Einführung

David Nerreter: Schau-Platz Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen
Stefan Laube

1. Titel
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David Nerreters Schau-Platz Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen, Auf welchem, Nach Anleitung der VII. Abtheilung des unterschiedlichen Gottes-Diensts, Alexander Rossens, Der christlichen Kyrchen Anfang, Fortgang, Ausbreitung, Verhinderung, Verfolgung, Verwirrung, Kätzereyen, Spaltungen, deren Ursachen, und wie solche durch Gottes Gnade zu heben, und die zertrennten Kyrchen ohne Syncretisterey waarhafftig zu vereinigen, vorgestellet wird, Nürnberg, In Verlegung Wolfgang Moritz Endters, Gedruckt bey Johann Ernst Adelbulnern Anno 1707. Nürnberg: Endter, 1707. - Titelseite (Kupfertafel), 1192 pag. S., 10 Ill., 8°. [opac ↗146346262]

2. Verfasser
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David Nerreter (1649-1726) wurde 1649 in Nürnberg geboren. 1668 schrieb er sich als Theologiestudent an der Universität von Altdorf ein. Sein Studium setzte er an der Universität in Königsberg fort, wo er 1672 die Magisterwürde erhielt. Als Hofmeister von adligen Herren absolvierte er eine längere Reise nach Nordosteuropa. In Schweden und Russland hatte er Gelegenheit, die dortigen Verhältnisse von Kirche und Christentum mit den heimatlichen Zuständen zu vergleichen. Im Jahre 1677 erhielt Nerreter einen Ruf als Hofkaplan nach Oettingen. 1681 wurde er dort Diakonus und 1683 Konsistorialrat. Wenig später kehrte er in seine Heimatstadt Nürnberg zurück, um zunächst als Diakonus an der Heilig-Geist-Kirche, später an der Hauptkirche St. Lorenz tätig zu sein. In Nürnberg entstanden seine kirchen- und religionsgeschichtlichen Hauptwerke, in denen immer wieder sein vergleichender, ökumenischer Zugang zum Tragen kommt. Pietistisch inspiriert suchte er nach dem christlichen Kern, der allen Gläubigen gemeinsam sei, ohne die christliche Religion verwässern zu wollen. Nerreters kirchengeschichtliche Arbeiten sind bisweilen pointiert apologetisch, d.h. an der Vorzugsstellung des Christentums ließ er keinen Zweifel. Mit Wunderwürdige Juden- und Heiden Tempel (1700), mit der Neu eröffneten Mahometanischen Moschea (1703), in der der Koran nach der Vorlage der 1698 erschienenen lateinischen Übersetzung des italienischen Paters Ludovico Marracci (1612-1700) auf Deutsch erschien, sowie mit dem Schau-Platz Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen (1707) verfasste er so etwas wie eine religionshistorische Trilogie. Alle drei Arbeiten stützen sich lose auf Abhandlungen von Alexander Ross (1591-1654), insbesondere auf dessen mehrteiliges Werk Pansebeia. Or a View of All the Religions in the World (1653), auf Deutsch unter Alexander Rossen unterschiedliche Gottesdienste in der gantzen Welt (1674) erschienen. Nerreter erweitert die zum Vorbild erkorene Studie um zahlreiche ausführliche und kritische Zusätze. Der Schau-Platz Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen war dem preußischen König gewidmet. Dadurch wurde Friedrich I. von Preußen (1657-1713) auf den Verfasser aufmerksam und verschaffte ihm 1709 einen Posten als Generalsuperintendent des Herzogtums Hinterpommern und des Fürstentums Cammin. Elf Jahre war er in diesem Amt tätig. 1726 ist er in Stargard gestorben.

David Nerreter war als poeta laureatus unter dem Namen Philemon auch Mitglied des Pegnesischen Blumenorden, der 1644 gegründeten, noch heute bestehenden Nürnberger Sprach- und Literaturgesellschaft.

3. Publikation
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3.1. Erstdruck
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Die kleinformatige, voluminöse Abhandlung erschien 1707 einmalig beim Nürnberger Verlag Endter.


Standorte des Erstdrucks

3.2. Weitere Ausgaben
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3.2.1. Digitale Ausgabe
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4. Inhalt
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Im Schau-Platz Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen stellt Nerreter sein Anliegen ins Zentrum, die christlichen Konfessionskirchen einander anzunähern bzw. zu einigen. Unter Zugrundelegung des siebten Kapitels aus dem Unterschiedlichen Gottesdienst (1674) von Alexander Ross entfaltet der Autor in umfangreichen Zusätzen sein Verständnis von Anfang und Ausbreitung des Christentums in der antiken Welt, von den Verfolgungen der wahren Kirche, vom Aufkommen der Häresien und deren geschichtlichen Ausformungen sowie von den Kirchenspaltungen, die es nun zu überwinden gelte. Dies könne nach Nerreter aber nicht durch Lehrgespräche erreicht werden; denn das wäre der Versuch, „alle Köpfe unter einen Hut bringen“ (Vorrede, unpag.) zu wollen. Vielmehr müsse auf das „seeligmachende purlautre Wort GOttes (wie es in der ersten reinen und allgemeinen oder Catholischen Christlichen Kyrchen verstanden worden/ und in denen Haubt-Stücken des Catechismi begriffen ist)“ (Vorrede, unpag.), zurückgegriffen werden. Deshalb veröffentlichte Nerreter am Schluss des Schau-Platzes Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen erneut seine bereits 1688 publizierte katechetische Schrift Beweglicher Kurzer Begriff des Thätigen oder zeitlich – ewig – waarhafftig – seeligmachenden Christentums (S. 1145-1192). Dass Nerreter zu den Sympathisanten oder vielleicht sogar Anhängern des Spener’schen Pietismus gezählt werden kann, ist auch aus den „Verßlein“ (S. 1145) von Philipp Jakob Spener (1635-1705) ersichtlich, mit denen er diese Schrift empfohlen hatte und die Nerreter nun abermals zum Besten gab: „Was grosse Bücher sonst mit vielen ausgeführet// Vom Weg zur Seeligkeit/ wird hier nur kurtz berühret// Und dannoch so/ dass auch sich hier antreffen lässt// Was alles Christentum waarhafftig in sich fässt“ (S. 1145). Nerreters Interessengebiete sind sowohl Kirchengeschichte als auch praktische Seelsorge. Kirchengeschichtliche Darlegungen werden immer wieder von Ermahnungen unterbrochen, in der christlichen Kirche die Einheit zu wahren bzw. wiederherzustellen.

Nerreter orientiert sich in seinen Fragen am Katalog, den Alexander Ross in der siebten bzw. achten Abteilung seiner Studie vorgegeben hatte. In kurzen Fragen und ausführlichen Antworten werden auf den ersten knapp 300 Seiten sowie letzten 400 Seiten die Anfänge des Christentums abgehandelt. Nerreter geht also bei seinen Bemühungen um eine wiedervereinigte Kirche auf möglichst frühe Zeiten der Kirchengeschichte zurück. Er redet immer von den „alten Christen“, von den „ersten Christen“ oder von „der alten Kirchen“, die man sich zum Vorbild nehmen müsse. Um theologische Auseinandersetzungen kreisen seine Gedanken weniger, strebt er doch danach, über die wissenschaftlichen Meinungsunterschiede hinweg anhand der ersten Jahrhunderte der christlichen Kirche die Einigkeit im Glauben zu dokumentieren. Den Kern der Abhandlung bilden in gewisser Weise die Seiten 320-690. Hier geht Nerreter auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Kirchengeschichte ein. Er zeigt, wie das Christliche durch Sekten, Ketzereien und das Papsttum pervertiert worden sei. Die eigentliche Trennung im christlichen Glauben habe erst das Tridentinische Konzil verursacht, doch sei die wahre christliche Kirche dadurch nicht vernichtet worden (S. 500ff.). In diesem Zusammenhang fehlen bei Nerreter nicht polemische Äußerungen gegen das Papsttum. Aber er zeigt sich imstande, zwischen verwerflichen und vorbildlichen Päpsten zu unterscheiden und gelangt zu dem ausgewogenen Urteil, dass es auch im Papsttum Zeugen der evangelischen Wahrheit gegeben habe und man den Papst nicht per se für den Antichristen halten dürfe (S. 680ff.).

Zur Vermittlung seines kirchengeschichtlichen Wissens bedient sich Nerreter der katechetischen Methode, d.h. er erschließt sich die Materie durch Fragen und Antworten, eine Vorgehensweise, mit der er besonders die Jugend ansprechen konnte. Jenseits starrer Orthodoxie und unchristlicher ‚Syncretisterey‘ verfolgt Nerreter auf diese Weise das Ziel, alle Gläubigen unter dem apostolischen Glaubensbekenntnis zu vereinen. „Es ist aber der Christlichen Kyrchen nicht so wol um die Wissenschaft als um den seeligmachenden Glauben zu thun. Dieser ist nur ein einziger, und macht, die solchen haben, alle einig in Christo“ (Vorrede, S. 5). Der Glaube soll dabei nicht nur gelehrt und gelernt, sondern verinnerlicht werden, damit er gelebt werden kann, denn – so schreibt Nerreter in einer anderen Schrift: „Der wahre Glaube ist keine bloße Einbildung, sondern worauf er gerichtet ist, das eignet er ihm alles zu in der Tat.“ (Tätiges Christentum [1688], S. 6)

Bildgehalt: Das Frontispiz zeigt eine Kirchenarchitektur auf dem Berg einer einsamen Felseninsel in einer sturmbewegten See. Die Insel wird nicht nur von Kanonenkugeln, die von Kriegsschiffen abgefeuert werden, getroffen, sie wird auch von Teufeln belagert, die vom Himmel fallen. Auf einer separaten Seite wird dieses Titelkupfer über den Bibelvers Matth. 16, 18 in Versen erklärt. Kupferstiche zeigen Ganzkörperdarstellungen von Jesus (S. 6), Aposteln (Bildtafel mit 12 Bildfeldern in drei Reihen, S. 90) und Papst Clemens IX. (1649-1721), auf dem Thron sitzend (S. 676). Besonders eindringlich werden barfüßige Inquisitionsopfer in ihrer Strafkleidung gezeigt (S. 615, S. 616, S. 616b, S. 620). Weitere Kupfertafeln zeigen den Titus-Triumphbogen in Rom bzw. eine dortige bekannte Reliefdarstellung der Zerstörung des jüdischen Tempels (S. 41, S. 42). Auch die Verlesungszene der Augsburgischen Konfession auf dem Reichstag wird visualisiert (S. 489).

5. Kontext und Klassifizierung
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Nerreters Schau-Platz Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen muss im Kontext seiner in den Jahren zuvor entstandenen religionsgeschichtlichen Abhandlungen gesehen werden. 1701 gab er unter dem Titel Der Wunderwürdige Juden- und Heiden-Tempel eine Schrift des englischen Religionshistorikers Alexander Ross heraus. Darin verbindet er die Beschreibung der außerchristlichen Religionen und Bräuche mit seelsorgerischen Absichten. Nerreter stellt heraus, dass alle heidnischen Religionen einen Abfall von Gott darstellten. Seine wichtigste islamkundliche Arbeit, die Neu eröffnete Mahometanische Moschea, erschien 1703. Unter Rückgriff auf das sechste Kapitel des Unterschiedlichen Gottesdienstes von Ross präsentiert er im ersten Teil dieses voluminösen Werks sein Mohammedbild und sein Islamverständnis. Für ihn war Mohammed der „Ertzbetrüger“ (Vorwort, unpag.), der auf Antrieb Satans „nebst sich so viel tausend Menschen verderbt, und einen grossen Theil der Erden-Welt bezaubert hat“. Er habe das deshalb bewirken können, weil die Christenheit im sechsten Jahrhundert unter sich uneins gewesen sei und über Gottes Wort lieber disputiert als danach gelebt habe. Daher sei es nicht verwunderlich, dass es dem Islam gelungen sei, sich so rasch und mächtig in Asien, Afrika und Teilen Europas auszubreiten.

Nerreters Schau-Platz Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen entstand zu einer Zeit, als die festen Grenzen zwischen den Religionen und einzelnen christlichen Konfessionen durchlässiger zu werden begannen. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) hatte eine Vereinigung der Religionen als unerlässliche Voraussetzung auf dem Weg zu einer Gesamtharmonie im Sinn und traute hierbei dem Protestantismus die Kraft zur ständigen Selbstreinigung der geeinten christlichen Religion zu. Die christliche Weltmission à la Leibniz schottete sich nicht ab, sondern öffnete sich fremden Religionen und integrierte sie in die große Harmonie, die aus gemeinsamer Anbetung des Schöpfers erwachsen sollte. Zudem fällt Nerreters Abhandlung in eine Zeit, als sich das Luthertum in seinen pietistischen Ausprägungen zunehmend als Missionsbewegung begriff und auf neue geographische Räume ausgriff.

Der Grundgedanke der Einigung der christlichen Kirchen ist auch Thema von Nerreters Spätschrift Notwendige Einigkeit der wahren christlichen Kirche (1724), in der er von neuem den Unionsgedanken aufnahm. Immer wieder stellt er heraus, das Wissen nicht zu überschätzen, sondern den Geist in Glaube und Liebe zu beweisen. Valentin Ernst Löscher (1673-1749), Hauptvertreter der lutherischen Orthodoxie, öffnete den Widersachern Nerreters seine Zeitschrift Unschuldige Nachrichten. Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen auf das Jahr 1726.

6. Rezeption
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Indizien sprechen dafür, dass David Nerreters Schau-Platz Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen gerade als letzter Teil seiner religionsgeschichtlichen Trilogie zum Zeitpunkt seines Erscheinens Aufsehen erregt hat. Der Hallesche Pietist Bartholomäus Ziegenbalg (1682-1718), der in Indien im Auftrag der dänischen Krone missionierte und ein Manuskript mit dem Titel Genealogie der malabarischen Götter (1713) verfasste, soll die Schriften David Nerreters gekannt haben. Nerreters Rezeption wird auch von der Wirkung des schottischen Polyhistors Alexander Ross, der sich u.a. auch durch die vehemente Widerlegung der kopernikanischen Thesen einen Namen machte, profitiert haben. Nerreter nennt Alexander Ross in jedem seiner religionshistorischen Hauptwerke als Referenzquelle und erweckt zunächst den Eindruck, als handele es sich bei seinem Text nur um eine Übertragung. Dabei verfasst Nerreter selbstständige Arbeiten; die Texte von Ross sind allenfalls als Initialzündung zu verstehen.

7. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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