Einführung

Abraham Ortelius: Theatrum Orbis Terrarum
Martin Knoll

1. Titel1
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Theatrvm oder Schawplatz des erdbodems, warin die Landttafell der gantzen weldt, mit sambt aine der selben kurtze erklarung zu sehen ist. Durch Abrahamum Ortelium. Antwerpen: Egidius Coppens van Diest, 1572. - Titelblatt (Kupfertafel), 5 unpag. Bl., 53 Karten mit pagn. Rückentexten, 3 unpag. Bl., 2°.

2. Verfasser und Verleger
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Abraham Ortelius wurde 1527 in Antwerpen als ältestes von drei Kindern des Kaufmannes Leonard Ortels (1500-1537) und seiner Frau Anne Herreweyers geboren. Über seine Jugend und seine Ausbildung ist wenig bekannt. Ortelius besuchte keine Universität. Seine umfassende Bildung scheint er weitgehend autodidaktisch erworben zu haben. 1547 wurde er als „Afsetter van carten“ (Meurer, S. 18) in die Antwerpener St. Lukas-Gilde aufgenommen, ab 1558 weisen ihn die Rechnungen des Verlagshauses Plantijn als Illuminator von Karten aus. Daneben handelte er selbst mit Büchern und Landkarten, war regelmäßig auf den Frankfurter Messen präsent und unterhielt internationale Kontakte. Er beherrschte neben Griechisch und Latein mehrere moderne Fremdsprachen und bereiste u.a. Italien, Deutschland, Frankreich und die Britischen Inseln. Die Religiosität des katholisch getauften und beerdigten Ortelius entzog sich – wie die mancher seiner Zeitgenossen – einer eindeutigen konfessionellen Verortung. Zeitweise Kontakte zur reformierten Sekte „Het Huys der Liefde“ (Meurer, S. 18) standen dabei nicht im Widerspruch zu einem guten Verhältnis zur spanischen Obrigkeit. 1573 wurde er von König Philip II. zum „Geographus Regius“ (Meurer, S. 18) ernannt. Nach dem Erwerb und der Zusammenlegung zweier Anwesen in Antwerpen konnte Ortelius auch seine umfassende Bibliothek sowie seine Münz-, Antiquitäten- und Naturaliensammlung adäquat unterbringen. Diese Sammlung zog zahlreiche Besucher an, u.a. 1594 und 1595 die Habsburger Erzherzöge. Der unverheiratete Ortelius starb 1598. (Zu den biographischen Angaben siehe Meurer, S. 17-19)

Das Theatrum Orbis Terrarum wurde von Abraham Ortelius zunächst im Selbstverlag herausgebracht und in Antwerpen anfänglich bei Egidius Coppens van Diest (um 1496-1572) gedruckt. Ab 1579 übernahm Christoph Plantijn (um 1520-1589) den Druck; er verlegte das Werk ab 1588 auf eigene Rechnung (Koeman et al., S. 1319). Spätere Antwerpener Ausgaben wurden außer in der der Plantijnschen Offizin auch bei Johann Baptist Vrients gedruckt. Vrients kaufte sowohl die Druckplatten des Theatrum Orbis Terrarum als auch die von Gerard de Jodes Konkurrenzwerk Speculum Orbis Terrarum (1758) auf, um dann aber – wohl im Sinne einer Marktbereinigung – fast ausschließlich das publizistisch erfolgreiche Ortelius-Material zu verwerten (Koeman et al., S. 1322f.). Nach dem Tod Johan Baptist Vrients 1612 gingen die Platten beider Atlaswerke an das Druckhaus Moretus. Jan Moretus I. (1543-1610), Schwiegersohn Christoph Plantijns, hatte nach dem Tod seines Schwiegervaters 1589 die Leitung der renommierten Officina Plantiniana übernommen. Ihm folgte sein Sohn Balthasar I. Moretus (1574-1641). Das Druck- und Verlagshaus wurde bis 1866 in Familienbesitz fortgeführt. Der Gebäudekomplex dokumentiert heute die Verlagsgeschichte als Museum und wurde in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen.

3. Publikation
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Dem erfolgreichen lateinischen Erstdruck von 1570 folgten in den Jahren 1571-1573 neben weiteren lateinischen Ausgaben auch volkssprachliche Drucke in Niederländisch, Deutsch und Französisch; eine erste spanische Ausgabe erschien 1588, eine englische Ausgabe 1606 und eine italienische 1608. Zwischen 1570 und 1641 erschienen über 40 Ausgaben (Koeman et al., S. 1319). Zu Lebzeiten Abraham Ortelius‘ erschienen auch fünf Supplemente („Additamenta“ 1573, 1579, 1584, 1590 und 1594/55), die den Kartenbestand des Theatrum Orbis Terrarum aktualisierten und erweiterten. Sie wurden sowohl einzeln vertrieben als auch in die Neuausgaben des Theatrum eingearbeitet. Eine umfassende Aufstellung von Ausgaben des Theatrum Orbis Terrarum, der Additamenta und Epitomes bietet van der Krogt, Editions (Meurer, S. 40-42). R. A. Skelton geht, gestützt auf die Analysen der Plantijnschen Abrechnungen durch Denucé, davon aus, dass über Plantijn im Jahre 1570 159 Exemplare und in den Jahren zwischen Erstausgabe und Ortelius‘ Tod 1598 2200 Exemplare abgesetzt wurden (Skelton, S. IX; Imhof). Mehr als ärgerlich dürfte für Abraham Ortelius die Markteinführung seines Theatrum Orbis Terrarum in Deutschland verlaufen sein, da der deutschsprachige Raubdruck des Nürnberger Druckers Johann Koler noch vor Ortelius‘ autorisierter deutscher Version in den Handel gelangte (Schneider, S. 8).

3.1. Erstdruck
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Der Erstdruck der lateinischen Ausgabe ist auf den 20. Mai 1570 datiert und wurde auf Ortelius‘ eigene Rechnung bei Egidius Coppens van Diest in Antwerpen gedruckt. Auch die erste (autorisierte) deutschsprachige Ausgabe aus dem Jahre 1572 wurde von diesem Drucker besorgt.


Standorte des lateinischen Erstdrucks

3.2. Weitere Ausgaben
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3.2.1. Neueditionen
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Theatrum Orbis Terrarum. Lausanne: Sequoia S.A. 1964. Reprint der Ausgabe Antwerpen 1570.

Abraham Ortelius: Theatrum Orbis Terrarum. With an Introduction by R. A. Skelton (Theatrum Orbis Terrarum series of facsimile atlases, 1st ser. 3). Amsterdam: N. Israel/Publisher - Meridian Publishing Co. 1964. Reprint der Ausgabe Antwerpen 1570.

Theatrum orbis terrarum. Antwerpen: Standaard 1970. Reprint der Ausgabe Antwerpen 1570.

Theatrum orbis terrarum. Kyoto: Rinsen 1991.

Theatrum Orbis Terrarum. Darmstadt: WBG 2006. Reprint der Ausgabe von Johann Koler, Nürnberg 1572.

Theatrum Orbis Terrarum. Firenze: Giunti Gruppo Editoriale 1991. Reprint der Ausgabe Antwerpen 1595.

The Theatre of the whole World. With an Introduction by R. A. Skelton (Theatrum Orbis Terrarum series of facsimile atlases, 4th ser. 4). Amsterdam: Theatrum orbis terrarum 1968. Reprint der Ausgabe London 1606.

Epitome Theatri Orteliani, præcipuarum orbis regionum delineationes, minoribus tabulis expressas, breuioribus´que declarationibus illustratas, continens. Weesp: Robas BV 1996. Reprint der Ausgabe Antwerpen: Philippo Gallaeo excudebat Christophorus Plantinus 1589. (nur Karten)

3.2.2. Digitale Ausgaben
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- Digitale Ausgaben verschiedener Ausgaben

- Bilddigitalisate des Exemplars der Biblioteca nazionale Marciana Venezia

4. Inhalt
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Das Titelkupfer zeigt eine antikisierende Portalarchitektur, in deren Zentrum eine Inschrift den Buchtitel trägt. Vier Frauenfiguren verkörpern die vier bekannten Kontinente: oben sitzend Europa (gekrönt, mit Reichsapfel und Zepter), links stehend Asien (orientalisch gekleidet), rechts stehend Afrika (weitgehend nackt), unten lagernd Amerika (die vermeintliche Wildheit des Kontinents und seiner Bewohner durch die völlige Nacktheit der Figur und wohl eine Anspielung auf den in vielen Reiseberichten stereotyp kolportierten Kannibalismus inszeniert: Die Figur hält den Kopf eines enthaupteten Europäers). Eine fünfte Figur unten rechts ist nur als Büste im Bild. Sie verkörpert Magellanica als noch unbekannte Erdgegend. Das Bildprogramm wird in einem anschließenden Gedicht („Frontispicii explicatio“) aus der Feder Adolf van Meetkerckes (Adolphus Mekerchus 1528-1591) erklärt. In Bild und Text wird ein kulturelles und politisches Gefälle zwischen den als Nymphen angesprochenen Erdteilallegorien inszeniert, an dessen Spitze Europa steht („Arce sedet summa solio Regina superbo EUROPE […]“), gefolgt von Asien, Afrika und mit deutlichem Abstand Amerika. Während die „Frontispicii explicatio“ in der ersten niederländischen Ausgabe durch eine volkssprachliche Übersetzung von M. Peeter Heyns ersetzt wird, bleibt sie in der deutschen Ausgabe von 1572 im lateinischen Original erhalten. Alle drei Ausgaben enthalten ferner eine Widmung an Philipp II. von Spanien. Im Gegensatz zur lateinischen Erstausgabe ziert die Eingangsseiten der niederländischen und der deutschen Ausgabe auch ein Motto M. Tullius Ciceros, das die Bestimmung des Menschen zur visuellen und verstandesmäßigen Welterfahrung unterstreicht, sowie ein Epigramm Daniel Roger Albimontanus’, das auch bereits teilweise in den lateinischen Ausgaben des Jahres 1570 erscheint (zu den Versionsunterschieden der 1570-er Ausgaben siehe Koeman, S. 34).

In der anschließenden Vorrede an den Leser erläutert Ortelius seine Vorgehensweise und den Aufbau des Theatrum Orbis Terrarum. Die lateinischen Ausgaben enthalten daneben einen ausführlichen „Catalogus auctorum tabularum geographicarum“, der nicht nur insofern Aufmerksamkeit verdient, als Ortelius hier sorgfältig alle Autoren der von ihm verwendeten Karten dokumentiert. Dieser Passage kommt auch als kartografiehistorisches Repertorium jenseits des Theatrum Orbis Terrarum erheblicher Quellenwert zu (Koeman et al., S. 1320; siehe auch Meurer, S. 87-276). Der unpaginierte Eingangsteil der lateinischen Erstausgabe des Theatrum Orbis Terrarum wird von einem Karten- und Ortsregister sowie von einer Errata-Liste abgeschlossen.

Den Kern des Werkes bildet eine Sammlung von 53 Kartenblättern, denen vorderseitig kurze, von S. 1 („Orbis Terrarum“) bis 53 („Barbaria“) paginierte topografische Texte zugeordnet sind. Diese knappen Texte orientieren sich mehr oder weniger eng am so genannten landeskundlichen Schema, einem bereits in der antiken Geografie entwickelten und durch das mittelalterliche Städtelob, die humanistische Geografie und die Apodemik adaptierten Themenkatalog topografischer Charakteristik, der Informationen zur Bezeichnung, zur geografischen Lage, zum Klima und zur naturräumlichen Ausstattung einer Region beinhaltet, aber auch historische Stoffe mit Schwerpunkt auf der Herrschaftsgeschichte, Angaben zum Gesellschaftsaufbau, zu Landwirtschaft, Handel und Gewerbe sowie mitunter zu ethnografischen Eigenheiten enthält. Marcel van den Broecke hat in seiner Studie über die Texte des Theatrum Orbis Terrarum auf den Unterschied zwischen den lateinischen Ausgaben und den sehr eng daran orientierten englischen, spanischen und italienischen Übersetzungen auf der einen Seite und den volkssprachlichen deutschen, französischen und niederländischen Ausgaben auf der anderen Seite hingewiesen (van den Broecke, S. 269). Erstere rekurrierten in größerem Umfang auf literarische Vorlagen und forderten vom Leser neben Latein- auch Griechischkenntnisse ein, trügen mithin stärker gelehrtes Gepräge. Letztere dagegen sprächen die Leserschaft persönlicher an, berichteten im größeren Umfang vermeintliche eigene Reiseerlebnisse und ‚human interest’ und trügen tendenziell populäreren Charakter.

In der Gliederung des Theatrum Orbis Terrarum etwas exzentrisch und außerhalb des paginierten Bereichs angesiedelt ist ein Brief des britischen Geografen Humphrey Llwyd (ca. 1527-1568) vom 5. April 1568, der im Umfang von beinahe sechs Druckseiten die Inseln Anglesey und Man beschreibt. Lwyd hatte Ortelius im August 1568 eine Karte von Wales und zwei Karten von England sowie eine textuelle England-Beschreibung zugesendet und war kurz danach verstorben. Ortelius übernahm zwei der Karten in spätere Theatrum Orbis Terrarum-Ausgaben. Der vollständige Abdruck von Lwyds umfangreicher Beschreibung der Inseln Anglesey und Man sollte auch in den Folgeausgaben eine einsame Ausnahme bleiben und gelangte in keine volkssprachliche Ausgabe außer der englischen (van der Krogt 1998, S. 71-72).

Der Kartenbestand wird von einer Weltkarte („Typus Orbis Terrarum“) eingeleitet, die die vier Erdteile Amerika, Afrika, Europa und Asien zeigt, hinsichtlich der beiden Polregionen freilich noch viel ‚weiße Fläche’ visualisiert. Die „Terra australis“ benannte antarktische Region firmiert denn auch als „nondum cognita“. Ähnliche Signaturen begrenzten geografischen Wissens trägt auch die Übersichtskarte über Amerika im Norden des Kontinents. Es folgen jeweils Karte und Beschreibung Asiens, Afrikas und Europas. Der Sammelband von van den Broecke, van der Krogt und Meurer bietet eingehende Analysen der verschiedenen globalen und regionalen Kartografien.

Die Kartenauswahl des Theatrum Orbis Terrarum ist – wenig verwunderlich – eurozentrisch. Den genannten Universal- und Erdteilkarten folgen Beschreibungen der Britischen Inseln (S. 6), Spaniens (S. 7), Portugals (S. 8), Frankreichs (S. 9), der Regionen und Territorien im Raum des heutigen Frankreich (S. 10-12), Deutschlands („Germania“, S. 13) und der Territorien und Regionen Mitteleuropas einschließlich der Niederlande und Dänemarks (S. 14-30); der Schweiz (S. 31), Italiens (S. 32) und darin vorfindlicher Territorien (S. 33-37), der Inseln Sizilien, Sardinien, Malta, Elba, Korfu und Djerba auf einem Kartenblatt (S. 38), der Inseln Zypern und Kreta (S. 39), Griechenlands (S. 40), Slawoniens (S. 41), Ungarns (S. 42), Transsylvaniens (S. 43), Polens (S. 44), Skandinaviens (S. 45), Russlands bzw. des Moskowiterreichs, der Tartarei („Tartaria sive magni chami imperium“, S. 47), Indiens und Südostasiens (S. 48), Persiens (S. 49), des Osmanischen Reichs (S. 50), Palästinas (S. 51), Kleinasiens (S. 52), Ägyptens und Karthagischen Pforte (Tunis, S. 52), sowie der nordafrikanischen Küste („Barbaria“, S. 53).

Die Karten differieren in Abhängigkeit von ihren Vorlagen sowohl in stilistisch-formaler Hinsicht als auch bezüglich der gebotenen Qualität und Quantität geografischer Information. So hebt sich etwa die Beschreibung des Fürstbistums Salzburg („Salisburgensis iurisdicitionis locorumque vicionorum vera descriptio Auctore Marco Secznagel Salisburgense“, S. 28) durch eine kompositorisch aufwändig gestaltete Verbindung von Territorialkarte und Stadtvedute von den übrigen Karten ab. Eine ähnliche, mit zwei ikonografischen Ebenen operierende Kartografie inszeniert den Comer See (S. 35). Reichhaltiges Figureninventar bei gleichzeitiger umfassender Beschriftung macht die Karten von Moskowiter- und Tartarenreich zu historiografisch-narrativen Medienverbünden (S. 46, 47). Die bereits angesprochenen Grenzen geografischer Kenntnis gerade peripherer Weltregionen führt u.a. im Falle Indiens und Südostasiens zu nicht unerheblichen Verzerrungen in der kartografischen Repräsentation der Region.

Ein Ortsnamenindex, der antike bzw. lateinische und volkssprachliche Bezeichnungen von Regionen, Inseln, Städten, Festungen, Bergen und Gebirgsregionen, Wäldern, Gewässern etc. erschließt und der zweigeteilt sowohl nach den lateinischen als auch nach den volkssprachlichen Namen geordnet ist, schließt das Theatrum Orbis Terrarum ab.

5. Kontext und Klassifizierung
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Ortelius‘ Theatrum Orbis Terrarum haftet das Etikett an, es handele sich bei diesem Werk um den ersten modernen Weltatlas. Die kartografiehistorische Forschung bestätigt dies im Prinzip, bemüht sich aber um Differenzierung. Cornelis Koeman und seine Co-Autoren definieren Atlanten als in gebundener Form publizierte Sammlungen gedruckter, inhaltlich, formal und hinsichtlich ihrer Größe standardisierter Landkarten, die durch textuelle Informationsbestände ergänzt werden (Koeman et al., S. 1318, siehe auch van der Krogt 1998, S. 55-61). Bereits der einflussreiche – und wegen seiner Raumtheorie umstrittene – Geograf Friedrich Ratzel (1844-1904), Autor des Lemmas über Abraham Ortelius in der Allgemeinen Deutschen Biographie, äußerte sich abwägend zum Theatrum Orbis Terrarum. Er bezeichnete es zwar als ersten großen Atlas des 16. Jahrhunderts (Ratzel, S. 429), diskutierte dessen innovatorischen Charakter aber ambivalent: „Des Ortelius' Atlanten sind die dem modernen Bedürfnisse angepaßten wesentlich bereicherten ptolemäischen Kartensammlungen, die des Mercator sind Neuschöpfungen, wie das erweiterte Wissen auf neuer Grundlage sie verlangte.“ (Ratzel, S. 431) Auch Koeman et al. bringen die Atlas-Werke Abraham Ortelius’ und Gerhard Mercators insofern in Bezug zueinander, als Ortelius mit dem Theatrum Orbis Terrarum ein Buch veröffentlicht habe, „that might be called a modern world atlas“, während Mercator ein solches Buch als erster auch so benannt habe (Atlas sive Cosmographicae meditationes de fabrica mundi et fabricati figura, Duisburg 1585-95) (Koeman et al., S. 1318). Gerard de Jodes zeitnah erschienenes, ähnlich profiliertes Werk trug übrigens den Titel Speculum Orbis Terrarum (Antwerpen 1578). Peter H. Meurer geht davon aus, dass – egal wie eng oder weit man die Gattung der Atlanten definiere – das Theatrum Orbis Terrarum„weder der erste Atlas überhaupt noch der erste gedruckte Atlas noch der erste Weltatlas“ gewesen sei (Meurer, S. 1; ähnlich Skelton, S. V). Er mahnt terminologische Präzision an und kennzeichnet das Theatrum Orbis Terrarum als „das erste ‚eigenständig erschienene, systematisch und weltweit angelegte Druckwerk, dessen bewußter quantitativer und thematischer Hauptinhalt geographische Karten sind‘“ (Meurer, S. 1).

Ortelius‘ Titelwahl verbindet die Theatrum-Metapher mit dem schon in römischer Antike und Mittelalter zur Bezeichnung der bewohnbaren Welt gebrauchten Begriff des orbis terrae bzw. orbis terrarum (Skelton, S. VII-VIII). Letzterer wurde auch in der frühneuzeitlichen Kartografie übernommen, so in Ortelius‘ eigener Weltkarte von 1564. Die Verbindung beider Begriffe findet sich bereits im Werk Ciceros („Ut me et quaesturam maeam quasi in aliquo orbis terrae theatro versari existimarem“; In Verrem, XIV, 35, zit. nach Skelton, S. VIII), dessen Rezeption durch Ortelius wahrscheinlich ist. Auch im zeitgenössischen Umfeld kurz vor Erscheinen des Theatrum Orbis Terrarum waren Werke publiziert worden, die sich der Welttheater-Metapher bedienten, so 1561 der Traktat Le Théâtre du Monde, où il est faict un ample discours des misères humaines von Pierre Boaistuau, dessen englische Ausgabe um 1566 von John Alday unter dem Titel Theatrum Mundi. The theatre or rule of the world herausgebracht wurde (Skelton, S. VIII). Die Verbreitung von Ortelius’ Theatrum Orbis Terrarum in verschiedenen Ländern popularisierte ihrerseits den Welttheater-Begriff in seinen lateinischen wie landessprachlichen Varianten und verschaffte ihm Zutritt zu unterschiedlichen literarischen Gattungen.

Das Differenzierungsbedürfnis der Kartografiehistoriker hinsichtlich der gattungsgeschichtlichen Positionierung des Theatrum Orbis Terrarum erklärt sich aus der Komplexität seines Entstehungskontexts in der florierenden niederländischen Kartenherstellung der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die geografische Konjunktur des späten 15. und 16. Jahrhunderts wird von Klaus A. Vogel als Rückkoppelungsprozess unterschiedlicher Wissensbestände und wissenschaftlicher Zentren beschrieben, in deren Zusammenhang er Columbus‘ Reise als erstes großes Experiment der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte charakterisiert (Vogel, S. 478). Entdeckungen und neue geografische Einsichten (Schiffbarkeit des gesamten Meeres, Zugänglichkeit aller Teile der Erde, Erde und Wasser bilden zusammen einen einzigen Globus) führten zu einer disziplinären Reorganisation der Kosmografie. Sie orientierte sich weg vom mittelalterlichen Studium des Gesamtuniversums mit seinen Projektionen von kosmischen Objekten und Sphären auf die bewohnte Welt und weg von der Diskussion über eine diesbezügliche Grenzziehung, hin zur Geografie als Studium der oikumene. Im Zuge der Entdeckungsreisen löste der terrestrische Globus, verstanden als einheitliche Sphäre von Erde und Wasser (globus terraqueus) das traditionelle Bild von einander getrennter elementarer Sphären ab und wurde zur geografischen Grundvorstellung (Vogel, S. 469f.). Die kosmo- und geografische Szene differenzierte sich aus. Vogel unterscheidet mehr praktisch orientierte Protagonisten von theoretisch-wissenschaftlich ausgebildeten Kosmografen. Die Praktiker hatten meist nautische Erfahrung. Viele von ihnen entstammten Seefahrer- und Handelsfamilien und arbeiteten in der Seefahrtsverwaltung, z. B. dem Almezém de Guiné (Lagerhaus für Guinea und Indien) in Lissabon oder der Casa de Contradación (Handelshaus) in Sevilla. Bei unterschiedlichen Latein- und Mathematikkenntnissen konnten sie mit einfachen Methoden Breitenberechnungen vornehmen und sich selbst mit Karten und Globen orientieren. Die akademischen Kosmografen verfügten über Latein-, mitunter Griechischkenntnisse und hatten Mathematik als Teil der septem artes liberales studiert. Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts rekrutierten sie sich in zunehmendem Maße aus Mathematikern, Naturphilosophen und Ärzten. Kosmografie verband naturphilosophische Konzepte und Erfahrungswissen von Seeleuten und Reisenden, deskriptive Erzählungen, die auch auf Kenntnissen der Theologie und der antiken Autoren beruhte, und geografisches Handwerk der Karten- und Globenproduktion. Geografisches Wissen war von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung von Handel und Vermessung neuer Territorien (Vogel, S. 471f.).

Italien kam in der Formationsphase der frühneuzeitlichen Geo- und Kartografie eine zentrale Rolle zu. Die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende humanistische Ptolemaios-Rezeption nahm hier ihren Ausgang. Der Florentiner Jacopo d’Angelo legte 1406 die erste lateinische Übersetzung von Ptolemaios’ Geographia vor. Im Laufe des 16. Jahrhunderts gewannen die Niederlande und hier zunächst vor allem das wirtschaftlich potente Antwerpen Vorrangstellung als Zentrum der kartografischen Publizistik. Abraham Ortelius selbst verkörpert die kartografischen Beziehungen zwischen den Zentren. Ortelius hatte im Auftrag des Antwerpener Kaufmanns Egidius Hooftman und in Zusammenarbeit mit dessen Mitarbeiter Johannes Radermaker 38 meist bei Michele Tramezzino in Rom gedruckte Karten zu einem Buch gebunden. Dieses handliche Werk, wohl eine der Inspirationsquellen für Ortelius‘ Theatrum Orbis Terrarum, sollte Hooftman bei der Planung der globalen Handelsfahrten seiner Schiffe ebenso unterstützen wie bei der buchstäblichen Verortung von Nachrichten über kriegerische Ereignisse in Europa (Koeman et al., S. 1318f.). Verortung und Veranschaulichung von Geschichte und Geschichten sind denn auch die von Ortelius programmatisch explizierten Motive für die Publikation des Theatrum Orbis Terrarum:

„Wie seher das die erkhantnuß der Landtschafften vnd des Meers, die glegenhait der Berg, Thäl, vnd Stett, das fliessen der Fluß. &c. (die man in Grieckischer sprach mit ainem wort Geographia nennet, vnd von etlichen Gelerten (nit zu vnrecht) das Aug oder Gesicht der Historien zugenant wiert) zu diser erkhandtnuß der Historien oder Geschicht von nöten ist, das wir der sollichs die nur schlechtlich derhalben ain vvenig darin erfaren, vnd underweillen ainige Historia zu lesen fur sich genomen haben (acht ich) woll innen. Dan es khomen vns in Historien vill sachen, nemblich Zug von grossen Printzen, Hern, vnd treffentlichen Mennern; weichung, raumung, vnd fliehen der volckern, schiffart von frembden Lendern, &c. zum vorschein: welche man, ohne dises wissen vnd erkhantnuß, nit allain woll verstehen vnd begreiffenkhann, aber offt woll vberzwerch vnd das widerspill verstanden, oder ainen andern sin (die nie vermaint) darauß geschöpfft vnd genomen wiert. Also das alßdan vmb sunst vnd zu vergebs darin gearbeit, vnd der costlich zeit, ohne empfindbarn schmackh derhalben zu geniessen, verschliessen wiert.“ (Vorrede, fol. Aiiijr)

Die Ereignisse des Welttheaters bedürfen der Konkretisierung des Schauplatzes. Geo- und Kartografie als ‚Auge der Geschichte’ sind ein in der geografischen Publizistik ebenso gerne bemühtes Motiv wie das des Autopsie-Ersatzes, des Angebots, ein „Reisen im Lehnstuhl“ (Büttner, S. 166) zu ermöglichen. Auch Sebastian Münsters 1544 erstmals erschienene Cosmographia (weitere Ausgabe 1545) war mit diesem Anspruch aufgetreten; auch sie war – bei Schwerpunktsetzung auf der textuellen Beschreibung – ein Medienverbund aus Kartografie, grafischen Darstellungen und Text. Und auch sie kann als eine der Inspirationsquellen für Ortelius’ Atlasprojekt verstanden werden. Ortelius seinerseits und der Erfolg seines Theatrum Orbis Terrarum regten die Entstehung der Braun/Hogenberg’schen Civitates Orbis Terrarum (1572) und weiterer Städteatlanten an. In zeitlicher Nähe zum Ortelius-Atlas entstanden auch erste preiswertere Taschenatlanten (so die Epitome, ein Auszug des Theatrum Orbis Terrarum mit volkssprachlichen, gereimten Texten ab 1577, ab 1588 unter diesem Titel, vgl. van der Krogt 1998, 76f.), nautische Atlanten, Regionalatlanten und historische Atlanten (Koeman et al., S. 1318, S. 1330-1341). Als gattungsgeschichtliche Klimax können die konkurrierenden Projekte aufwändiger mehrbändiger Atlanten von Willem Janszoon Blaeu (1571-1638) bzw. von dessen Sohn Johann Blaeu (1596-1673) auf der einen und Johann Janssonius (1588-1664), Schwiegersohn von Jodocus Hondius (1563-1612), auf der anderen Seite gelten, die jeweils an die Atlanten von Ortelius und Mercator anknüpften.

Ortelius‘ Leistung besteht nicht nur darin, Karten gesammelt, nachgestochen und kompiliert zu haben. Unterstützt von zahlreichen Kooperationspartnern, unter ihnen der oben genannte Frans Hogenberg (1535-1590), erstellte er ein formal vereinheitlichtes, ästhetisch hochwertiges und im Buchformat gut lesbares Kartenprogramm, das im Laufe der Folgeausgaben ständig erweitert und inhaltlich aktualisiert wurde. Versammelte die 1570-er Erstausgabe 53 Karten, waren es 1598, im Todesjahr Ortelius‘, 119 und 1612 164 Blätter (Koeman et al., S. 1319; Meurer, S. 1; van der Krogt 1998, S. 379-381). Anders als Friedrich Ratzel sieht Tom Conley erhebliches innovatorisches Potenzial, das das Theatrum Orbis Terrarum von der Ptolemaischen Kartografie abhebt. Das Theatrum Orbis Terrarum verdanke einen Großteil seines Erfolges einer modularen Konstruktion, wie sie auch für nicht kartografische Literatur der Zeit charakteristisch bzw. beispielgebend gewesen sei: „The world was tabulated and registered in line with technologies of memory and as a display of the nature of geography in general. The new atlas was an organizing form for a spatial arrangement of discourse, often in consort with cartographic models whereby books under the title Theatrum or Theatre referred to Ortelius. They were sold with the aim of having visual and textual components hold within themselves the universal memory of their topics. Readers of the atlas were imagined occupying a privileged site where, before the book whose folio pages they turned at will, they could travel over the entire world without lifting a leg. There is reason to believe that from the atlas structure was generated the invention of the imaginary voyage, a literary genre that would dominate creation of later centuries.“ (Conley, S. 408)

6. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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1Die formale und inhaltliche Beschreibung bezieht sich auf die Ausgabe von 1572.
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