Das Werk Engelbert Kaempfers stand lange Zeit unter keinem guten Stern und ist eigentlich fast ausschließlich in Entwürfen und Notizen überliefert. Ausgenommen sind seine beiden frühen lateinischen Abhandlungen, die Valedictio von 1673 und die Dissertation von 1694, die später in überarbeiteter Form in den Amoenitates Exoticae aufging. Kaempfer selbst hatte ja, wie er in der Einleitung zu den Amoenitates andeutet, noch viel weitergehende Pläne: Es sollte das ausgearbeitete Tagebuch seiner Reise von Stockholm nach Japan und zurück nach Amsterdam erscheinen; ein weiteres Buch über das von der Außenwelt abgeschlossene Japan, das er selbst erlebt hatte, war geplant sowie ein umfangreiches Kompendium über die Pflanzenwelt jenseits des Ganges.1 Zu alledem ist es nicht mehr gekommen: Kaempfer kehrte 1693 nach zehneinhalbjähriger Abwesenheit nach Lemgo zurück.2 Eine berufliche Perspektive in den Niederlanden war offenbar gescheitert.
Zunächst wirkte er als niedergelassener Arzt in Lemgo, wurde dann aber Hofarzt Graf Adolphs von Lippe in Detmold. Der Hofdienst hielt Kaempfer jedoch von der eigenen Forschung ab. Daher versuchte er, sich durch eine Heirat mit einer wohlhabenden, allerdings sehr jungen Frau den entsprechenden Freiraum zu „erkaufen“. Auch dies schlug fehl: Die Ehe, der drei früh gestorbene Kinder entstammten, wurde eine menschliche und juristische Katastrophe, die durch Kaempfers Tod beendet wurde. Das große Werk sowie die Hoffnung auf eine wissenschaftlich angemessene Position in der res publica litteraria schwanden und mussten schließlich begraben werden.3
Achtzehn Jahre nach seiner Heimkehr schließlich, im Jahre 1712, erschienen die Amoenitates Exoticae – als einziges gedrucktes Werk Kaempfers nach seiner Reise und vor seinem Tod 1716, das erstmals seinen Zeitgenossen und auf längere Zeit auch der wissenschaftlichen Nachwelt einen Einblick in die Ergebnisse seiner Forschungsreise erlaubte. Auch wenn psychologische Spekulationen nichts zur Erkenntnis der Werkumstände beitragen, so lässt sich doch vermuten, dass Kaempfer wahrscheinlich recht frustriert gewesen sein muss, denn sein Japan-Werk, an dem er wohl die ganze Zeit gearbeitet hatte, blieb zu seinen Lebzeiten Manuskript, die botanischen Manuskripte und der Reisebericht kamen überhaupt nicht über das Stadium der Materialsammlung hinaus. Viele Vorarbeiten blieben ungenutzt, und seine Bemühung um eine andere Stelle, die seinen Intentionen hinsichtlich wissenschaftlicher Arbeit eher entsprach, war, wie man heute weiß, erfolglos.4
Nach seinem Tod kam Kaempfers gesamter handschriftlicher Nachlass – man muss heute sagen: zum Glück – in den Besitz des Londoner Wissenschaftlers und Museumsgründers Sir Hans Sloane (1660-1753).5 Sloane wusste um den Wert der Arbeiten Kaempfers und beauftragte seinen Mitarbeiter Johann Caspar Scheuchzer (1702-1729), das Japan-Werk herauszubringen. Es erschien 1727 in einer englischen Übersetzung. Der Erfolg, den man Kaempfer zu Lebzeiten gewünscht hätte, trat nun ein: Binnen weniger Jahre wurden Ausgaben in niederländischer (1729), französischer (1732), russischer (1773) und schließlich auch in deutscher Sprache (1777/79) veröffentlicht – das opus magnum war in der gelehrten europäischen Welt angekommen.6 Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Geschichte und Beschreibung von Japan, wie Kaempfers Werk entgegen der Autorintention betitelt wurde, ein Standardwerk für die Kenntnis von Natur, Kultur und Staat des Inselreichs. Gegenüber diesem Werk blieben die Amoenitates Exoticae praktisch vergessen.
Hinzu kam, dass der „linguistic turn“ in Europa – die schleichende Verdrängung des Lateinischen als europäische ‚lingua franca‘ und Wissenschaftssprache, schon im Verlauf des 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert – ebenfalls eine weitergehende Beschäftigung mit den in einem ausgesprochen kunstvollen späthumanistischen Latein verfassten Amoenitates und dem Rest der Kaempferschen Manuskripte verhinderte. Hinzu kam, dass Kaempfers Papiere nur als Gedächtnisstütze und persönliche Unterlage für die Ausarbeitung weiterer Schriften gedacht waren – vielfach ist seine Schrift sehr schlecht und ihr Zustand nicht eben immer der beste. Gleichwohl war der initiale editorische Impetus von Sloane wegweisend: Kaempfer wurde nicht mehr vergessen, obwohl doch die Hauptmenge seines Werkes unbekannt blieb.
Um diesem Missstand abzuhelfen, brach der Lemgoer Studienrat Karl Ernst Meier (1882-1969) 1929 nach London auf, um die Handschriften selbst in Augenschein zu nehmen. Er wollte seinem Landsmann Gerechtigkeit widerfahren lassen und von seinem Werk wenigstens die wichtigsten Teile übersetzen und publizieren. Sein beharrliches Wirken hatte den gewünschten Erfolg: Kaempfer erfuhr für die Geschichte der Reisen und der außereuropäischen Landeskunde eine Renaissance. Ja, Meier-Lemgo kann als der eigentliche Entdecker Kaempfers in der Moderne bezeichnet werden.7
Gleichwohl wurden im Laufe der Zeit Zweifel an seinem Vorgehen – so berechtigt und innovativ es zu seiner Zeit auch gewesen war – laut: Die Auswahlausgaben und Bearbeitungen genügten breiter angelegten Fragestellungen nicht mehr, ein wirklicher Einblick in das Werk war nicht zu erlangen. Und schließlich mehrten sich, wenn auch verhalten, Zweifel an den Übersetzungen Meier-Lemgos aus dem Lateinischen.
Die Edition des ersten Faszikels der Amoenitates durch den Iranisten Walther Hinz und seine Schüler schien nach ihrem Erscheinen zunächst einen Fortschritt in der Kenntnis von Kaempfers Rezeption Persiens unter den Safawiden darzustellen. Allerdings hält diese Übertragung in keinem Teil auch nur einer flüchtigen Prüfung stand.8
Am Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts war aus diesem Grund ein gewisser Stillstand in der Erforschung und Auswertung von Kaempfers Werk eingetreten, obwohl gerade in diesen Jahren die methodische Neupositionierung der Reiseliteratur- und vergleichenden Kulturgeschichtsforschung einen neuen Aufschwung nahm:10 Kaempfer konnte aufgrund einer fehlenden zuverlässigen Ausgabe nicht in dem Maße, wie er es verdient hätte, in den Diskurs einbezogen werden. In disziplinär begrenzten Spezialforschungen wurde Kaempfers Leistung gleichwohl immer wieder neu herausgearbeitet.11
Auf zwei Tagungen in Lemgo und Tokio anlässlich des 300. Jahrestages der Landung Kaempfers in Japan 1690 wurden die Entwicklung, der Stand und die Perspektiven der Kaempfer-Forschung erneut diskutiert. Das Ergebnis ist ein umfangreicher Tagungsband, dessen Beiträge nicht nur einen Einblick in neue Ansätze und methodische Neuorientierungen geben, sondern auch das Ungenügen spiegeln, das während der Tagungen hinsichtlich des Werkganzen deutlich wurde.12 Es kam deutlich zum Ausdruck, dass ohne eine kritische Edition der Handschriften und Drucke kein weiterer substanzieller Fortschritt zu erzielen sei. Der Weg zu einer Ausgabe war jedoch umstritten.
In dieser Situation initiierte der Verfasser eine Ausgabe, die auf herkömmliche Weise, also als gedrucktes Werk, kritisch herausgegebene und kommentierte Texte präsentieren und auf dieser soliden Basis den Weg für eine neue Betrachtung des Werkes öffnen sollte. Nach einer erheblichen Vorlaufzeit erschienen, unterstützt durch einen beträchtlichen Druckkostenzuschuss des Landes Nordrhein-Westfalen, 2001 und 2004 sechs Bände in sieben Teilen dieser Ausgabe, allesamt auf der Basis des handschriftlichen Nachlasses in der British Library: Das Japan-Werk, die Briefe, das russische Reisetagebuch, Kaempfers Texte über Malabar und Siam mit den dazugehörigen Abbildungen sowie die Pflanzenzeichnungen.13 Die unmittelbare Rezeption der Ausgabe durch eine Reihe von Besprechungen war einhellig und positiv.14
Im Herbst 2012 erschien als Begleitband einer Ausstellung zu den Amoenitates Exoticae im Hexenbürgermeisterhaus (Städtisches Museum) in Lemgo eine eingehende buch- und disziplingeschichtliche Auseinandersetzung und Erläuterung des gesamten Werkes von Lothar Weiss.15
Mit der nachfolgenden Ausgabe der Amoenitates wird erstmalig ein Teil des Werkes von Kaempfer als wissenschaftliche elektronische Edition präsentiert.16 Gleichwohl entsteht sie nicht in einem voraussetzungsfreien Raum: Es gibt eine Reihe von gedruckten Teilausgaben und Bearbeitungen unterschiedlicher Qualität, von denen sich die vorliegende Edition allerdings entschieden abhebt; jene waren für deren Konzeption nicht maßgebend. Dennoch ist die Skizzierung des editionsgeschichtlichen Hintergrunds notwendig für die Beurteilung des strukturellen und methodischen Ansatzes und des aus ihm resultierenden Ergebnisses. Im Folgenden sind daher die bisher erschienenen Teilausgaben aufgeführt und ihr Ergebnis im Hinblick eines umfassenden Verständnisses der jeweiligen disziplingeschichtlichen Position des Textes und damit Kaempfers kurz charakterisiert. Der Wert der jeweiligen Publikationen an sich bleibt davon unberührt.
Zu den Amoenitates Exoticae als ganzem Werk:
Kurze werk- und reisegeschichtliche Einleitung. Meier-Lemgos Ziel ist es, „deutsche Leser, gelehrte wie ungelehrte, mit den reizvollsten Stücken aus den „Amoenitates“ bekannt[zu]machen und dadurch auch mit einem großen und eigenwüchsigen deutschen Forscher, der in einer Zeit lebte, da Deutschland als Staat ohnmächtig den Raubzügen des französischen „Sonnenkönigs“ preisgegeben war, während es in den Bezirken des Geistes und der Wissenschaft nicht von Frankreich allein, sondern selbst von so kleinen Staaten wie Holland und Schweden überstrahlt wurde.“ (S. 8) Durch diese ausschließlich anmutende methodische und historische Voreinstellung ist eine angemessene Beurteilung der wissenschaftsgeschichtlichen Position der Amoenitates und ihres Autors nicht möglich.
Zu Faszikel I:
Übersetzung mit relativ kurzer Einleitung (biographisch, reise- und werkgeschichtlich). Die Übersetzung ist jedoch nicht vollständig (es fehlen immer wieder einzelne Sätze des Originals) und durch eine vollkommen inadäquate Begrifflichkeit (z.B.: „Reichshofkanzler“, „Wehrmacht“, „Kirchengutsverwalter“, „Reichshohepriester“ etc.) zur Vermittlung des historischen Eindrucks Kaempfers vom safawidischen Persien ungeeignet und ausgesprochen zeitgebunden. Im Neudruck werden diese falschen Begriffe weiterhin verwendet; es gibt keinen Verweis auf die Hinz’sche Originalausgabe von 1940.
Zu Faszikel II:
Englische Übersetzung des ersten Teils der ersten Relatio des zweiten Faszikels ohne Wiedergabe des lateinischen Urtexts, eingebettet in eine ausführlichere historische Einleitung; teilweise ohne die Übersetzung der einzelnen Marginalien.
Zu Faszikel III:
Englische Übersetzung des gesamten dritten Faszikels ohne Wiedergabe des lateinischen Urtexts mit einer äußerst knappen Einleitung, die praktisch nur inhaltliche Hinweise gibt. Die Anmerkungen sind auf stichwortartige Hinweise reduziert, meist zu Personen und Medicinalia.
Englische Übersetzung der zweiten Observatio des dritten Faszikels (Amoenitates, S. 509-515) mit einer ausführlichen historischen Einleitung.
Historische Einleitung von Schmitz über die Kenntnis des Bitumens bis zum 19. Jahrhundert. Übersetzung von Meier-Lemgo der dritten Observatio des dritten Faszikels (Amoenitates, S. 516-524). Der lateinische Urtext fehlt.
Unvollständige Übersetzung ohne naturhistorischen Kommentar der dritten Observatio (Amoenitates, S. 516-524) und der vierten Observatio (Amoenitates, S. 525-535) des dritten Faszikels; bei der letzteren sind u.a. die wichtigen Verweise auf Avicenna und Velschius ausgelassen. Der lateinische Urtext fehlt.
Auszugsweise Übersetzung der fünften Observatio (Amoenitates, S. 535-552) des dritten Faszikels ohne lateinischen Urtext und botanischen Kommentar. Eine kurze allgemeine Einleitung ist vorangestellt.
Unvollständige Übersetzung der fünfzehnten Observatio (Amoenitates, S. 638-653) des dritten Faszikels ohne kulturgeschichtlichen und botanischen Kommentar. Der lateinische Urtext fehlt.
Zu Faszikel IV:
Vielfach fehlerhafte Übersetzung; die Marginalien des Originals, die Kapitelüberschriften entsprechen, fehlen. § 4 (Epilog) der zehnten Relatio fehlt, ohne dass dies in der Ausgabe vermerkt ist. Eine ausführliche botanische Einleitung ist vorangestellt, kulturhistorische Bezüge (etwa zum Fest der Dattelernte) fehlen.
Zu Faszikel V:
Reprint des lateinischen Urtexts. Übersetzung/Kommentar sind synoptisch gegenübergestellt. Die Übersetzung ist allerdings unvollständig (bei weitem nicht alle Pflanzenbeschreibungen sind übersetzt), nicht ohne Fehler und wechselt sich mit botanischen Kommentaren des Herausgebers zu den Pflanzen ab. Eine umfangreichere, botanikhistorische Einleitung ist vorangestellt.
Übersetzung des entsprechenden Abschnitts zum Ginkgo (Amoenitates, S. 811f.) ohne lateinischen Urtext und botanischen Kommentar; vorangestellt ist eine kurze, allgemeine Einleitung.
So sehr auch die genannten Teilausgaben und –übersetzungen von dem Bemühen zeugen, Kaempfers innovative Leistungen auf den verschiedensten Gebieten zu würdigen, so wenig sind sie in der Lage, dem Leser die Komposition des gesamten Werkes sowie die wissenschaftsgeschichtliche Stellung der einzelnen Teile darin und damit Kaempfers Intentionen zu vermitteln. Zwar trägt jede Publikation zum Zeitpunkt ihres Erscheinens ihren Wert in sich, aber die allzu häufig fehlerhaften Übersetzungen des in einem kunstvollen Prosastil verfassten lateinischen Textes verhindern, dass die Texte in ihrem sachlichen Gehalt sowie in ihrer sprachlichen Attitude (rhetorische Formen u.a.) als zwar traditionsgebundenes, aber zugleich in die Moderne weisendes Werk wahrgenommen werden können.
War mit der gedruckten Teilausgabe der Werke Kaempfers (siehe 1.1) zwar ein erheblicher Schritt nach vorn getan, wurden allerdings während der Erarbeitung dieser Bände zwei nicht unbeträchtliche arbeitstechnische Nachteile sichtbar, die aufgrund der Quellenlage (d.h. der meist sehr schwer entzifferbaren handschriftlichen Entwürfe)17 in der Vorbereitung zur gedruckten Ausgabe aufgrund der nie wirklich vollständig durchdrungenen Originaltexte zunächst nicht ins Auge fielen:
Kaempfer war, trotz seiner methodischen Modernität, ein typischer Vertreter späthumanistischer Gelehrsamkeit. Die stilistische Ausformulierung seiner lateinischen Werke war ihm, in gleicher Weise wie die sachliche Information und Innovation, höchstes Anliegen. Er wollte nicht nur durch fachliche Neuheiten glänzen, sondern auch als Stilist, der dem Neuartigen, das er bot, einen entsprechend würdigen, eleganten und kunstvollen Rahmen zu geben imstande war.18 Der lateinische Text der Amoenitates beinhaltet daher zahlreiche grammatikalische und stilistische Schwierigkeiten, so dass er nur mit einem erheblichen Zeitaufwand übersetzt werden kann. Ohne eine korrekte und die Grammatik und Rhetorik intentional aufgreifende Übersetzung jedoch bleiben nicht nur zahlreiche mitgeteilte Sachverhalte unklar, die Kunstfertigkeit des Stils, der mit der sachlichen Darstellung eine untrennbare Symbiose bildet, wird überhaupt nicht oder nur rudimentär wahrnehmbar.
Ein zweiter Nachteil war die lange Vorbereitungszeit der gedruckt vorliegenden Bände. Die selbstverständliche Interdisziplinarität der Frühen Neuzeit zwang zu umfangreichen und zeitraubenden Recherchen für den jeweiligen Stellenkommentar, die über die Spezialgebiete der einzelnen Bandbearbeiter vielfach weit hinausgingen. Die Weiterführung der Ausgabe konnte also nur durch eine Straffung des Kommentars gelingen, da die Förderung eines „Jahrhundertwerkes“ kaum realistisch erschien.
Dieser Umstand, der vollends durch ein 2001 – im Jahr von Kaempfers 350. Geburtstag – abgehaltenes internationales Arbeitsgespräch zu Kaempfers Position in der Wissenschaftsgeschichte offenbar wurde,19 führte unmittelbar zu einer Konzeption einer künftigen Forschungsstrategie, die diesem Sachverhalt gerecht werden musste. In diesem Kontext war auch ausschlaggebend die Entdeckung des bis jetzt frühesten erhaltenen Briefes von Kaempfer an den schwedischen Gelehrten Olof Rudbeck d.Ä. vom 20. Februar 1683, der nicht nur die sensationelle, weil bislang überhaupt nicht gekannte Begründung Kaempfers für seine Reise enthält, sondern zugleich auch ein Meisterstück neulateinischer Briefkunst darstellt.20
Die Folge war die Verabredung der Kooperation zwischen dem Verfasser und dem Philologen Karl August Neuhausen, wenn schon nicht die Edition des vollständigen Restes der Kaempferischen Handschriften, so doch wenigstens die Herausgabe seines gedruckten Hauptwerkes, der Amoenitates Exoticae, gemeinsam in Angriff zu nehmen: Eine zuverlässige philologische Erschließung und eine wissenschafts- und reisegeschichtliche Würdigung sollte getrennt von einer sachlichen Kommentierung erarbeitet und schließlich mit dieser zusammengeführt werden.
Hilfreich war in diesem Stadium die Anregung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, eine elektronische Edition ins Auge zu fassen, die über die editorischen Standards hinaus entschieden erweiterte Möglichkeiten der sachlichen Ergänzung und der Rezeption bieten könnte. An diesem Punkt bot darüber hinaus die Herzog August Bibliothek diesem Vorhaben gleichsam eine Heimstatt, indem sie ihre „Digitale Bibliothek“ als Plattform für die Edition der Amoenitates Exoticae offerierte, auf der auch die weitere Datenpflege stattfindet.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Vorhaben, das zunächst (von 2008 bis 2010) am „Centre for the Classical Tradition“ des Instituts für Griechische und Lateinische Philologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angebunden war und ab 2011 am Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg erarbeitet wird.21 Kooperiert wird in technisch-struktureller Hinsicht mit dem Institut für Dokumentologie und Editorik (IDE) und dem Cologne Center for eHumanities (CCeH) der Universität zu Köln (Dr. des. Patrick Sahle).
Die Grundlage des Projekts ist zunächst die exakte und vollständige Übertragung des lateinischen Texts der Amoenitates Exoticae. Verzichtet wird bei dieser Edition bewusst auf die Entzifferung und textkritische Einarbeitung der handschriftlichen Vorarbeiten Kaempfers zu den Amoenitates.22 Zwar bleiben unter dieser methodischen Voraussetzung konzeptionelle Überlegungen Kaempfers sowie die stilistische Entwicklung des Textes während Kaempfers Redaktion außer Acht, doch liegt ja mit dem Druck in Lemgo 1712 eine Fassung letzter Hand vor, die den endgültigen Autorwillen Kaempfers repräsentiert.23
Auf dieser textlichen Basis wird von entsprechenden Fachwissenschaftlern (z.B. von Orientalisten und Botanikern) ein Sachkommentar erarbeitet. Dieser soll und kann nicht in jeder Hinsicht erschöpfend sein, sondern erschließt vielmehr die wichtigsten Fakten und macht sie zugänglich. Damit ist – innerhalb eines absehbaren Zeitraums! – die Edition der Amoenitates Exoticae möglich.
Die Bearbeitung aller Texte erfolgt in dieser Edition zunächst getrennt. Als Erstes wird eine zuverlässige Übersetzung der einzelnen Fasciculi erarbeitet. Diese ist die Grundlage für die Sachkommentierung. Für diese werden ausgewählte, jeweils spezialisierte Kollegen eingeladen.24 Sie erarbeiten allein oder wiederum mit einem Team (ggf. von Nachwuchswissenschaftlern) den Stellenkommentar. Was auf den ersten Blick wie zwei nicht vereinbare Arbeitsvorgänge aussehen mag, ist tatsächlich (und die mehrjährige Erfahrung bestätigt dies) ein enges Miteinander beider Gruppen. Die Übersetzung liegt dem Fachwissenschaftler vor und kann von ihm aufgrund seiner fachlichen Kompetenz in Zweifel gezogen werden. Dann muss gemeinsam überlegt werden, ob sich die Kommentierung der Übersetzung anzupassen hat oder diese die Begrifflichkeit der Kommentierung zu verändern vermag.
Nur ein einziges, beliebig herausgegriffenes Beispiel mag diese wechselseitige Erhellung erläutern. Kaempfer verwendet für das botanische Phänomen des Astes verschiedene Begriffe: surculus, ramus, ramulus und bracchium. Erst die botanische Klärung erbrachte die den Begriffen entsprechende, logische Reihenfolge: junger/frischer Zweig, Zweig, kleiner Zweig und Ast, welche Begriffe im Folgenden in der Übersetzung einheitlich verwendet werden. Dabei stellte sich heraus, dass etwa das große lateinisch-deutsche Handwörterbuch von Georges für surculus den nicht-signifikanten Begriff ‚Schössling‘ bietet, der jedoch ein anderes, von Kaempfer nicht gemeintes botanisches Phänomen bezeichnet.
Die Präsentation der Amoenitates im Internet ermöglicht künftig auch die Mitarbeit externer interessierter Wissenschaftler, deren Korrekturen oder Ergänzungen leicht eingearbeitet werden können. Die Implementierung der Ausgabe auf dem Server der Herzog August Bibliothek garantiert die langfristige Verfügbarkeit der Dateien.
Geboten wird in dieser Ausgabe die vollständige Wiedergabe der fünf Faszikel der Amoenitates Exoticae, die nach und nach ins Netz gestellt werden. Zu lesen sind mehrere Teile dieses Werkes:
Geplant ist zum Schluss die Einfügung von Kaempfers Zeichnungen von Orten, Landschaften und Sachen sowie seiner handschriftlichen Karten.27 Aktuell erarbeitetes Material wie ggf. Karten, Tabellen, Wortlisten, Biographien und Register etc. sind ebenfalls für die Erschließung des Materials vorgesehen.
Möglich ist auch die Einfügung ausgewählter Teile der Handschrift Sl 2907, die wesentliche Teile des Manuskripts der Amoenitates enthält, um an einigen signifikanten Stellen den Bearbeitungsprozess Kaempfers exemplarisch zu verdeutlichen. Dies kann jedoch erst nach Abschluss der Arbeiten an den fünf Faszikeln geschehen.
Jeder Faszikel wird von dem Fachwissenschaftler, der für ihn zuständig ist, eingeleitet.28 Da ihm nunmehr vorab eine zuverlässige Übersetzung vorliegt, ist es möglich, sowohl die Aktualität als auch Traditionsverhaftung Kaempfers zu beurteilen.
Und genau dies macht den Wert dieser Ausgabe aus: Mit ihr wird dem Leser erstmals das Hauptwerk Kaempfers, das nach seiner eigenen Vorstellung nur amoenitates bieten und auf weitere, umfangreiche Werke aus seiner Feder aufmerksam machen sollte, zugänglich gemacht. Der Benutzer ist nunmehr imstande, die tatsächlichen Aussagen Kaempfers in ihrem textlichen und wissenschaftlichen Kontexten zu rezipieren. Sie lassen sich unter der doppelten Prämisse der Kaempferschen Maxime „nec crambem recoquo ab aliis coctam“ sowie zugleich als Beispiel seiner stupenden Gelehrsamkeit würdigen. Das Werk kann damit als ein thesaurus rezipiert werden, der in einem wichtigen entwicklungsgeschichtlichen Moment der Wissenschaftsgeschichte entstand: Es ist der Übergang vom Späthumanismus zur Frühaufklärung sowie noch eine Phase der europäischen Expansion, die den europäischen Reisenden und Gelehrten noch immer den Zugang zu Exotica in großer Menge ermöglichte, die es in ihrer Eigenart zu verstehen und in den Wissenskanon einzuordnen galt. Damit ist eine Phase der kultur- und naturwissenschaftlichen Forschung benannt, die die unmittelbare Voraussetzung für die Entstehung einer Reihe moderner Disziplinen ist.29 Kaempfer ist einer der unbestritten wichtigen Protagonisten dieses Zeitraums.
Er ist, das erweist sowohl seine historische Wertschätzung wie die moderne Forschung, eine der herausragenden Persönlichkeiten in diesem Prozess, die ihn entscheidend beförderten.