Einführung

Charles Philippe Dieussart: Theatrum Architecturae Civilis
Nikola Roßbach

1. Titel
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Theatrum Architecturae Civilis, In drey Bücher getheilet/ Das ist Eine kurtze Beschreibung/ was die Architectura sey/ neben dem Methodo, so die Alten zum beständigen/ und zierlichen Bau gehalten/ und observiret haben/ wovon im Ersten Buch gehandelt wird. Im Andern/ Wird durch sechs Authores parallelischer Weise die Modulation der Columnato, als mit Palladio, Pietro Cataneo. Vignola, Sebastian Serlio. Scamotzi, Branca. Angewiesen. Im Dritten. Die Proportion der Arcaden, Gemächer/ Stiegen/ Thüren/ und Fenstern/ neben denen dazu gehörigen observantien, ein Volkommenes Gebäu auffzuführen/ gezeiget durch Carlo Philippo Dieussart. Rom, Fürstl. Mecklenb. Architectum. Güstrow/ Gedruckt/ durch Christian Scheippel/ Ihr Fürstl. Durchl. Hoff-Buchdrucker/ Anno 1679. Güstrow: Christian Scheippel, 1679. - Titelblatt (Kupfertafel), 96 pag. S. (3 Bde. in 1), 66 Ill., 2°. [vd17 ↗3:606873H] [opac ↗151410623]

2. Verfasser
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Charles Philippe (Karl Philipp, Carlus Philippus) Dieussart (Deussart) (1625?-1696), war ein französischsprachiger, vermutlich aus Flandern stammender Architekt, Baumeister und Bildhauer, der in Deutschland (Güstrow, Berlin/Potsdam, Bayreuth) lebte und wirkte. Seit 1657 schuf er für seinen Dienstherrn Herzog Gustav Adolf von Mecklenburg-Güstrow verschiedene herrschaftliche Bauten, u.a. das Schloss Rossewitz (1657). Reisen führten ihn nach England, Dänemark und Italien; der König von Dänemark umwarb den bekannten Architekten, sandte ihn jedoch auf Bitten Herzogs Gustav Adolf zurück nach Mecklenburg. Als kurfürstlicher Baumeister des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen vollendete Dieussart 1682-1684 sein berühmtestes Bauwerk, das Jagdschloss Glienicke. Von Berlin aus berief ihn Markgraf Christian Ernst nach Bayreuth, wo Dieussart, der einen streng klassizistischen Barock französischer Prägung vertrat, „eine bedeutende künstlerische Rolle“ (Hofmann, S. 131) spielte: Er leitete die Umgestaltung des Alten Schlosses am Bayreuther Marktplatz. Das Theatrum Architecturae Civilis ist die einzige architekturtheoretische Schrift des Praktikers Dieussart, der in großen alten und neuen Monographien zur barocken Baukunst – Popp, Millon, Hersey – keine Erwähnung findet.

Die Titelkupfer aller drei Bände wurden von J. G. Lange gestochen.

3. Publikation
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3.1. Erstdruck
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Erschienen 1679 in Güstrow bei Hofbuchdrucker Christian Scheippel.


Standorte des Erstdrucks

3.2. Weitere Ausgaben
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Güstrow: Johann Spierling 1682.

Wiederauflage 1684.

Bayreuth: Johann Georg Amelung 1692.

Postum herausgegeben von Johann Leonhard Dientzenhofer in Bamberg bei Johann Jacob Immel, 1697.

3.2.1. Mikroform-Ausgabe der Wiederauflage von 1684
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Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 1994. Vorlage: Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign. 4.4 Geom. 2°.

3.2.2. Digitale Ausgaben
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- Digitale Ausgabe des Erstdrucks
- Digitale Ausgabe der Güstrower Ausgabe von 1682
- Digitale Ausgabe der Bayreuther Ausgabe von 1692
- Digitale Ausgaben der Bamberger Ausgabe von 1697

4. Inhalt
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Das Theatrum Architecturae Civilis, das Charles Philippe Dieussart seinem Fürsten und Dienstherrn Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen widmete, ist hauptsächlich eine Kupferstichkompilation, versehen mit programmatisch-theoretischen Einführungen und belehrenden Erläuterungen. Johann Leonhard Dientzenhofer erklärt, Dieussart habe das Werk „auß obgemeldten Authoribus [den im Titel genannten italienischen Architekten] zusammen getragen/ und in Truck gegeben“ (Vorrede der Ausgabe 1697).

Dieussart teilt sein Theatrum in drei Teile auf. Teil 1 besteht aus 12 Kapiteln Textkommentar und den dazugehörigen Kupferstichen I-IV. In der Vorrede „Dem Kunst-begierigen und geneigten Leser.“ (S. 1) betont der Verfasser zunächst mit Vitruv, seiner wichtigsten architekturtheoretischen Referenz, die Bedeutung historischer Kenntnisse für einen Architekten, wenn dieser seine Kunst – die „viele Partes in sich“ enthalte, daher „eine der vornehmsten“ Künste sei und „der wahren Weißheit gar nahe“ (S. 1) – verständig ausüben wolle. Programmatisch wählt Dieussart als erstes Architekturbeispiel ein Theater: Die Weisheitsnähe der Architektur sei „genugsahm darauß zu ersehen/ da die Wunder der Welt/ Ich wil sagen die Theatra und Amphitheatra, mit höchster Verwunderung zu Rom auffgeführet gewesen“ (S. 1). Anschließend beklagt er den Niedergang der Architektur durch Stümperhaftigkeit und Kriegsschäden – „Wor sind die Wunder der Welt?“ (S. 2). Vor der Folie des architektonischen ‚Barbarismus‘ des dunklen Mittelalters erscheinen die Architekten der italienischen Renaissance als Lichtgestalten, die die Antike in Praxis – er nennt Balthasar de Siena, Antonio Sangallo, Raphael Urbino, Michel Angelo – und Theorie – Palladio, Scamozzi, Serlio, Vignola – wieder in ihr Recht gesetzt hätten. Dieussart will Gemeinsamkeiten, vor allem den Rückgriff auf die vitruvianische Lehre, und Unterschiede seiner Vorbilder demonstrieren: „nur dieses ist es/ daß sie alle mit dem modulo (nach Vitruvii Lehre) ihre fundamentalische bahn gesetzet/ dahero der eine solche/ der andere eine andere Theilung gegeben. Diese Ungleichheit hat verursachet/ daß Ich auß curiosität dem Liebhaber die difference, durch Sechs vornehme und berühmte Autores nach Möglichkeit zu praesentiren, und für Augen zu stellen gäntzlich resolviret, darinnen durch parallelische demonstration, der Unterscheid/ so unter andern vorgehet/ kan ersehen werden/ [...].“ (S. 2)

Caput I, „Die Definition der Architectur.“ (S. 3), bringt nichts Neues, wiederum wird Vitruv ausgespielt, um die Architektur als eine aus vielen anderen bestehende Kunst bzw. Wissenschaft zu profilieren und die Notwendigkeit der Erfahrung „in theoria und praxi“ (S. 5) zu betonen. Auch das zweite Kapitel „Composition der Architectur.“ (S. 5) ist theoretisch ausgerichtet und stellt systematisch die Bestandteile dieser Kunst vor (Ordnung, Disposition, Idea Invention, Proportion, Ichnographia, Orthographia, Schenographia, Eurythmia, Symmetria, Zierde, Oeconomia). Die folgenden Kapitel 3-11 orientieren sich zunehmend auf die Praxis hin und handeln dabei – durchaus genretypisch und nach palladianischem Muster beschrieben (Vollmar 1983, S. 189) – zunächst die materialen Grundlagen ab (Holz, Steine, Sand, Metalle, Erde, Mauerwerk); Kapitel 12 „Handelt von innerlichen Zierathen der Gebäue“ (S. 24).

Der 2. Teil, eingeleitet durch ein separates Titelblatt (Theatrum Architecturae Ander Buch [...]), behandelt die Säulenlehren von sechs modellhaften Renaissancearchitekten – Palladio, Vignola, Scamozzi, Serlio, Branca und Cataneo. Nach einem begriffstheoretischen Vorlauf über die Architektur als Kunst und Wissenschaft allgemein sowie über Säulen im Speziellen geht es in den folgenden Kapiteln und den entsprechenden Kupferstichen (V-L) um die fünf klassischen Säulenordnungen (toskanische, ionische, dorische, korinthische, komposite) und jeweils zugeordnete exemplarische Bauwerke, z.B. „Branca Ordine Toscano“ (S. 41): Die Darstellungsmethode, die Säulenordnungen der neueren Architekten mit antiken Beispielen zu illustrieren, entlehnt Dieussart aus Roland Fréart de Chambrays bedeutendem Säulenbuch Parallele De L’Architecture Antique Et De La Moderne (1650) (Vollmar 1983, S. 190).

Im letzten, ebenfalls durch eine Titelseite eingeleiteten Band, Theatrum Architecturae. Drittes Buch [...], geht es in erster Linie um den Aspekt der Proportion – von Räumen, Stiegen, Fenstern. Der Textteil endet mit einer unvollständigen, nicht alphabetisch geordneten Begriffserläuterung: „Etymologia, oder Explication etlicher Terminorum oder Wörter der Architectur.“ (S. 95)

Bei den Abbildungen handelt es sich – abgesehen von den aufwändigen allegorischen Titelkupfern zu allen drei Bänden, die der Kupferstecher J. G. Lange signiert hat – keinesfalls mehr um barocke Repräsentationskupfer mit vornehmlich gesellschaftlicher und ästhetischer Funktion, sondern um präzise architektonische Zeichnungen: Grundrisse, Schnitte und Ansichten. Sie sind zum Teil mit den Namen der konkreten Bauwerke und der zugehörigen Architekten – Andrea Palladio, Giacomo Barozzi da Vignola, Ottavio Bertotti Scamozzi, Pietro Cataneo, Sebastiano Serlio, Giovanni Branca – versehen und tragen keine Signatur des Stechers.

5. Kontext und Klassifizierung
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Im 17. Jahrhundert entstanden im deutschsprachigen Bereich zahlreiche Abhandlungen zur Zivilbaukunst: Joseph Furttenbachs Architectura Civilis (1628), Johann Wilhelms Architectura Civilis (1649) sowie der unter seinem Namen vom Nürnberger Verleger Paul Fürst zusammengestellte Folgeband Architectura Civilis Pars II. (o.J.), Georg Andreas Böcklers Compendium Architecturae Civilis (1648), Architectura Civilis Nova & Antiqua (1663) und Architectura Curiosa Nova (1664), Nicolaus Goldmanns Vollständige Anweisung zu der Civil Bau-Kunst (1696 aus dem Nachlass hg. von Leonhard Christoph Sturm) und viele andere (siehe die Mikrofiche-Editionen Nachschlagewerke und Quellen zur Kunst). Jene nicht theoretisch-systematisch aufgebauten Werke wollen Anregungen und Modelle für die architektonische Praxis geben: „Zu einer im strengen Sinn theoretischen Neuorientierung kommt es nicht.“ (Kruft, S. 195) Häufig stehen sie in der Nachfolge italienischer Renaissancetheoretiker wie Sebastiano Serlio (L’Architettura, 1537-1551) und Andrea Palladio (Quattro libri dell’architettura, 1570), für die wiederum Vitruvs De Architectura libri decem (um 30 v. Chr.) prägend war.

Dieussart schließt mit seinem theatermetaphorisch aufgewerteten Titel an die Schriften Furttenbachs, Wilhelms, Böcklers und anderer an; inhaltlich ist sein Werk in weiten Teilen von der vitruvianischen Architekturtheorie und -praxis Italiens geprägt, die es in Text und Bild präsentiert. Speziell der zweite Band muss im Kontext der „zahllosen Säulenlehren des 17. und 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum“ (Kruft, S. 193) gesehen werden – Vollmar nennt die Säulenlehre zutreffend „ein Hauptanliegen der Architekturliteratur“, die Säule die „Hauptvokabel der Architektursprache“ des 16. und 17. Jahrhunderts (Vollmar 1991, S. 9).

6. Rezeption
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Bemerkenswerterweise erlebte Dieussarts instruktiv kommentiertes Kupferstichwerk vier Neudrucke in nur knapp zwanzig Jahren; Vollmar schließt daraus, dass es „zumindest kommerziell zu den erfolgreichsten Architekturbüchern in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gerechnet werden“ (Vollmar 1983, S. 189) muss. Man kann davon ausgehen, dass das Theatrum Architecturae Civilis – Hand in Hand mit der künstlerisch-praktischen Bautätigkeit des Verfassers und seiner Wirkung auf wichtige jüngere Kollegen wie Johann Leonard Dientzenhofer (1660-1707) und Paul Decker (1677-1713) – dazu beitrug, die vitruvianische Architektur der italienischen Renaissance in Deutschland bekannter zu machen.

7. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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