortarten und anderen Begriffen der Grammatik sind mit Absicht einfach formuliert, da es Melanchthons Intention entsprach, den Schülern lange, müßige Erklärungen zu ersparen. Die gegebenen Definitionen für die meisten Wortarten beruhen auf der Semantik, d.h. Melanchthon gibt den Bedeutungsinhalt einer Wortklasse an: dass z.B. die Nomina eine Sache, die Verben ein Tun oder Erleiden bedeuten, die Partizipien Verbalnomina sind, die das Tempus ausdrücken und die Adverbien Umstände angeben. Nur bei einigen Wortklassen ist die Definition funktionsbezogen: die Pronomina werden gebraucht, um die Wiederholung eines Nomens zu vermeiden und die Konjunktionen werden zur Satzverbindung verwendet. Keine Definition ist ausschließlich morphologisch. Dies ist in dem Sinne beachtenswert, da derselbe Autor in seiner griechischen Grammatik (1517) durchweg morphologische Kriterien heranzieht.

Das vorherrschende pädagogische Prinzip der Syntax ist die Einprägung der Regeln durch Beispielsätze. Diese bestehen aus recht anspruchsvollen Zitaten klassischer Autoren. Ähnlich verfährt Jakob Heinrichmann in seinen Institutiones Grammaticae. . Ein Vergleich legt die Annahme nahe, Melanchthon hätte schlicht die weitläufige Satzlehre Heinrichmanns an die Bedürfnisse seiner Schüler angepasst.

Die ursprüngliche Absicht, die Melanchthon mit seiner Grammatica Latina verfolgte, war eine konzise, handliche Lateingrammatik zu verfassen, damit die Schüler, mit dem Grundgerüst der Grammatik ausgestattet, durch die Lektüre antiker Autoren zur klassischen Latinität geführt würden. Diese Absicht haben die Bearbeiter bzw. die nachfolgenden Herausgeber der Melanchthongrammatik manchmal verkannt und unter seinem Namen die unterschiedlichsten Lehrwerke zur Grammatik erscheinen lassen. Einige waren in der katechetischen Form konzipiert – nach dem Muster der ars minor. von Donat –, andere dagegen sehr umfangreich. Auch zweisprachige Grammatiken wurden unter dem Namen des berühmten Pädagogen und Reformators herausgegeben.

5. Rezeption[arrow up]

Der Erfolg der Grammatica Latina ist beispiellos: ihr Siegeszug begann sofort nach ihrem Erscheinen. Sie war über lange Zeit vor allem im protestantischen, aber auch im katholischen Deutschland die meistbenutzte Lateingrammatik der Neuzeit. Allerdings blieb sie nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern erfuhr zahlreiche Bearbeitungen, die z.T. erheblich von der anfänglichen abwichen. Insgesamt kamen bis 1757 über 200 Ausgaben heraus. Auch im Ausland kam dieser Grammatik bzw. ihren Bearbeitungen eine Vorbildstellung zu: In Deutschland sowie in den Ländern Ost- und Nordeuropas wurden Grammatiken herausgegeben, die sich entweder offen zu Melanchthon bekannten, oder seine Grammatik als Vorlage benutzten, ohne explizit auf sie hinzuweisen. Zu letzteren gehört z.B. die Grammaticae Latinae Partes. (1538) Johann Spangenbergs.

6. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur[arrow up]

6.1. Quellen[arrow up]

6.2. Literatur[arrow up]


1 Der Humanist und Pädagoge Jacob Micyllus (1503-1558) zählte zu den Schülern Melanchthons, wirkte 1524-1533 und 1537-1547 zunächst als Lehrer und anschließend als Rektor der Lateinschule in Frankfurt und 1533-1537 sowie ab 1547 bis zum Tod als Professor für Griechisch in Heidelberg. Die Edition von Micyllus bringt im Vergleich zum Original neue Belege mit Quellenangaben.

2 Joachim Camerarius d. Ä. (1500-1574), ebenfalls ein Melanchthonschüler an der Universität Witteberg, war ein Freund Melanchthons, ein angesehener Latinist und Universalgelehrte. Er war Gymnasiallehrer in Nürnberg, 1535-1540 Professor in Tübingen und ab 1541 in Leipzig. Zu seinen Werken gehören neben der Grammatik Schriften zur Mathematik, Astronomie, Geschichte, Theologie und Pädagogik.

3 Der Theologe und Pädagoge Lucas Lossius (1508-1582), war Schüler von Luther und Melanchthon in Wittenberg. Er hat neben Lehrbüchern auch zahlreiche theologische Schriften verfasst.

4 Die Erstausgabe liegt als moderne Edition von ↗Heinrich E. Bindseil (1854: Sp.245-336) vor.

5 Georg Simler hat 1512 eine griechische Grammatik, Isagogicum sive introductorium in literas graecas, herausgegeben. Später war er Professor an der Universität Tübingen.

6 Im Text später ist die Abfolge eine andere, und zwar die des Grammatikers Diomedes (4. Jahrhundert): ‚Nomen, Pronomen, Verbum, Participium, Adverbium, Praepositio, Coniunctio, Interiectio‛. Diese Anordnung wiederspiegelt die Unterteilung der Wortarten in deklinierbare und undeklinierbare.

7 So z.B. Charisius (GL I, 193) und Diomedes (GL I, 320).

8 Der Numerus und die Spezies fehlen in dieser Liste, werden aber im Text behandelt.

9 Die Zahl der Genera war auch in der antiken Grammatik nicht fest, sondern sie schwankte zwischen zwei hauptsächlichen (bei Pricianus GL II, 141,4) drei (Charisius GL I; 15, Diomedes GL I, 301), vier (Donatus 1981, 586) und fünf (Asper, GL V, 549, Probus GL IV, 52 ). ‚Genus commune‛ haben Substantive, die je nach dem biologischen Geschlecht des Bezeichneten als maskulin oder feminin verwendet werden. ‚Genus ἐπίκοινον bzw. promiscuum‛ haben Substantive mit eindeutig festliegendem Genus, die beide biologische Geschlechter bedeuten können. Dazu zählen viele Grammatiker die Adjektive. Das ‚genus dubium‛ ist eine Bezeichnung für Fälle, bei denen unterschiedliche Genera in antiker Literatur verwendet werden. Dieses ‚Genus‛ kommt in den klassischen Grammatiken als solches nicht vor, sondern ist später in die Liste der Genera eingeführt.

10 Vgl. etwa: „Pronomen est pars orationis quae pro ipso nomine posita minus quidem, paene idem <tamen> significat personamque interdum recipit.“ (Diomedes, GL I, 329). Ähnlich auch Donatus, Charisius u.a.

11 Diese Stelle heißt bei Donatus: ‚qualitas, genus, numerus, figura, persona, casus‛. (GL 4, 588) und Priscian: ‚species, persona, genus, numerus, figura, casus‛. (GL II, 577)

12 In der grammatischen Tradition des Lateinischen war es üblicher, das Verb als eine Wortart mit Zeit, Person und Numerus ohne Kasus zu definieren.

13 Die tradierte Definition besagte meistens nur, das das Adverb ein Wort ist, das zum Verb hinzugefügt wird und seine Bedeutung ausfüllt und explziert: ‚aduerbium est pars orationis quae adiecta uerbo significationem eius implet atque explanat‛ (Charisius GL I, 233).

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