Bearbeitet von Martin Keßler
1. Überlieferung↑
Handschrift:
Auf fol. 73v befindet sich ein Kanzleivermerk von unbekannter Hand: Karlstat
bedenk'en' der statuta halben
.
Auf den bislang unedierten und nicht ausgewerteten Text wurde erstmals Christian Gotthold Neudecker
(1807–1866) aufmerksam, wie eine Abschrift in seiner heute in der FB Gotha befindlichen Sammlung (Chart. A
1289 II, fol. 66v) belegt.1 Neudecker datierte das Schreiben in das Jahr
1517
, indem er es zum vorigen Schreiben gehörig
ansah.2 Neudecker
bezog das Dokument damit auf ein Schreiben des Wittenberger Kapitels an den Kurfürsten vom
Sonnabend nach Cantate Anno […] 1517
, das abschließend auf die Investiturkonflikte mit
Karlstadt im Jahr 1517 eingeht (im Wortlaut von Neudeckers Exzerpt): Was aber Carlstadt gethan, läßt er
in seinem Werth u will es fürder lauts der Statuts halten.
3 Die thematische Einordnung Neudeckers ist unzutreffend,
während die Datierung in den zeitlichen Rahmen fällt, der im Folgenden wahrscheinlich zu machen ist.
2. Inhalt und Entstehung↑
Das Wittenberger Allerheiligenstift4 wurde im Zuge der zwischen 1490 und 1509
unternommenen Umgestaltung des Schlosses völlig neu
gebaut5. Das ältere kleine Gebäude6 wurde durch eine großflächige Anlage ersetzt, die im Zuge der Baumaßnahmen um
zunächst nicht vorgesehene Besonderheiten erweitert7 wurde. Zu den Zusätzen gehört
die Einrichtung eines Kleinen Chores8, der wohl dem Vorbild der unter den Türmen des Magdeburger Domes gelegenen Kapelle folgte9, neuerlich aber auch mit
Augsburger Einflüssen in Verbindung gebracht wurde10. In Wittenberg gestaltete sich die architektonische Erweiterung
als kapellenartiger Raum unter der Westempore gegenüber dem Hochaltar
.11 Die
Organisation folgte wohl einem Magdeburger Muster. Die Bezeichnung als
Kleiner Chor findet sich bereits dort, wie auch Dotationen einen eigenen Stab von 11 Mitarbeitern, darunter
sechs Priestern, strukturell abhoben und finanziell absicherten. In Wittenberg sind die ersten Vorkehrungen dieser Art mit dem
Stiftungsbrief vom 11. November 1506 belegbar.12 Vorgesehen war anfänglich ein Personalbestand von 4
Priestern, wovon einer Organist […]
[war], und 4 Chorschülern
.13 Während der Folgejahre vergrößerte sich dieser
Anstellungsbereich: Eingangs werden 15 Personen dokumentiert14; 1520 und 1525 sind es 2015. Aufgabe der Angehörigen
des Kleinen Chores war es, Seelenmessen für Angehörige des Fürstenhauses zu zelebrieren.16 Zugleich wurde – wie in Magdeburg17 – eine eigene Marienverehrung gepflegt, der auch die Stiftung und Bezeichnung
des Chores korrespondierten, die [d]er Gottesmutter zu Ehren
18 galten. Auf
diesen Bezug verweist das Karlstadtsche Gutachten eingangs: die personen des kleyn kohers unser liben
frawen
.
An der Spitze des Kleinen Chores stand einer der vorgesehenen vier Priester, der unter der Bezeichung
zunächst eines Prokurators und dann eines Dekans geführt wurde.19 Dessen Rechtsstellung innerhalb des Stiftskapitels war Gegenstand von Klärungsprozessen, die zu keinen
abschließenden Ergebnissen führten.20 Umstritten war besonders, ob dem Dekan des Kleinen Chores der Status eines Stiftsherren
zukomme oder nicht.21
Karlstadt verwies mit dem vorliegenden Votum auf eine Lücke in der Verteilung der jurisdiktionellen Kompetenz
zwischen den Dekanen des Großen und des Kleinen Chores. Zugunsten einer stringenten Regelung der
institutionellen Zuständigkeiten verwies er auf die gemein rechten
, das ius
commune. Dieses umfasste sowohl das ius canonicum als auch das ius civile.22 Die thematisch benannten Referenzen lassen erkennen, dass Karlstadt nicht etwa subsidiär auf
weltliches, römisches Recht zurückgriff, sondern für eine folgerichtige Anwendung des Kirchenrechts plädierte.
Karlstadts einleitende Problemanzeige setzt voraus, dass die Angehörigen des Kleinen Chores ihrem Dekan und
nicht demjenigen des Großen Chores jurisdiktionell unterstünden, wobei unklar bleibt, ob es sich um eine
faktische Regelung oder eine prospektive Revision der Statuten handelt. In seinen Überlegungen (Ich
bewege das
) zur Situation vollzieht Karlstadt einen argumentativen Dreischritt. Zum einen betont er,
dass die kirchenjurisdiktionellen Kompetenzen in einer Hand liegen müssten. Zwm andern
hob er
als Voraussetzung für die Ausübung der Gerichtsbarkeit über Mitglieder des Kleinen Chores deren persönliche
Gehorsamsverpflichtung hervor. Daraus folgerte er drittens, dass sich die Angehörigen des Kleinen Chores in
seiner gegenwärtigen Verfassung in einem rechtsfreien Raum bewegten, da sie eidlich nicht dem Dekan des Großen
Chores verpflichtet seien – und wohl auch nicht, so wäre zu ergänzen, dem Dekan des Kleinen Chores. Die
letztgenannte Auslassung lässt vermuten, dass Karlstadt eher an eine jurisdiktionelle Stärkung des Dekans des
Großen Chores dachte als an eine eidliche Verpflichtung der Angehörigen des Kleinen Chores auf den ihnen
vorgeordneten Dekan. Das Gutachen hält sich in dieser Hinsicht jedoch zurück und benennt nüchtern Karlstadts
Beobachtung zur Rechtslage. Unerwähnt bleibt in Karlstadts Votum der Stiftungsbrief von 1506. Als Kanoniker am
Allerheiligenstift musste Karlstadt den Text
gekannt haben, da er abschriftlich an einer eisernen Kette neben dem Kleinen Chor hängen sollte.23
Der Stiftungsbrief sah das Amt eines Dekans am Kleinen Chor noch nicht vor und verwies auf die etablierten
Autoritäten: Probst, Dechant vnd Capittel
24. Faktisch votierte Karlstadt für eine Restitution dieser ursprünglichen Ordnung,
indem er für eine neuerliche Zentralisierung der kirchenjurisdiktionellen Kompetenzen in der Hand des Dekans
des Großen Chores eintrat.
Die Datierung des Stückes ergibt sich aus der abschließenden Befassung mit einer Besetzungsfrage am Großen
Chor. Unter Berufung auf die päpstlichen Privilegien von 1507 verweist Karlstadt auf eine anhaltende Vakanz
der Position des Syndikus. In der Geschichte des Stiftes gab es zwei Vakanzen dieser Stelle25: von 1515
bis 1517 und von 1523 bis zur Aufhebung des Allerheiligenstifts als einer geistlichen Einrichtung 152526. Karlstadts weitere Rekurse auf
die päpstlichen Privilegien des Allerheiligenstifts
fallen in den August 1516 (KGK 43) und den April 1517 (KGK 52), weshalb außer Frage stehen dürfte, dass hier die Vakanz
der Jahre 1515 bis 1517 berührt wird. Sie folgte auf den Tod des Stelleninhabers Paul Penckow am 5. November 1515.27 Karlstadt befand sich zu diesem Zeitpunkt in
Rom; mit seiner Rückkehr nach Wittenberg spätestens Anfang Mai 1516 ist der terminus post quem des
Dokumentes anzusetzen. Ein terminus ante quem ergibt sich aus der Wiederbesetzung der
Stelle, die Otto Beckmann im September 1517 übernahm.28 Auf die vorgängige Vakanz dürfte
sich Karlstadts abschließende Formulierung beziehen: Zw verschaffen/ das die presentz niemantz geben
werden solt/ dan der sie verdient
.
Trifft die weitere Datierung zwischen Mai 1516 und September 1517 zu, sprechen weitere Anhaltspunkte dafür,
eine Abfassung zwischen 31. August 1516 und 18. Juni 1517 anzunehmen. Am 31. August 1516 überbrachte das Kapitel dem Kurfürsten eine Überarbeitung der Stiftsstatuten.29 Eine Sichtung der archivalisch verfügbaren Überlieferungen ergibt, dass von den Statuten
in dem Karlstadt mitbetreffenden Zeitraum mindestens drei Fassungen vorhanden sind. Eine erste Version wurde
am 20. Juli 1509 vom Kurfürsten eingefordert30; diese Textgestalt wird man mit
einer lateinischen und deutschen Fassung identifizieren können, die über keine eigenen Dorsalvermerke
verfügt31. Eine zweite, ebenfalls zweisprachig ausgearbeitete Fassung wurde dem
Kurfürsten laut Dorsalvermerk am 31. August 1516 durch
den Stiftsherrn Matthäus Beskau überbracht32. Eine dritte Fassung
forderte der Kurfürst am 25. Mai 1517 ein33 und erhielt sie in Copien
unßerer statuten latinisch und Deutzsch
mit einem Begleitschreiben des Kapitels vom 18. Juni 151734. Interessant ist nun, dass sich von der deutschen Version der zweiten Fassung ein
Exemplar erhalten hat, das in Annotationen die Überarbeitung in Richtung der dritten Textgestalt
dokumentiert.35 Auffällig
ist, dass die umfassendste Kürzung der Statuten zwischen September 1516 und Juni 1517 dem achten Kapitel und
damit der Jurisdiktion am Allerheiligenstift galt.
Die in ihrer Textgestalt auf den 31. August 1516 zu datierende Fassung votierte für eine Rechtssprechung am
Stift, wie dann in anern kirchen ublich
, durch den Dekan.36
Auf diesen Passus dürfte sich das Karlstadtsche Gutachten beziehen. In dem
benannten, die redaktionellen Überarbeitungen dokumentierenden Exemplar der Statuten findet sich der Vorschlag
einer Streichung der betreffenden Ausführungen und die Ersetzung durch: So sol es mit der Iurißdictionn
gehalden werden/ wie deßselben [Ba]bst Julii
Bulle inhalt und außweist doch sol solche Iurißdictionn wider die prelaten und thumherr anders dann mit
sambtlichem Zutun eins Capittels nit gebraucht werden
.37 Diesem Vorschlag folgen die späteren Fassungen der Statuten von 1517.38
Inhaltlich ist die Überarbeitung des Jurisdiktionskapitels mit dem Karlstadtschen Gutachten in Verbindung zu
bringen. Sowohl Karlstadts Votum als auch die redaktionelle Textgestalt treten für eine anhaltende Gültigkeit
der päpstlichen Privilegien von 1507 in jurisdiktioneller Hinsicht ein.
Als Hintergrund deutet sich somit ein Machtkampf zwischen dem Propst und dem Dekan des Großen Chores im Zuge der
Statutenrevision der Jahre 1516 und 1517 an. Dies bestätigt ein Schreiben des Kapitels – ohne Aufführung des Propstes unter den Unterzeichneten – an den Kurfürsten, das am 9. September 1516 die Problematik der Jurisdiktion am
Stift berührt. Demnach beanspruchte der Propst die
Jurisdiktionsgewalt, während das Kapitel diese ebenso einem Prälaten, zu denen der Dekan des Großen Chores
gehörte, zugestehen konnte und dem Kurfürsten die
Entscheidung anheimstellte: Der Jurisdiction halben kunnen wir wol dulden und erleiden das die/ bei
eynem Prelaten werde/ die weil aber der Probst meynet das die
auß bebstlicher bull im zugehore. Szo wiel uns in keynem wege die bebstliche bulle zu declariren/ vil
weniger do wider zu statuiren zcimen ader geburen Wie es nue E'wer'
Churf'urstliche'
g'naden' do mit ordene und schafft/ das es bestandt crafft und macht hab ßal
uns wolgefallen
.39 Die Abstimmung über die Endgestalt der Statuten verlief äußerst kontrovers. Am 13. Mai 1517
nahm das Kapitel die Statuten in der letzten
kurfürstlichen Fassung an, ließ jedoch seinen Protest gegen die Gestaltung der Jurisdiktion notariell
beglaubigen.40
Die Textgeschichte der Statuten macht wahrscheinlich, dass Karlstadts Votum in einen internen
Abstimmungsprozess des Kapitels gehört und zu der
gravierendsten Kürzung des Textbestandes zwischen September 1516 und Juni 1517 führte. Eine
Zwischenüberschrift in Karlstadts Bedenken deutet an, dass Karlstadts Stellungnahme auf eine Positionierung
des Dekans, wohl des Großen Chores, folgte (Des Dechands bedencken und andern
). Dieses Amt
versah zwischen 1508 und 1523 Lorenz Schlamau. Als Dekan des
Kleinen Chores fungierte seit dem 29. September 1516 Christoph
Blanck, der sich zuvor vergeblich um das vakante Syndikat bemüht hatte.41 Von diesem Dekanat war Simon Funck zurückgetreten42, ein langjähriger Kollege Karlstadts am Allerheiligenstift. Für ihn setzte sich Karlstadt in
der Folgezeit ein, indem er ihn am 27. Januar in der zu Orlamünde
gehörenden Pfarrei Uhlstädt investierte und damit die Besetzungsaffäre
des Jahres 1517 auslöste.
Karlstadts Votum tritt in seiner klaren Zweiteilung zunächst zugunsten einer Klärung der jurisdiktionellen Zuständigkeit für die Angehörigen des Kleinen Chores ein und dann für eine adäquate Nachbesetzung des Syndikats am Großen Chor. Beides spricht für einen chronologischen Gesamtrahmen für die Abfassung von Karlstadts Bedenken zwischen 31. August 1516 und 18. Juni 1517, den Daten der Übergabe der zweiten bzw. dritten Fassung des Statutenentwurfs des Stiftskapitels.
drey priester vnd ein tugent/lich Organist der auch priester ist […] Vnd vier Chorschuler.
mit der Errichtung des Westchores an diesem Ort seine Begräbnisstätte zu etablieren, s. ebd.,150.
capella b. virginis Marie alias minor chorus appellata.
Datum zu Torgau am Sambstag nach Sannd Alexien tag Anno domini xv c Nono.; das Schreiben erinnert an eine frühere kurfürstliche Aufforderung, die zu einer Rückfrage des Kapitels geführt habe:
dann ir probst/ habt pfeffinger geschrieben, daz daz bedencken lateinisch auf getzeigent were/ und ob ir uns daz ober schicken oder unserer zukunf gen wittenberg domit erwarten sollet.
Wey die dignitet/ die noch nit ist/ kein privilegium mag geben werden derhalben Babst Clemens der Funfft, auß Bebstlicher gewalt auff bitt Herrn Rudolffen/ seligen gedechtnus/, und endend mit
Darumb soll keiner den Andern wider mit wortten noch mit wergken beleydigen/ so es aber beschieht/ so soll der beleidiger nach gelegenheit der person/ unnd that/ enthwer von dem probst/ oder von dem dechant oder aber von dem gantzen Capittel gestrafft werden/.
diese Statuta hat das Capitell unserm g'nedigsten' Hern bey doctor torgaw uberschickt am Sontag nach Sand Bartolomeß tag Anno domini 1516. Zu dem lateinischen Statutentext selbst s. , fol. 12r–35r (gestempelte Zählung), fol. 13r–37r (handschriftliche Zählung); zu der langen Neufassung des achten Kapitels s. , fol. 28v–29v (gestempelte Zählung), fol. 29v–30v (handschriftliche Zählung).
Datum Wittenbergk Am achten tage des heiligen Waren leychnams Anno […] xvii.
so ercleren wir/ das der Techant/ die Jurißdection/ in der kirchen/ uber alle person/ darein gehorend haben/ doch soll er sich der/ die prelaten/ unnd Thumbherrn/ annders dann mit sambtlichen zuthun/ probsts und Capittels nicht gebrauchen/ Aber wieder die Vicarien/ Capellan/ Chor: schuler unnd annder/ mag er sich/ der allein gebrauchen.