Bearbeitet von Ulrich Bubenheimer
1. Überlieferung↑
Handschrift:
Literatur:
- Bubenheimer, Luther, 65f.
- Bubenheimer, Karlstadt, 656,32–34,36f.
- Bubenheimer, Humanismus, 108–112.
In dem genannten Stück der HAB findet sich zunächst der Anfang 1522 erschienene, aus 2 Blättern bestehende Druck: SYNODI AVGVSTI‖NIANORVM DE ‖ LIBERTATE ‖ MONA=‖CHO=‖RVM ‖ SENTEN=‖TIA. VVITTEMBERG. [Wittenberg:] Melchior Lotter d. J., [1522].1 An den Druck ist eine Handschrift im Umfang von 10 Blättern angebunden (hier gezählt fol. 3–12). Druck und Handschrift waren einst Teil eines umfangreicheren Sammelbandes. Die Handschrift enthält eine Sammlung von insgesamt acht Wittenberger Thesenreihen2, wobei bei sieben Thesenreihen deren Verfasser namentlich genannt sind, nämlich Philipp Melanchthon (3)3, Andreas Bodenstein von Karlstadt (3)4 und Martin Luther (1)5. Die Thesenreihe Luthers stammt aus dem Jahr 1518; die Thesenreihen Karlstadts und Melanchthons entstanden 1521. Ferner enthält die Sammlung an siebter Stelle6 ohne Datierung noch die hier zu edierende Kompilation von 13 Thesen Giovanni Picos della Mirandola.
Der Schreiber der Thesenreihe sowie der Randnotizen in Druck und Handschrift war Heino Gottschalk († 1541), Abt des Benediktinerklosters Oldenstadt bei Uelzen.7 Der Schreiber nennt seinen Namen hier zwar nicht, doch befinden sich in der HAB eine größere Anzahl von Drucken mit Notizen desselben Schreibers, der in einem seiner Bände seinen Namen eingetragen hat8.
2. Inhalt und Entstehung↑
Die 13 Thesen Picos gehen auf dessen 900 Thesen9 (1486) zurück, die er im Januar 1487 in Rom vor allen interessierten Gelehrten verteidigen wollte. Eine von Papst Innozenz VIII. (1484–1492) eingesetzte Untersuchungskommission erklärte die vorliegenden 13 Thesen für häretisch. Daraufhin verteidigte sie Pico in seiner 1487 ohne päpstliche Genehmigung gedruckten Apologia.10 Der vom Papst nach dem Erscheinen der Apologia angeordneten Verhaftung kam Pico durch die Flucht zuvor. Papst Alexander VI. (1492–1503) hob die gegen Pico getroffenen Maßnahmen wieder auf.
Die Aufnahme der 13 Thesen in eine Handschrift, in der ansonsten nur Wittenberger Thesenreihen gesammelt sind, muss direkt oder indirekt durch eine Wittenberger Quelle veranlasst sein. Heino Gottschalk hat aus einer guten Wittenberger Quelle geschöpft. Denn er bietet in seiner Handschrift eine Thesenreihe Karlstadts11, deren Text zwar aus anonymer Drucküberlieferung bekannt war12; jedoch bietet erst die Handschrift einen Hinweis auf den Verfasser sowie Datum und Anlass der Disputation13. Der Überlieferungskontext, in dem sich die Reihe mit den Pico-Thesen befindet, erlaubt den Schluss, dass auch diese auf den Wittenberger Lehrbetrieb zurückgeht.
In Picos Werken finden sich die 13 Thesen nicht in der
Form, wie sie die Handschrift Gottschalks wiedergibt. Sie sind
in Picos
Apologia nicht – wie in der Wittenberger Thesenreihe – geschlossen abgedruckt,
vielmehr folgt bei Pico auf jede einzelne These sofort eine
Quaestio, in der die These verteidigt wird. Dennoch wird die Apologia als Quelle des Kompilators der Wittenberger Thesenreihe in der 13. These unmittelbar
erkennbar. Hier zitiert der Kompilator nicht nur den Wortlaut von Picos These, sondern zusätzlich den ersten Satz der in der Apologia auf die These folgenden Quaestio. Der Wittenberger
Kompilator hat also die 13 Thesen aus der Apologia exzerpiert und daraus eine
geschlossene Thesenreihe gemacht. Ferner hat er den Thesen eine eigene Überschrift vorangestellt, in der er
die Verurteilung der Thesen als ein Unrecht ungebildeter Scholastiker brandmarkt: Thesen Johannes Picos, Grafen zu Mirandola, welche
scholastische Theologen und Sophisten zu Unrecht und ohne Kenntnis verurteilten, aber jener in der
Apologia trefflich verteidigt hat.
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Um festzustellen, welchen Druck der Apologia der Wittenberger Kompilator verwendet hat, wurde der in der Wittenberger Thesenreihe gebotene Wortlaut der Thesen mit den bis 1517 erschienenen Druckfassungen der Apologia verglichen. Nach dem Erstdruck von 1487 findet sich die Apologia in den ab 1496 erschienen (Teil-)Ausgaben von Picos Schriften:15
- N:
- Apologia. [Neapel: Francesco del Tuppo, 1487].16
- B:
- Commentationes. Bologna: Benedictus Hectoris Faelli, 20. März 1496, fol. AA1r–KK3r. (Herausgeber: Gianfrancesco Pico della Mirandola.)17
- V:
- Omnia opera. Venedig: Bernardinus Venetus, 1498, fol. F1r–N6r. (Herausgeber: Gianfrancesco Pico della Mirandola.)18
- S:
- Opera Joannis Pici: Mirandule Comitis Concordie: […] quaru(m)cunq(ue) facultatu(m) professoribus tam iucunda q(uam) proficua. […]. Straßburg: Johann Prüss d. Ä., 15. März 1504, fol. 24v–69r. (Herausgeber und Vorredner: Hieronymus Emser.)19
- P:
- Joannis Pici Mirandulae omnia opera […]. Paris: Jean Petit, 1517, fol. F1r–N6r.20
Der Vergleich der Wittenberger Thesen mit dem Wortlaut der Thesen in den genannten Ausgaben ergibt eindeutig, dass die Wittenberger Textfassung aus der Straßburger Ausgabe Hieronymus Emsers von 1504 entnommen ist.21 Diese Ausgabe wurde im Wittenberger Umfeld nachweislich verwendet.22
Gottschalks Abschrift der Thesenreihe enthält einzelne Textfehler, die sich als Schreibversehen erklären lassen.23 Sie sind in der Textedition nach der Pico-Ausgabe von 1504 korrigiert worden.
Der Name des Wittenberger Dozenten, der vorliegende Thesenreihe erstellt und mit einer eigenen Überschrift
versehen hat, ist in der Handschrift nicht genannt. Die Zuweisung an Karlstadt stützt sich auf einen
undatierten Brief Karlstadts an Georg Spalatin.24 Darin reagierte Karlstadt
zunächst mit Freude auf Spalatins Mitteilung25, er werde seinem Brief an Johannes Reuchlin einen
Brief Karlstadts an Reuchlin beilegen26: Übrigens würdest Du mir nicht nur einen kleinen Gefallen tun, wie Du es am Schluss Deines Briefes in
feiner Weise ausdrückst, sondern vielmehr einen unübertrefflich großen, wenn Du meinen rohen und
bäurischen, allerdings aus einer großen Zuneigung quellenden Brief zusammen mit Deinem so gebildeten und
geistreichen Schreiben an unseren himmlischen Lobes würdigen Reuchlin schicken würdest […].
27
Spalatins Angebot der Übermittlung von Karlstadts Brief an Reuchlin war eine Antwort auf einen vorhergehenden Brief Karlstadts an
Spalatin vom 21. Juli 1516, in dem Karlstadt Spalatin die Weiterleitung seines Briefs an Reuchlin bereits nahegelegt hatte28. Daher ist der oben zitierte undatierte Brief bald nach dem 21. Juli 1516 verfasst worden29. Darin schrieb Karlstadt im
Anschluss an die zitierte Stelle: […] Seinen [näml. Reuchlins]
Cabbalistica kann ich nur allerhöchstes Lob aussprechen neben der Erklärung (explanatio) des Johannes Pico,
Grafen zu Mirandola, welche [näml. Picos Erklärung] ich nächste Woche trefflichen Jünglingen und Männern mitteilen
werde.
30
Diese Aussage passt bestens zu der Reihe mit den 13 verurteilten Pico-Thesen. In der 5. These kam Pico programmatisch auf die Kabbala zu sprechen: Es gibt keine
Wissenschaft, die uns mehr der Gottheit Christi vergewissert als die Magia und die
Kabbala.
In der Apologia legte Pico sein Verständnis der Kabbala ausführlich dar.
Auf der Basis der zitierten Aussagen Karlstadts lässt sich folgender möglicher Ablauf rekonstruieren: Karlstadt führte im Sommersemester 1516 ein Kolleg durch, für das er als Textgrundlage die 13 Thesen Picos für die Hörer zusammengestellt hatte. Zu dem Zeitpunkt, als Karlstadt den undatierten Brief an Spalatin schrieb – bald nach Dienstag, dem 21. Juli 1516 –, stand für die folgende Woche (27. Juli bis 2. August) die Kommentierung der 5. These bevor. Das alternative Szenario, nach dem Karlstadt innerhalb einer Woche alle 13 Thesen habe kommentieren wollen, erscheint wegen der Fülle der in den Thesen berührten Themen und des Umfangs von Picos Apologia unwahrscheinlich. Die Annahme liegt nahe, dass Karlstadt in Verbindung mit seinem Kolleg auch über die Pico-Thesen disputieren ließ.
Somit kann die Wittenberger Thesenreihe in das Sommersemester 1516 datiert werden31 und damit in das Semester, an dessen Anfang Karlstadt von seiner Romreise nach Wittenberg zurückgekehrt war. Dieser Zeitpunkt legt die Vermutung nahe, dass bei der Auswahl eines Textes des damals berühmten, wenngleich umstrittenen italienischen Humanisten unter anderem auch Impulse mitgespielt haben könnten, die Karlstadt während seiner Romreise erhalten hatte.
Karlstadts Beschreibung seines Hörerkreises mit den Worten gute Jünglinge und Männer
könnte darauf hindeuten, dass er
ein Privatkolleg durchführte, das er neben seiner regulären damaligen Lehrverpflichtung anbot. Den
methodischen Ablauf eines solchen Kollegs kann man sich so vorstellen, dass Karlstadt die Thesen Picos insbesondere auf der Basis von dessen
Apologia kommentierte, vermutlich unter Heranziehung weiterer Schriften Picos. Karlstadt hatte sich damals neben der Apologia mit weiteren Pico-Schriften
beschäftigt. Das zeigt der oben herangezogene undatierte Brief Karlstadts an Spalatin vom Juli 1516, in dem
Karlstadt sein Kolleg über Pico erwähnte. In diesem
Zusammenhang zitierte er einen Ausspruch Picos32, der aus dessen Schrift Disputationes adversus astrologiam divinatricem stammt33. Karlstadt erbat Spalatins Hilfe bei der Interpretation des Pico-Wortes. Er hat sich demnach auch mit der gegen die Astrologie
gerichteten Schrift Picos beschäftigt, die in den damals
vorliegenden Ausgaben von dessen
Opera enthalten war. Man darf annehmen, dass Karlstadt auch darüber hinaus in der
von ihm verwendeten Ausgabe der Werke Picos gelesen hat. Da
Karlstadt in dem Brief an Spalatin im Zusammenhang mit der Kabbala in einem Atemzug Reuchlin und Pico lobte, dürfte er
in seinem Kolleg mindestens bei der Auslegung der These 5 über Magia und Kabbala auch Reuchlin herangezogen haben, von dessen kabbalistischen Schriften im
Sommer 1516 De verbo mirifico (1494) gedruckt vorlag. Dieser Reuchlinschrift
hatte Karlstadt schon 1507 in den Distinctiones, in denen er auf der letzten Seite
Hebraica bot, die hebräisch geschriebenen Gottesnamen Jahwe und Schaddai entnommen.34
Es mag verwundern, dass Karlstadt in einer Vorlesung nicht eigene Thesen, sondern Thesen eines anderen Autors kommentiert haben sollte. Doch ist er 1517 im Zusammenhang mit seiner Hinwendung zu Augustin methodisch ähnlich verfahren. Seine 151 Thesen vom 26. April 1517 sind zwar nicht vollständig, aber zu einem erheblichen Teil aus wörtlichen oder sinngemäßen Augustinzitaten zusammengestellt. Diese Augustin-Thesen hat Karlstadt kommentiert, indem er seinen Hörern in einem Kolleg seine Explicationes zu diesen Thesen diktierte.35
Superflue sunt he conclusiones quia superius etiam habentur.
In locum Pauli, ij. Corint. Epistolae cap. iij.ohne weitere Daten findet sich die Thesenreihe in der zweiten Basler Sammlung Wittenberger Thesenreihen: LVTHERI, MELANCH. CAROLOSTADII &c. PROPOSITIONES, VVITEMBERGAE uiua uoce tractatae, […]. Basel: [Adam Petri], 1522, fol. G5v–G7v (Benzing, Lutherbibliographie, Nr. 59; Predigerseminar Wittenberg: LC 590, Provenienz: Johannes Lang).
Sub egregio viro Andrea Carolstadio Theologie doctore famigeratissimo etc. proxima Jovis die, hoc est Octobris ultima, hora septima et sequentibus ad subterpositas propositiones Johannes Briesmannus Or'dinis' Mi'norum' Theologie baccal'aureus' formatus pro licentia, deo favente respondebit. In locum pauli ij. Corinth. Epistole ca. iii.Meine frühere hypothetische Zuweisung dieser Thesenreihe an Melanchthon ist damit hinfällig. Vgl. Bubenheimer, Scandalum, 334f.; korrigiert in Bubenheimer, Karlstadt, 656,36f.
Henricus in quolibetis, während die Straßburger Ausgabe und danach die Handschrift g zu
Henricus de Gandavio in quodlibetiserweitern. Die Pariser Ausgabe von 1517 bietet in der 6. These eine abweichende Lesart (
doctum), während g mit der Straßburger Ausgabe (
dictum) übereinstimmt.
Detineo mecum literas, quas ad coruscantem Virum Joannem Capnionem exaravi datas et obscuratas, quando placet eas transmittere, rescribendas reddam alicui scribae.Karlstadt an Spalatin (21. 7. 1516), KGK 34.
Cupio etiam abs te doceri illud J'oannis' Pici: Mentior nisi hominem helleboro dignum aestimaveris; et illius verbi significantiam demerare [sic!]. quorum intelligentiam certam habere nequivi.Karlstadt an Spalatin (nach 21. 7. 1516), KGK 35.
Est Bonatus inter eos [scil. astrologos] primae auctoritatis, is non ignarus modo est philosophiae, sed furit plane atque delirat. Lege eius primum librum de iudiciis, in quo super opere ipse prooemiatur; mentior nisi helleboro dignum hominem iudicaveris.Pico, Disputationes (Garin), 74,17ff. Zitiert nach Rutkin, Ptolemy’s Tetrabiblos, 137.
plura de hac re et plenius dictavi in explica'tione' concl'usionis' xxiii.); 41,2 u. ö. (s. Augustinkommentar KGK 64).