Exercitium puerorum grammaticale per dietas distributum
Aino Kärnä

Inhaltsverzeichnis

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  1. Überlieferung
    1. Ausgaben
    2. Weitere Ausgaben (Auswahl)
  2. Verfasser
  3. Inhalt
  4. Kontext und Klassifizierung
  5. Rezeption
  6. Bibliographie

1. Überlieferung[arrow up]

Das Exercitium puerorum kam 1485 in Antwerpen bei Gerard Leeu heraus. Danach kam es 1486 in Gouda, 1488 nochmal in Antwerpen und 1489 in Deventer heraus. In den folgenden Jahren wurde es an deutschen Druckorten Hagenau, Straßburg, Köln, Speyer, Mainz und Leipzig gedruckt. Die letzten Drucke stammen aus dem Jahr 1506 aus Köln, Mainz, Hagenaus und Straßburg. Insgesamt gab es mindestens 22 Ausgaben (Bellmann 1999: 11f.).

1.1. Ausgaben[arrow up]

1.2. Weitere Ausgaben (Auswahl)[arrow up]

2. Verfasser[arrow up]

Diese Grammatik ist dem aus Brabant stammenden Magister Wilhelm Vert zugeschrieben, aber da die Grammatik zunächst anonym erschien, ist der Verfasser umstritten. 5 Über die Biographie dieses Grammatikers ist kaum etwas bekannt. Sogar sein Name erscheint in vielen Variationen. Wilhelm oder Guilelmus, Zenders, Zenderus oder Senders de Wert, de Werdt oder Weert. Das Geburtsjahr ist unbekannt, und das Jahr 1429, das manchmal als Zeitpunkt seines Bakkalaureats angegeben wird, ist in Anbetracht der Erscheinungsjahre seiner Texte zweifelhaft. 6 Ein Scholar mit diesem Namen hat in Löwen und in Paris studiert, und die Texte enthalten Hinweise auf diese Orte, aber ansonsten ist sein Lebenslauf weitgehend unbekannt.

Wilhelm Wert erscheint namentlich als Autor in anderen grammatischen Texten dieser Zeit: im Lilium grammaticae. (ca. 1490) und imOpus minus. (ca. 1490), einem Kommentar zum Doctrinale puerorum. von . Auch das Compendium grammaticale wird ihm zugeschrieben. Als sein Todesjahr wird 1506 verzeichnet.

3. Inhalt[arrow up]

Das Werk besteht aus zwei Traktaten: Der erste befasst sich mit den Wortarten und ihren Formen und der zweite mit der Syntax. Der gesamte Stoff soll in vier Wochen bewältigt werden, und demnach sind beide Teile in zwölf Tagesportionen, ‚diaetae‛, eingeteilt. Die Tagesportionen und die Kapiteleinteilung entsprechen nicht einander, sondern an einem Tag können zwei oder mehr Kapitel behandelt werden, oder umgekehrt kann sich ein Thema, etwa die Verbkonjugation, über mehrere Tage hinausziehen.

Am Anfang steht ein Prolog, der die Wichtigkeit der Grammatik für alle Berufe (‚Oratores, Theologi, Juriste, Medici‛ und ‚Sophiste‛) betont (a1v). Danach nimmt der Autor Stellung zur Didaktik, indem er die die Beschäftigung der ‚pueri‛ mit langatmigen und unverständlichen und unnützen Erklärungen zum Doctrinale verwirft und die italienischen Lehrer lobt, die ihre Schüler gleich nach den elementaren Kenntnissen zu den klassischen Texten führen (a2r).

Dem eigentlichen Text geht die ‚divisio libri‛, eine kurze Inhaltsangabe der einzelnen Kapitel voraus. Am Ende beider Teile steht ein Kolophon, was darauf schließen lässt, dass die Teile auch separat angeboten wurden.

Als erstes wird die Deklination der Pronomen gegeben, worauf die Konjugation regelmäßiger Verben folgt. Der zweite und dritte Tag sind den Genera der Nomina (Adjektiv und Substantiv) gewidmet. Das Exercitium führt drei Genera auf: ‚masculinum, femininum, neutrum,‛ hier weicht dieses Lehrbuch ausdrücklich von Donatus ab, der sieben Genera unterschied. Die Adjektive, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie unterschiedliche Genera haben können, werden anschließend besprochen.

Am vierten und fünften Tag geht es um die Deklination von Feminina, wobei auch Ausnahmen behandelt werden. Am sechsten Tag sind die Deklination der Neutra, der Zusammensetzungen und der Patronyme sowie die Komparation der Adjektive an der Reihe, und der nächste Paragraph behandelt die Heteroklita. Die folgenden vier Tagesrationen behandeln die Verben und ihre Formen. Hier kommt die Muttersprache mit ins Spiel, indem die Vergangenheitstempora in beiden Sprachen verglichen werden. Für unregelmäßige Verben bietet dieses Lehrwerk ausführliche Listen mit muttersprachlichen Interpretamenten.

Der zweite Traktat, der syntaktische Teil, wird ebenfalls mit einem kurzen Prolog und einer Inhaltsangabe eingeleitet (i1r-i2r). Die erste Tagesration bringt Anweisungen zum Übersetzen aus dem Lateinischen in die Volksprache und umgekehrt, „de modo traducendi latinum in vulgare nostrum et econtrario“. Dies geschieht durch Fragen, die die Übertragung bestimmter grammatischer Formen betreffen: „quero tibi que sunt signa vulgaria seu teuthonicalia nominativi casus“, heißt es etwa beim Nominativ. Dazu werden Beispiele geliefert: „Equus currit eyn pherd laufft“ (i2v). Entsprechend werden die weiteren Kasus behandelt. Auch strukturelle Lücken werden festgehalten: dass etwa der lateinische Vokativ im Deutschen keine Entsprechung hat (‚caret signis‛) (i3v).

Als Nächstes werden Unterschiede zwischen den lateinischen und deutschen Tempus- und Modusformen behandelt. Partizipien mit unterschiedlichen Endungen bekommen breiten Raum. Der zweite Abschnitt behandelt Regeln zur Rektion. An mehreren Stellen werden Hinweise zur korrekten Übersetzung gegeben: es soll nicht Wort für Wort, sondern dem Sinn nach übersetzt werden (z.B. l3r). Aus heutiger Sicht kann man diese Stellen als eine frühe lateinisch-(nieder)deutsche 7 kontrastive Darstellung ansehen.

Dann folgt ein Einschnitt, und es wird quasi ein neuer Anfang gesetzt, indem den syntaktischen Regeln allgemeine Bemerkungen zur Grammatik vorangestellt werden: es wird eine Definition der Grammatik gegeben 8 und die vier Teile der Grammatik werden aufgezählt: ‚Orthographia, Ethimologia, Diasynthetica‛ und‚ Prosodia‛ (l3v). Daneben wird hier eine Dreiteilung der Grammatik vorgetragen, wie sie seit dem Mittelalter in grammatischen und rhetorischen Texten, u.a. im Graecismus. vorkommt: ‚grammatica preceptiva, permissiva‛ und ‚prohibitiva‛.

Das dritte Kapitel bringt Regeln zur Kongruenz. Hier gibt der Autor Regeln zur Erkennung von Wortarten. Dafür wird– ebenso wie in dem Compendium octodie Muttersprache herangezogen: „fortis est adiectiuum quoniam ad vulgare ejus potest addi man und wib. ut bene dicitur starck man. starck wib“. 9

Die nachfolgenden syntaktischen Regeln stimmen weitgehend mit den Regeln überein, die seit dem Mittelalter in grammatischen Texten, u.a. im Doctrinale vorkamen. Die erste Regel zur Kongruenz besagt, dass das Adjektiv seinem Substantiv im Genus, Numerus und Kasus folgen muss und die vierte Regel, dass das Relativpronomen dem Genus und Numerus seines Hauptwortes (‚antecedens‛) folgen muss. Das alles wird an Hand von Beispielsätzen eingeübt. Dabei gibt unser Autor aber auch Stellen aus der Bibel und aus antiken Texten, die von dieser Regel abweichen.

Die Darstellung der restlichen Wortarten, Adverb, Konjunktion, Präposition und Interjektion, am Ende dieser Grammatik folgt weitgehend der ars minor. von . Ihre Bedeutungsgruppen werden aufgeführt und mit Beispielen bereichert. Mitunter wird auch der grammatische Terminus etymologisch erklärt, zum Terminus Interjektion heißt es z.B., dass die Bezeichnung aus ‚inter‛ und ‚iacio‛ zusammengesetzt ist, da sie in die Rede eingeworfen werden. Sie dienen dem Ausdruck einer Emotion (bzw. „einer Bewegung der Seele“) „affectum mentis significandum“.

Der Inhalt dieser letzten Abschnitte unterscheidet sich nicht wesentlich vom dem, was in anderen zeitgenössischen Grammatiken im morphologischen Teil zu diesen Indeklinablen gesagt wird. Das Buch endet mit einer kurzen Zusammenfassung der behandelten Themen.

4. Kontext und Klassifizierung[arrow up]

Das Exercitium ist für den Unterricht in der Schule, aber vor allem auch zum Selbststudium (‚sine preceptore‛) geeignet. Sie richtet sich an eine mittlere Unterrichtsstufe, auf der die Schüler bereits die ars minor. von bzw. das Doctrinale kannten. Die Zielgruppe ist weit gefasst: im zweiten Kolophon werden „pueri, fratres, sorores, mercatores, ceterique seculares aut religiosi“ genannt.

Durch ihre originelle Struktur weicht diese Grammatik von allen anderen zeitgenössischen grammatischen Lehrwerken ab, denn sie geht nicht die Wortarten der Reihe nach durch, sondern bespricht abschnittweise ausgewählte grammatische Fragen und folgt dabei ungefähr der Anordnung des Doctrinale. Didaktisches wird an mehreren Stellen adressiert, sowohl im Prolog beider Teile als auch eingestreut im Text. Angesprochen werden nicht nur die Lernenden sondern auch die Lehrer. Tabellen, wechselnde Schriftgrößen und Überschriften sowie direkte Ansprachen und Aufforderungen gestalten den Text abwechslungsreich und interessant.

Die katechetische Diktion und die Ansprache des Lesers (‚quero tibi, da me, declina mihi, dic mihi latine‛) erinnert stellenweise an die scholastischen grammatischen Übungstexte, aber man kann im Text auch deutliche humanistische Züge erkennen, etwa den Einsatz der Muttersprache und die Vorbildstellung italienischen Grammatiken. Insgesamt steht diese Grammatik dennoch dem Mittelalter sehr nahe. Das Doctrinale des Alexander de Villa Dei wird im Vorwort zwar abgelehnt, doch richtet sich das Exercitium weitgehend danach. An vielen Stellen wird das Doctrinale wortgenau zitiert und kommentiert.

5. Rezeption[arrow up]

Das Exercitium gehört zu den erfolgreichsten grammatischen Lehrwerken des fünfzehnten Jahrhunderts und es fand Verbreitung über seinen Entstehungsort hinaus. Genaue Daten zur Rezeption sind zwar nicht erhalten, aber man kann den Erfolg an der verhältnismäßig langen Druckgeschichte und den zahlreichen Auflagen (mindestens 14 Aufl. aus dem 15. Jh. und 9 aus dem frühen 16. Jh.) ablesen. Diese Grammatik wurde vor allem am Rhein, im Elsass und in den Niederlanden häufig gedruckt und viel gebraucht, aber sie erhielt auch in Köln bei Heinrich Quentell sechs Ausgaben.

Ihr Erfolg beruhte zum Teil auf der Zielsetzung, schnell eine Kompetenz der lateinischen Sprache zu gewähren und den Lerner in die Lage zu versetzen, klassische Autoren zu lesen, zum Teil aber auch darauf, dass das Lehrbuch sowohl die Lehrer als auch die Schüler ansprach. Es war – nach Puff (1995: 144) – „ein Lehrerhandbuch und Schülerlernbuch in einem“.

Das Exercitium diente offenbar als Vorlage für das Compendium, das eventuell vom gleichen Autor stammt. Auch für Hieronymus Gürtler und Johannes Cochlaeus´ Quadrivium Grammatices kann dieser Text vorgelegen haben. Eine direkte Nachfolge zu diesem Lehrwerktyp und dieser Struktur kann nicht festgestellt werden, aber einzelne Teile sind übernommen worden, vor allem die Anleitungen zum Übersetzen aus dem Lateinischen ins Deutsche und umgekehrt (vgl. Puff 1995: 153f).

6. Bibliographie[arrow up]


1 Die Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf dieses Exemplar.

2 Dieses Exemplar in der BSB trägt eine Titelseite mit Holzschnitt, Schulszene und Rubrizierungen

3 Holzschnitt mit Schulszene

4 Als Verfasser Magister Wilhelmus Zenderus de Wert aus Brabant genannt.

5 Vieles scheint für Zenders de Wert zu sprechen (vgl. Kneepkens 2006a: 137ff. und 2006b:27). Dagegen Joh. Müller (1882; 17ff u 244f.), Marijke van der Wal, (1993: 1), Helmut Puff (1995: 134) sowie Kristian Jensen (1996: 31f. u. 2003:66) betrachten den Text als anonym.

6 Verfasserlexikon Bd. 10 ,’Zenders’ (Sp.1528-1535); Kneepkens (2004: 95, 98).

7 Die Sprachform der volkssprachigen Interpretamente richten sich nach der Mundart des Druckortes vgl. dazu van der Wal (1988:345ff,1993:2ff).

8Grammatica est Scientia docens recte scribere, recte scripta recte intelligere, recte intellecta recte componere, recte composita debito modo pronunciare“. Diese Definition wird hier Priscianus zugeeignet, aber sie stammt vielmehr aus einer frühneuzeitlichen Ausgabe der Doctrinale. In der mittelalterlichen Schrift Regulae congruitatum ist diese Formulierung ebenfalls zu finden.

9 Diese Methode der Wortartbestimmung fand später Verwendung in zahlreichen anderen humanistischen Grammatiken, u.a. bei Aventin (1512), Melanchthon (1526), Hegendorf (1527) und Bonnus (1576).

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