Philologische Einleitung (speziell unter neulateinischen Aspekten) zu den Amoenitates Exoticae

Karl August Neuhausen

I. Generelle Einordnung der Amoenitates Exoticae in die Tradition der neulateinischen Sprache und Literatur

1. Kaempfers drei lateinische Schriften als seine einzigen zu Lebzeiten erschienenen Werke in chronologischem Überblick

Jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dem hinterlassenen Œuvre Engelbert Kaempfers (1651–1716) muss von dem überlieferungsgeschichtlichen Tatbestand ausgehen, dass zu Lebzeiten des Autors nur drei erhaltene seiner Werke publiziert wurden, nämlich die drei lateinischen Prosaschriften, die Kaempfer selbst jeweils im Abstand von ca. 20 Jahren veröffentlichte und die sich damit auf sein gesamtes Leben von der Jugend (1673) über die Blütezeit (1694) bis zum Greisenalter (1712) verteilen:1 (1) Exercitatio, 1673; (2) Disputatio, 1694; (3) Amoenitates Exoticae, 1712

Das in dieser chronologischen Reihenfolge an dritter und letzter Stelle rangierende Hauptwerk Kaempfers – die fast 1000 Druckseiten umfassenden Amoenitates Exoticae – übertrifft jene beiden früheren lateinisch abgefassten Abhandlungen (die kleine staatswissenschaftliche Übungsschrift von 1673 sowie auch die anspruchsvollere Leidener medizinische Dissertation von 1694) in erheblichem Maße nicht nur hinsichtlich seines monumentalen Umfangs, sondern vor allem auf Grund seiner außerordentlich großen wissenschaftlichen Bedeutung. Die Verwendung der lateinischen Sprache ist jedoch das wesentliche Merkmal, das allen drei opera Kaempfers gemeinsam ist und sie somit aufs engste miteinander verbindet.

Kaempfer galt daher mit Recht sowohl bei allen zeitgenössischen Lesern seiner von ihm herausgegebenen Werke2 und den Empfängern seiner lateinischen Briefe (seit 1683)3 als auch noch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod4 primär als lateinischer Autor.5 Als Kaempfer seine Amoenitates Exoticae in seiner Heimatstadt Lemgo 1712 drucken ließ, stand er also in der damals bereits rund 2000-jährigen Tradition der lateinischen Sprache und Literatur, die von der frühen römischen Republik bis zur Gegenwart reicht und demgemäß aus heutiger Perspektive insgesamt in drei Hauptperioden einzuteilen ist: Antike, Mittelalter und Neuzeit.

2. Grundzüge der Entwicklung und Eigenart der neulateinischen Sprache und Literatur6

Die Grenzen zwischen diesen drei Epochen sind fließend: Die antike Latinität endet etwa im 6. Jahrhundert, die mittelalterliche lateinische Literatur blühte in Europa bis zum 14. Jahrhundert, die folgende dritte Phase – die sogenannte neulateinische Sprache und Literatur – setzte schon im Zeitalter Petrarcas (1304–1374) ein und erstreckt sich demnach vom Beginn des Renaissance-Humanismus bis zu unserer Zeit. Mit rund 700 Jahren umfasst also die neulateinische Epoche als der dritte und letzte Hauptteil der Gesamtentwicklung der lateinischen Sprache und Literatur einen fast ebenso langen Zeitraum wie jeweils die beiden früheren Perioden, die der antiken und der mittelalterlichen Latinität. Aber während die antike und mittelalterliche lateinische Literatur auf den orbis antiquus, die Alte Welt Europas, beschränkt blieb und die benachbarten Kontinente (Afrika und Asien) demgemäß allenfalls am Rande berücksichtigte, bezieht sich die neulateinische Literatur seit der Frühen Neuzeit in zunehmendem Maße – wie gerade Kaempfers Amoenitates Exoticae zeigen – ebenso auch auf die vorher noch völlig unbekannten Erdteile der Neuen Welt (orbis novus), also alle Gebiete und Bereiche der heutigen Welt.

Wissenschaftliche Grundlage der modernen Erforschung der neulateinischen Sprache und Literatur bildet das zweibändige Standardwerk „Companion to Neo-Latin Studies“ von Jozef Ijsewijn und Dirk Sacré (1990/1998).7 Über den seitdem jeweils aktuellen Stand der neulateinischen Forschung informieren vor allem jährlich erscheinende Fachzeitschriften wie insbesondere „Humanistica Lovaniensia – Journal of Neo-Latin Studies“8 und „Neulateinisches Jahrbuch – Journal of Neo-Latin Language and Literature“.9 Quantität und Qualität der seit dem 14./15. Jahrhundert verfassten und publizierten neulateinischen Texte (Prosa und Poesie) lassen sich demnach heutzutage erheblich zutreffender bemessen und bewerten, als es in den vergangenen beiden Jahrhunderten überhaupt möglich war:

(a) Die schier unendliche Menge der erhaltenen neulateinischen Prosaschriften und Dichtungen übertrifft die Anzahl der überlieferten antiken lateinischen und mittellateinischen Texte in derart hohem Ausmaß, dass man die wahre Dimension der gesamten neulateinischen Produktion nicht einmal annäherungsweise erfassen kann (zumal da ständig neue neulateinische Texte entdeckt werden und unzählige noch gar nicht oder lediglich teilweise ediert sind). So ist heute allgemein davon auszugehen, dass die neulateinische Literatur zigtausendmal umfangreicher ist als die erhaltene lateinische Literatur der Antike.

(b) Gemäß dem humanistischen Leitmotiv, wie es das Begriffspaar imitatio/aemulatio prägnant zum Ausdruck bringt, ist jeder neulateinische Autor grundsätzlich bestrebt, sein antikes literarisches Vorbild jeweils nicht nur nachzuahmen, sondern nach Möglichkeit sogar qualitativ zu überbieten. Dementsprechend waren und sind neulateinische Prosaschriftsteller und Dichter prinzipiell stets bemüht, die aus der Antike übernommenen literarischen Gattungen (genera litterarum), zu denen ihre Texte gehören, jeweils weiterzuentwickeln und diesem traditionellen Kanon darüber hinaus zugleich neue genera der Prosa und Poesie hinzuzufügen.10

3. Die Stellung der Amoenitates Exoticae Kaempfers im Rahmen der gesamten neulateinischen Prosaliteratur

3.1. Zur Vorrangstellung des Lateins vor allen europäischen Nationalsprachen bis zur Abfassungszeit der Amoenitates Exoticae Kaempfers

Zunächst ist generell das außerhalb des Fachbereichs der Latinistik und verwandter philologischer Disziplinen heutzutage gewöhnlich überhaupt nicht beachtete oder nur am Rand erwähnte literaturwissenschaftliche Faktum von fundamentaler Bedeutung hervorzuheben, nämlich der überlieferungsgeschichtliche Tatbestand, dass Latein bis zum 18. Jahrhundert die gemeinsame internationale Sprache der Gelehrsamkeit, Wissenschaft und Kultur war (und eine solche vorrangige Funktion in manchen Bereichen bis heute erfüllt),11 als Kommunikationsmittel also jahrhundertelang die gleiche zentrale Rolle spielte wie in der Gegenwart weltweit das Englische.

Dementsprechend ist die Menge der in der Frühen Neuzeit lateinisch abgefassten und gedruckten Schriften enorm und insgesamt kaum überschaubar; in besonderem Maße gilt dies für die Quantität der wissenschaftlichen neulateinischen Prosaliteratur („Scholarly and Scientific Prose“),12 zu welcher Spezialgattung auch alle drei von Kaempfer veröffentlichten lateinischen Schriften gehören. Jedenfalls übertraf in Europa bis 1600 die Anzahl der lateinischen – literarischen und wissenschaftlichen – Druckwerke bei weitem die gesamte Summe aller volkssprachlichen Schriften. Noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts hielten sich lateinische und nationalsprachliche Buchpublikationen die Waage. Erst ab etwa 1750 veränderten sich diese Relationen zunehmend in umgekehrter Richtung: Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts traten die neulateinischen Texte hinter den volkssprachlichen allmählich zurück.

3.2. Die Amoenitates Exoticae als typisches Produkt der späthumanistischen lateinisch-sprachigen Prosaliteratur

Vor dem Hintergrund der hier skizzierten frühneuzeitlichen europäischen Literaturgeschichte wird deutlich, dass Kaempfers drei bei Lebzeiten erschienene lateinische Schriften, und zwar vor allem sein Hauptwerk – die 1712 veröffentlichten Amoenitaes Exoticae –, in die letzte Phase der langen, vom Beginn des Renaissance-Humanismus (im 14. Jahrhundert) bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reichenden Blütezeit der neulateinischen Sprache fallen, in der sie alle anderen europäischen Sprachen überragte. Als Kaempfer nach seiner Rückkehr aus Asien in Lemgo 1694 begann, die Drucklegung seiner umfangreichen Reiseberichte vorzubereiten, ging er daher wie selbstverständlich davon aus, dass er seine zukünftigen Schriften ebenso wie seine zwei kleinen früheren Werke wiederum in lateinischer Sprache abfassen werde. Diese Prämisse trifft tatsächlich gerade auch auf die Amoenitaes Exoticae zu; denn in den 18 Jahren (1694–1712), in welchem langen Zeitraum Kaempfer dieses opus fertig stellte, ist kein Zeugnis überliefert, das belegen könnte, Kaempfer habe beabsichtigt, eine andere Sprache als die lateinische zu wählen.

Auf einen möglichen Paradigmenwechsel, den Übergang vom traditionellen Latein zu einer europäischen Nationalsprache, weist Kaempfer in seinem Vorwort zu den Amoenitates Exoticae (S. XIII) selber hin, indem er ankündigt, dass er nach den Amoenitaes Exoticae drei weitere Hauptwerke herausgeben wolle, und dabei den jeweiligen Verlegern (bibliopolae) zumindest teilweise statt der lateinischen Sprache eine andere anbietet; denn das Japan betreffende erste Werk (Japoniam nostri temporis … edendam Teutonice) gedachte Kaempfer von vornherein deutsch abzufassen, während er mit Blick auf das geplante dritte Werk (Hodoeporicon tripartitum) einem potentiellen Editor noch eine weitere moderne Sprache zur Auswahl vorschlägt, und zwar in der Reihenfolge ‚lateinisch’, ‚germanisch’ (= deutsch) und ‚belgisch’ (= niederländisch): … optionem ei daturus, an illud Latino, an Germanico, an vero Belgico idiomate edi debeat. Bezeichnenderweise weist Kaempfer auch in dieser Dreierliste dem Latein die Priorität gegenüber allen übrigen Sprachen zu, indem er außer dem Latinum idioma allenfalls das deutsche oder das niederländische ‚Idiom’ als Alternativen gelten lässt; eine andere sprachliche ‚Option’ (optio) – wie etwa die englische, französische oder eine sonstige Sprache – zieht Kaempfer hier als typisch humanistischer Autor nicht einmal in Erwägung.

3.3. Die Amoenitaes Exoticae als herausragendes Werk speziell der kultur- und naturwissenschaftlichen lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit

Ijsewijn/Sacré gliedern ihren Abschnitt „Scholarly and Scientific Prose“ (s.o.), der die spezielle geistes-, kultur- und naturwissenschaftliche Themen behandelnden neulateinischen Prosaschriften betrifft, in insgesamt 21 Hauptfachbereiche (jeweils mit Teilgebieten):

(1) Encyclopaedias and Bio-bibliographical Works; (2) Typography, Calligraphy, Cryptography; (3) Philology and Related Disciplines; (4) Grammar and Linguistics; (5) Law (Canon and Civil); (6) Theology; (7) Philosophy, Psychology, Paedagogy, Magic; (8) Political, Social and Economic Sciences; (9) Arts: Theory, History and Criticism (Poetics / Visual Arts / Musicology); (10–20) Sciences and Medicine ( Mathematics, Engineering; Astronomy and Astrology; Geography, Chorography, Topography; Physics; Alchemy; Chemistry; Medicine; Ethnology, Anthropology; Sports and Games; Zoology; Botany); (21) Palaeontology and Geology.

Diesen zahlreichen Wissenschaftszweigen kann man unter fachspezifischen Aspekten die drei lateinischen Werke Kaempfers jeweils direkt zuordnen. Aber während sich seine juristische Danziger Jugendarbeit (1673) lediglich auf wenige rechts- und staatswissenschaftliche Probleme, seine Leidener medizinische Dissertation dagegen hauptsächlich nur auf Sondergebiete der Medizinwissenschaft bezieht, erörtert Kaempfer in den Amoenitates Exoticae unzählige wissenschaftliche Themen nahezu sämtlicher Disziplinen, wie sie Ijsewijn/Sacré der Reihe nach mustern, und setzt dabei die Kenntnis der bis 1712 erschienenen zahlreichen anderen relevanten Werke voraus, also vornehmlich gerade die jeweils in lateinischer Sprache abgefassten Monographien und Spezialuntersuchungen, deren Autoren vorher die gleichen oder ähnliche Themen behandelt hatten. Man muss folglich prinzipiell davon ausgehen, dass Kaempfer alle jene vor 1712 publizierten lateinischen Fachschriften, auch wenn er sie nicht immer jeweils ausdrücklich zitiert, kannte und gegebenenfalls für seine Zwecke benutzte.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Kaempfers früheren zwei kleinen lateinischen Abhandlungen besteht darin, dass seine Amoenitates Exoticae insgesamt durchweg auf einem erheblich höheren sprachlich-stilistischen und literarischen Niveau stehen. In dieser Hinsicht übertrifft das Werk zudem auch viele der vergleichbaren anderen lateinisch abgefassten Werke der Frühen Neuzeit, die speziell kultur- und naturwissenschaftliche Themen behandeln. Allerdings traten die vorzüglichen sprachlichen und literarischen Qualitäten, wie sie Kaempfers Amoenitates Exoticae auszeichnen, in der modernen Kaempfer-Forschung generell fast völlig in den Hintergrund; denn im Mittelpunkt stand bisher allein die außerordentliche Materialfülle der sachlichen Informationen, die Kaempfer in seinem Riesenwerk ausbreitet.

II. Allgemeine Bemerkungen zum lateinischen Sprachstil und literarischen Niveau der Amoenitates Exoticae

In meinen bisherigen drei Spezialuntersuchungen zu Kaempfers Amoenitates Exoticae (2004, 2007 und 2008) sowie danach (2010) in meinem ausführlichen philologischen Kommentar zum wiederentdeckten – ebenfalls lateinisch abgefassten – programmatischen Brief, den der junge Engelbert Kaempfer am 20. Februar 1683 (kurz vor Beginn seiner zehnjährigen Forschungsreise durch Asien) an den schwedischen Universalgelehrten Olof Rudbeck sandte, habe ich erstmals den Versuch unternommen, die gesamte moderne Erforschung des Œuvres Kaempfers auf eine ganz neue Grundlage zu stellen, indem ich anhand zahlreicher Beispiele darlegte, dass Kaempfer als späthumanistischer Autor nicht nur in seinen überlieferten, im Zeitraum der Jahre 1683–1706 verfassten lateinischen Briefen, sondern vor allem gerade in seinem später (1712) erschienenen monumentalen Hauptwerk, den Amoenitates Exoticae, durchweg in mannigfaltiger Art und Weise von der griechischen und lateinischen Literatur der Antike, wie sie die Humanisten seit der Renaissance in Europa wiederbelebten und weiterentwickelten, wesentlich geprägt war: Kaempfer benutzte das gesamte so reichhaltige, schon seit der frühen römischen Republik (insbesondere in den Komödien des Plautus und Terenz) zur Verfügung stehende und dann kontinuierlich bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts erheblich erweiterte lateinische Vokabular und griff zudem auf unzählige Motive und Gestalten der tradierten antiken Literatur zurück, um sie jeweils in seine Darstellungen oder Gedankengänge passend einzubeziehen und somit gemäß seinen eigenen Zielsetzungen schöpferisch umzuwandeln.

Die notwendige wissenschaftliche Aufgabe, den tiefgreifenden Einfluss der ‚Classical Tradition’ auf Kaempfers Darlegungen systematisch zu untersuchen, d.h. das wahre Ausmaß der sprachlichen und literarischen Quellen der (paganen und christlichen) griechischen und lateinischen antiken Literatur zu ermitteln, die Kaempfer für seine Zwecke geschickt verwertete, wird bisher allgemein sicherlich vor allem dadurch erschwert, dass noch kein Register existiert, aus dem hervorgeht, welche antiken Autoren, Schriften und Texte Kaempfer in den Amoenitates Exoticae ausdrücklich zitiert oder apostrophiert. Zwar bietet Kaempfer in einem Anhang der Amoenitates Exoticae (nach S. 911) einen aufschlussreichen, jedoch in den bisherigen Interpretationen des Werkes anscheinend erstaunlicherweise noch gar nicht berücksichtigten „Index rerum ac verborum“. Aber dieser unpaginierte, auf 64 Spalten verteilte ‚Index der Sachen und Wörter’ enthält – entsprechend dem Titel der Amoenitates Exoticae und den Überschriften innerhalb der fünf Faszikel – nur solche Gegenstände und Begriffe, die zum 17. Jahrhundert als dem von Kaempfer hauptsächlich behandelten ‚modernen’ Zeitalter gehören: Es fehlt bis heute bedauerlicherweise ein analoges Verzeichnis aller Namen und Sachen der Antike, die in Kaempfers Amoenitates Exoticae auftreten und jeweils eine bestimmte Funktion erfüllen.

Die vielen Textbeispiele, die ich in meinen genannten vier aktuellen Beiträgen zu Kaempfers lateinischen Schriften angeführt habe, müssen daher hier genügen, um schlagwortartig einige allgemeine Feststellungen zu treffen. In seiner Behandlung naturwissenschaftlicher Themen, die im Mittelpunkt der Amoenitates Exoticae stehen, bediente sich Kaempfer souverän der fest ausgeprägten lateinischen Terminologie, welche die jeweils maßgebenden antiken Fachschriftsteller – in erster Linie daher z.B. Plinius in seiner „Naturalis historia“ – präsentierte. Als lateinischer Autor wählte Kaempfer eine anspruchsvolle literarische Gattung, die des gehobenen lateinischen Prosastils, und orientierte sich dabei weitgehend an klassischen antiken Vorbildern wie den römischen Historikern Livius und Tacitus. Auch prominente Dichter der griechischen und römischen Antike – wie Euripides bzw. Vergil, Horaz und Statius – zog Kaempfer mitunter heran, ohne dabei immer auch ihren Namen zu nennen; so zitierte er z.B. Horaz (S. 244) als Romanae fidicen lyrae, indem er ihn also mit genau demselben Prädikat umschrieb, mit dem sich Horaz im markanten vorletzten Vers einer Ode (carm. 4,3,23) selber kennzeichnet. Aber erst ein vollständiger Index der antiken Namen und Sachen, die in den Amoenitates Exoticae begegnen, wird die Dimension und wesentliche Bedeutung der Rezeption der ‚Classical Tradition’ in Kaempfers Werk klar erkennen lassen.

III. Tradition und Innovation in Kaempfers Amoenitates Exoticae: Sprachlich-stilistische und literarische Paradebeispiele in den Paratexten (Titelseite, Widmungsschreiben und Vorwort)

Wie kreativ Kaempfer traditionelle und weit verbreitete antike Vorstellungen umgestaltete, zeigt bereits in der praefatio zu den Amoenitates Exoticae seine originelle metaphorische Bezeichnung ultima Orientis Thule als Attribut Japans: Während nach den zahllosen seit der Antike überlieferten Zeugnissen die sagenumwobene untergegangene Insel Thule irgendwo im Norden Europas zu verorten und zu finden ist,13 verlagerte Kaempfer offenbar als erster und einziger Autor die so lange vergeblich gesuchte mythische Insel in eine entgegengesetzte geographische Richtung, nämlich den äußersten Osten Asiens, indem er Thule konkret mit dem der Antike völlig unbekannten Inselreich Japans identifizierte.

1. Das Titelblatt der Amoenitates Exoticae

Signifikant ist schon der auf der rechten Titelseite hervorgehobene Haupttitel des Werkes: Amoenitatum Exoticarum politico-physico-medicarum fasciculi V, verkürzt auf dem Spruchband des Bildes der linken Titelseite zur prägnanten Junktur Amoenitates Exoticae. Das Substantiv amoenitas (‚Anmut‘, ‚Köstlichkeit‘) und das zugehörige Adjektiv amoenus (man denke nur an den literarischen Topos des locus amoenus) kommt in der antiken lateinischen Literatur zwar oftmals vor,14 aber niemals – weder im Singular noch (wie hier bei Kaempfer) als Pluralform – im Titel und damit als Zentralbegriff einer überlieferten lateinischen Schrift der Antike. Das gleiche gilt für das antike griechisch-lateinische Adjektiv exoticus (= ἐξωτικός), das Kaempfer mit amoenitates verbindet, das aber weder in der griechischen noch in der lateinischen erhaltenen Literatur der Antike in der Überschrift eines Werkes auftritt.

Kaempfer war jedoch keineswegs der erste lateinische Autor, der die Begriffe amoenitas und exoticus im Titel einer Schrift präsentierte. Bereits 1615 – fast 100 Jahre vor Kaempfers Publikation der Amoenitates Exoticae – hatte der bedeutende Humanist Erycius Puteanus (1574–1646) in Leuven seine Amoenitatum humanarum diatribae XII, quae partim philologiam, partim philosophiam pertinent herausgegeben, und allein im kurzen Zeitraum von 1658 bis 1712 (dem Erscheinungsjahr der Amoenitates Exoticae Kaempfers) wurden 16 weitere lateinische Werke mit dem zentralen Titelbegriff Amoenitates veröffentlicht, die Themen aller wissenschaftlichen Hauptdisziplinen behandelten.15 Seit 1712 erschienen sogar mehr als 300 ganz verschiedenartige lateinische Werke mit der Überschrift amoenitates als gemeinsamem Merkmal. Die Pluralform amoenitates als Titel von Monographien gehört somit zu den typischen Phänomenen der neulateinischen Literatur und erfordert daher eine Spezialuntersuchung.

Ähnlich verhält es sich mit der Verwendung von exoticus in der neulateinischen Prosaliteratur seit dem frühen 17. Jahrhundert. Schon der berühmte Botaniker Carolus Clusius (Charles de l’Ecluse) hatte mit seinen in Antwerpen 1605 erschienenen Exoticorum libri decem, quibus animalium, plantarum, aromatum, aliorumque peregrinorum fructuum historiae describuntur die Grundlage für viele weitere natur- und kulturwissenschaftliche lateinische Werke geschaffen, deren Überschriften den Schlüsselbegriff exoticus aufweisen und die auch von Kaempfer zitiert wurden.16 Aber Kaempfer war offenbar der erste lateinische Schriftsteller, der exoticus im Titel eines Werkes mit amoenitates verknüpfte. Die Junktur Amoenitates Exoticae als der herausgehobene Oberbegriff der langen Überschrift bildet demnach eines der auffälligsten Alleinstellungsmerkmale des Hauptwerkes Kaempfers.17

Singulär sind auch die zusätzlichen Angaben Kaempfers auf dem Titelblatt seiner Amoenitates Exoticae. So lässt sich zwar Kaempfers Einteilung des Werkes in fasciculi V (fünf Faszikel), von welchem Nominativ die vorgeschalteten Genitive Amoenitatum exoticarum […] medicarum abhängen, auf Vorbilder Ciceros zurückführen, der zwei philosophische Hauptwerke – De finibus bonorum et malorum sowie Tusculanarum disputationum libri quinque – ebenfalls auf fünf Bücher verteilt hatte.18 Aber erstens benutzte Kaempfer nicht den trivialen Terminus liber, sondern den erlesenen Ausdruck fasciculus. Zweitens schob er zwischen Amoenitatum exoticarum und fasciculi V mit der adjektivischen Junktur politico-physico-medicarum drei weitere Kernbegriffe ein, die das Werk gewissermaßen a priori von allen anderen vergleichbaren Schriften wesentlich unterscheidet. Unverwechselbar sind ferner auch die sachlichen Angaben Kaempfers im folgenden Relativsatz.19 Zwar verwendet Kaempfer dabei einzelne Begriffe, die allesamt auch in antiken lateinischen Texten vorkommen, aber kein antiker Autor hat jemals so neuartige Junkturen wie ulterior Asia und peregrinationes per universum Orientem collectae geprägt, um damit zum Ausdruck zu bringen, er habe – wie dann später tatsächlich Kaempfer (von 1683 bis 1692) – Reisen durch ‚ganz Asien‘ unternommen (von Persien bis nach Japan). Den krönenden Abschluss der originellen Angaben und Formulierungen auf der Titelseite der Amoenitates Exoticae bildet schließlich Kaempfers Motto Virtuti nihil invium (‚Der Tüchtigkeit <ist> nichts unwegsam’).20 Mit dieser einprägsamen Devise, die merkwürdigerweise in den modernen Sammlungen lateinischer Sprichwörter, Sentenzen und Wahlsprüche fehlt,21 fasste Kaempfer offenbar als erster22 drei markante klassische Vorbilder der antiken römischen Literatur in prägnanter Form zu einer neuen Einheit effektvoll zusammen, nämlich den daktylischen Halbvers Invia virtuti nulla est via (‚Der Tugend ist kein Weg unwegsam’) bei Ovid (met. 14, 113), den glykoneischen Vers Nil mortalibus arduum est (‚Nichts ist den Menschen allzu schwierig’) bei Horaz (carm. 1, 3, 37) und die Junktur nihil virtuti suae invium (‚nichts <sei> ihrer Tüchtigkeit unzugänglich’) bei Tacitus (Agr. 27, 1).

Kaempfers Prägung und Verwendung des Sinnspruchs virtuti nihil invium beleuchten somit in exemplarischer Weise seinen kreativen Umgang mit literarischen Mustern der Antike: Einerseits benutzte Kaempfer mit der Maxime virtuti nihil invium, die er seinem Prosawerk voranstellte, dasselbe erlesene Versmaß – einen Glyconeus –, das Horaz (wie Ovid einer der drei größten Dichter des augusteischen Zeitalters) in einem seiner bekanntesten lyrischen Gedichte geboten hatte, und auch sonst bestehen zwischen Kaempfers Motto und dem horazischen Vers nil mortalibus arduum est formale ebenso wie inhaltliche wesentliche Gemeinsamkeiten, da Kaempfer lediglich die kontrahierte Form nil durch die Normalform nihil sowie mortalibus durch virtuti und arduum durch invium ersetzte, die entbehrliche Verbalform est dagegen vermied. Andererseits stimmt Kaempfers Wortwahl insofern mit den Vorlagen bei Ovid und Tacitus völlig überein, als Kaempfer ebenso wie Tacitus (der hervorragende kaiserzeitliche Historiker) nihil mit virtuti invium verband und damit ihre gemeinsame poetische Quelle, Ovids Vershälfte invia virtuti nulla est via, nur geringfügig variierte (nihil statt nulla via und Streichung der Kopula est wie bei der Rezeption des Horazverses). Aber indem Kaempfer die Reihenfolge der Wörter, wie er sie bei Ovid und Tacitus vorfand, veränderte und sie nicht – wie Tacitus – in die Periode einer langen Satzkonstruktion einordnete oder – wie Ovid – das hexametrische Metrum bevorzugte, sondern gemäß dem von Horaz übernommenen kürzeren metrischen Gefüge eines Glyconeus umgestaltete, erzielte er mit der pointierten elliptischen Sentenz virtuti nihil invium eine stärkere Wirkung als analog jeweils Ovid und Tacitus. Jedenfalls hätte Kaempfer das Leitmotiv seiner ungewöhnlich schwierigen und überaus gefahrvollen zehnjährigen Reise von Persien bis zum damals in Europa fast noch ganz unbekannten Inselreich Japans, das er im Vorwort zu den Amoenitates Exoticae mit kühner Umdeutung eines geographischen Topos der antiken literarischen Tradition metaphorisch als Ultima Orientis Thule bezeichnet,23 in der Überschrift seiner ersten Gesamtdarstellung jener einzigartigen Reise durch Asien kaum treffender zum Ausdruck bringen können als eben mit dem plakativen Kernsatz virtuti nihil invium.

2. Kaempfers Widmung der Amoenitates Exoticae an den Grafen Friedrich Adolf zu Lippe

Seit der Antike – ganz besonders seit dem Beginn der neulateinischen Literatur im Zeitalter Petrarcas – gehört es zu den Gepflogenheiten lateinischer Autoren, ihr Werk – eine Prosaschrift oder einen poetischen Text – jeweils einer prominenten zeitgenössischen Persönlichkeit zu widmen.24 Die Hauptbestandteile solcher lateinischen Dedikationsschreiben erläuterte zuletzt K. A. E. Enenkel in seinem Aufsatz „Die monastische Petrarca-Rezeption: Zur Autorisierung über den Widmungsempfänger und zu anderen Bedingungen des Erfolgs von De vita solitaria in spätmittelalterlichen Klöstern“,25 und zwar am Beispiel des Widmungsvorworts Petrarcas zu seinem 1366 edierten und an den Bischof von Cavaillon, Philippe de Cabassoles, als seinen Dienstherrn adressierten Werk De vita solitaria, eines der ersten Buchwidmungen der neulateinischen Literatur.

In der literarischen Tradition derartiger Widmungen, die wie Vorreden der Autoren zu den typischen Paratexten lateinischer Schriften gehören, steht auch Kaempfer mit seiner unmittelbar auf die Titelseiten der Amoenitates Exoticae folgenden feierlichen Widmung des Werkes an seinen Dienstherrn, den Grafen zu Lippe: Illustrissimo Celsissimoque Comiti ac Domino, Domino Friderico Adolpho […]. Demgemäß weist Kaempfers lateinischer Dedikationstext folgende Elemente auf: (1) Generelle Beschreibung der Eigenart und Hervorhebung des unschätzbaren hohen Wertes des Werkes, (2) Widmung der gesamten Schrift an den Grafen Friedrich Adolph als den geeignetsten und auf Grund seiner vorzüglichen Leistungen und Verdienste würdigsten Empfänger, (3) Bezeugung demütiger Ergebenheit und des Dankes an diesen Widmungsadressaten für große bisher erwiesene Wohltaten sowie Bitte um weitere Gunst und Unterstützung, (4) Zusage und Versprechen, auch zukünftig die bisherigen wissenschaftlichen Studien bis ans Lebensende mit allen Kräften fortzusetzen.

Diese bei einer Buchwidmung zu beachtenden vier zentralen Aspekte bringt Kaempfer erwartungsgemäß im normativen erhabenen Stil poetisch überhöhter lateinischer Kunstprosa angemessen zur Geltung, indem er ständig auf jeweils passende literarische, kulturelle und religiöse Vorbilder der paganen griechisch-römischen Antike zurückgreift und sie jeweils geschickt auf die Motive und Zielsetzungen seines Dedikationsschreibens überträgt.

(1) Spolia ex Oriente fero […] vix aestimandi:

Zur antiken und frühneuzeitlichen Bedeutung des Begriffes ‚Spolien’ (spolia) vgl. die Artikel „Spolien“ in: Der Neue Pauly Bd. 11 (2001), Sp. 834–836 und Bd. 15/3 (2003), Sp. 195–208. Neu ist Kaempfers Verbindung von spolia mit dem Zusatz ex Oriente fero, zumal wenn man bedenkt, dass Kaempfer unter Oriens nicht in antikem Sinne den relativ kleinen Raum des Vorderen Orients versteht, sondern entsprechend der Junktur per universum Orientem im Titel der Amoenitates Exoticae das der Antike noch unbekannte riesige Gebiet Asiens von Persien bis Japan.

Die ‚Beutestücke’ (spolia), die er aus dem Orient bringt, definiert Kaempfer zunächst in negativer Weise (non ea …, sed …), indem er ihnen drei andere Güter und Wertgegenstände gegenüberstellt, die zu den Bereichen der antiken Mythologie und Literatur gehören: (1) Palladias aegides, (2) phaleratos equos, (3) rapta ex Colchide vellera aurea. Mit der Junktur Palladias aegides (‚Palladische Schilde’) meint Kaempfer generell die aus Schild, Speer und Helm bestehende Rüstung der griechischen Göttin Athene (römisch: Minerva), speziell den Schild (aegis) als die eigentümliche Waffe der Athene/Minerva. Der Plural aegides bezeichnet somit allgemein (wie analog danach vellera aurea) den Typ eines Schildes, wie er für die prominente griechisch-römische Göttin charakteristisch war.

Phalerae und phalera sowie das zugehörige PPP phaleratus (TLL X, 1, 1998, 30–2000, 57) bezeichnen in der antiken lateinischen Literatur gewöhnlich den Stirn- und Brustschmuck vor allem edler Pferde; phalerati equi sind demnach allgemein in erster Linie die prächtig geschmückten Pferde von Herrschern, Vornehmen oder Reichen.

Der Raub des goldenen Vlieses aus Kolchis (an der Ostküste des Schwarzen Meeres) war das Hauptziel der berühmten – insbesondere aus den Dichtungen des Apollonios Rhodius und Valerius Flaccus bekannten – Argonauten; der Plural vellera aurea bezeichnet somit – entsprechend Palladias aegides zuvor – generell alle besonders wertvollen Schafsfelle, als deren Prototyp jenes antike goldene Vlies galt.

Der römische Kriegsgott Mars erfüllt somit in metaphorischem Sinne eine ähnliche Funktion wie zuvor Pallas Athene mit ihrem Attribut, dem Schild als der für sie typischen Waffe; Mars’ Name dient hier sogar mit der Junktur Martio hoc aevo als Symbol für das gesamte Zeitalter Kaempfers, der drei Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges geboren wurde. Derartige Kontrastierungen unterschiedlich einzuschätzender und zu bewertender materieller und geistiger Güter sind bereits in der antiken Poesie und Prosa weit verbreitet. So schildert z.B. Horaz in seiner berühmten ersten Ode, dem Prolog der die Bücher I–III umfassenden Sammlung seiner lyrischen Gedichte, zuerst ausführlich die mannigfaltigen Bestrebungen anderer Menschen und die Haupttypen menschlicher Lebensgestaltung ( carm. 1,1,2–28: Sunt quos curriculo pulverem Olympicum / collegisse iuvat … ), um ihnen dann direkt seinen eigenen Beruf als einzigartiger römischer Dichter gegenüberzustellen ( V. 29–36: Me doctarum hederae praemia frontium / dis miscent superis … ). Kürzer, aber nicht weniger effektvoll ist die ähnliche Selbstdarstellung eines jüngeren anderen römischen Dichters gegenüber konträren Lebensformen, nämlich in der ebenfalls programmatischen ersten Elegie Tibulls (1, 1, 1–6): Divitias alius fulvo sibi congerat auro / et teneat culti iugera multa soli, / quem labor assiduus vicino terreat hoste, / Martia cui somnos classica pulsa fugent: / me mea paupertas vita traducat inerti, / dum meus assiduo luceat igne focus (‚Möge ein anderer für sich Reichtümer an funkelndem Gold häufen / und viele Morgen gepflegten Ackerbodens besitzen; ihn erschrecke der ständige mühevolle Streit mit dem feindlichen Nachbarn, / ihm verscheuche den Schlaf der Ruf der Kriegstrompete: / Mich geleite mein bescheidenes Auskommen in einem Leben ohne Betriebsamkeit, / wenn nur ständig das Feuer in meinem eigenen Herd erglüht’); auch die Wortwahl Tibulls (fulvo auro und Martia classica) lässt Parallelen zu Kaempfers Einleitung seines Widmungsschreibens erkennen (vellera aurea und Martio hoc aevo).

Mit per Asiam universam bringt Kaempfer deutlicher als mit auf der Titelseite der Amoenitates Exoticae zum Ausdruck, dass ihn seine zehnjährige Reise tatsächlich von Persien quer durch Asien bis zum ostasiatischen Inselreich Japan führte. Da Kaempfers große Reise vom 32. bis zum 42. Jahr seines Lebens dauerte, übernimmt er mit dem Ausdruck florida aetas mea die traditionelle antike Einteilung der Lebensalter, nach der als die Blütezeit des Menschen (ἀκμή) ungefähr das 40. Lebensjahr gilt. Deutlicher als mit diesem emphatischen Hinweis auf den unschätzbaren Wert seines Werkes hätte Kaempfer die Bedeutung der Amoenitates Exoticae gegenüber allen vergleichbaren Objekten kaum hervorheben können.

(2) dignos tamen atque congruos […] gloriose soles:

Diese Parenthese erfüllt keine andere Funktion, als in typisch rhetorischer Frageform hervorzuheben, dass Kaempfer seinen Dienstherrn, den Grafen Friedrich Adolph, tatsächlich für die einer Widmung der Amoenitates Exoticae würdigste Persönlichkeit hielt. In dieser – schon durch die ehrfurchtsvolle Anrede im ersten Satz des Widmungsschreibens (… ad pedes Celsitudinis Tuae devotissima mente ac manu depono) vorbereitete – Dedikation benutzt Kaempfer nicht die für solche Buchwidmungen seit der Antike gebräuchlichsten und insofern trivialen Termini dedicare/dedicatio, sondern einen gehaltvolleren anderen Ausdruck, nämlich das vornehmlich religiös konnotierte Adjektiv sacer (‚heilig, geweiht’) in Verbindung mit dem Substantiv chartaceus und dem Verb constituere. Mit einer derartigen erlesenen Wortwahl hebt Kaempfer also den Wert der Amoenitates Exoticae auch unter sprachlich-stilistischen Aspekten auf ein extrem hohes Niveau.

Bereits in der antiken lateinischen Literatur dienten die typisch römischen Bekleidungsstücke toga (das Gewand des Römers in Friedenszeiten) und sagum (der kurze Mantel, insbesondere der Soldaten- und Kriegsmantel) sowie die zugehörigen PPP togatus und sagatus oft in übertragenem Sinne allgemein als Symbole für Frieden und Krieg (mit ihren jeweiligen Attributen). Seit dem Renaissance-Humanismus wurden dementsprechend speziell die metaphorischen Bezeichnungen togatus und sagatus in den neulateinischen Lehrbüchern der Rhetorik (der Theorie und Praxis der Redekunst) auf alle Bereiche angewandt, die sich auf die – nur in Friedenszeiten blühenden – literarischen und wissenschaftlichen Studien oder, im Gegensatz dazu, auf militärische und kriegerische Tätigkeiten beziehen. In der Tradition dieser frühneuzeitlichen rhetorischen Spezialschriften steht auch das rhetorische Hauptwerk eines jüngeren Zeitgenossen Kaempfers, des Jesuiten Niccolò Vulcano (1664–1737), mit dem programmatischen Doppeltitel Sagata Pallas sive pugnatrix eloquentia, welche drei Bücher umfassende Schrift Thomas Feigenbutz und Andreas Reichensperger unter der Überschrift „Barockrhetorik und Jesuitenpädagogik“ vor einigen Jahren (Tübingen 1997) in zwei Bänden erstmals herausgaben; vgl. dazu die eingehende Rezension von K. A. Neuhausen in: Neulateinisches Jahrbuch 1, 1999, S. 266–276. Mit der Prädikation togata non minus quam sagata virtute instructus Heros übernahm also Kaempfer rhetorische Schlüsselbegriffe speziell der traditionellen neulateinischen Terminologie und hob damit schlagwortartig hervor, dass sich der Widmungsempfänger der Amoenitates Exoticae als ‚Held’ nicht nur durch militärische und kriegerische Tüchtigkeit (sagata virtute) auszeichnete, sondern ebenso auch durch vortreffliche literarische Betätigung (togata).

In kunstvollem lateinischem Prosastil – besonders mit dem metaphorischen Ausdruck pari lance aestimas und der wirkungsvollen Satzklausel (amore complecteris bildet einen Dicreticus) – schildert Kaempfer die praktischen Auswirkungen der allgemeinen Charakteristik seines Heros als togata non minus quam sagata virtute instructus. Dabei entspricht die Junktur arma et litteras den konträren Begriffen sagata und togata virtus, während pari lance auf non minus … quam zurückverweist. Deutlicher also als zuvor – die arma (‚Waffen’) rangieren hier vor den litterae – lässt Kaempfer erkennen, dass aus historischer Sicht der eigentliche Schwerpunkt der Wirksamkeit des Grafen Friedrich Adolph, dem er die Amoenitates Exoticae widmete, in Wirklichkeit nicht so sehr auf literarischem als vielmehr auf dem militärischen Gebiet lag. Doch zeigt Kaempfers Porträtierung seines Dienstherrn zugleich auch insofern spezifisch humanistischen Einfluss, als er ihn gerade dadurch, dass er ihm als dem Widmungsempfänger der Amoenitates Exoticae mit den typischen Merkmalen sagata (bzw. arma) und togata virtus (bzw. litterae) eine hervorragende Doppelqualifikation zusprach, sogar in die Nähe eines der größten antiken Vorbilder rückte: Julius Cäsar war ja nicht nur einer der erfolgreichsten römischen Feldherren, sondern auch literarisch in höchstem Maße gebildet und zudem ein profilierter lateinischer Prosaschriftsteller.

Bezeichnenderweise verwendet Kaempfer, um die literarischen Studien, denen sich der Adressat der Amoenitates Exoticae widmete (his … studiis), treffend zu definieren, den Ausdruck studia humaniora. In der Tat gilt diese Junktur – der Komparativ von humanus in Verbindung mit der Pluralform studia – bis heute geradezu als der klassische Begriff, um generell die literatur- und geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit den hervorragenden lateinischen Schriften der Humanisten seit dem Beginn der Renaissance in Italien und damit die Erforschung der gesamten Tradition der antiken griechisch-römischen Literatur plakativ zu kennzeichnen. Es ist kein Zufall, dass die Reihe der Publikationen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten (inzwischen leider eingestellten) „Kommission für Humanismusforschung“ den Titel „Acta humaniora“ trug.

Auch diese Wortwahl hat programmatische Bedeutung. Edulcare (‚süß machen’) begegnet in der überlieferten antiken Literatur nur an drei Stellen (TLL V, 2, 124, 3–6) – bei Gellius und Nonius zur Erklärung des metaphorischen Gebrauchs des Verbs in einem (verloren gegangenen) poetischen Text –, war jedoch Kaempfer offenbar dank seiner intensiven Lektüre der lateinischen Schriften der Antike bekannt und erwies sich für ihn als vorzüglich geeignet, um am Beispiel des Grafen Friedrich Adolph die Funktion zu veranschaulichen, welche die studia humaniora erfüllen: Diese sollen die politischen Sorgen (curas regiminis) seines Dienstherrn und Widmungsempfängers der Amoenitates Exoticae ‚versüßen’, d.h. in angenehmer Weise gewissermaßen auf einer höheren kulturellen Ebene vertreiben. Generell trifft diese Absicht auf das Studium der gesamten lateinischen Literatur zu, deren Kenntnis Kaempfer in den Amoenitates Exoticae voraussetzt.

Ebenso wie kurz zuvor im selben Satz studia humaniora und edulcare löst hier Kaempfers Wahl des Verbs vacare (‚frei sein für’, ‚Muße haben für’) in Verbindung mit dem Dativ selectissimae bibliothecae Tuae eine Signalwirkung aus. Am Anfang der kurz vor Cäsars Ermordung (15. März 44 v.Chr.) verfassten zwei Bücher ‚Über die Weissagung’ (div. 1, 11) bekennt Cicero gegenüber seinem Bruder Quintus, dem er die Schrift widmete, lapidar: Ego vero … philosophiae … semper vaco (‚Für die Philosophie … habe ich immer freie Zeit’). Dieses Selbstzeugnis Ciceros trifft demnach prinzipiell auf alle philosophischen Werke zu, die Cicero von 46 bis 44. v.Chr. schrieb und publizierte, nachdem er sich – infolge der Alleinherrschaft Cäsars politisch entmachtet – aus dem öffentlichen politischen Leben in Rom zurückgezogen hatte, um privat auf seinen (jeweils mit einer reichhaltigen Bibliothek ausgestatteten) Landgütern vor allem zentrale philosophische Themen zu erörtern und so die Hauptgebiete der Philosophie systematisch zu behandeln. Diese jedem Leser der klassischen Texte des Corpus Ciceronianum bekannten Vorgänge übertrug Kaempfer ‚mutandis mutatis’ auf die Situation und das Verhalten seines Landesherrn, indem er der Kernaussage Ciceros in div. 1, 11 das Schlüsselwort vacare wörtlich entnahm, aber das von diesem Wort bei Cicero abhängige Dativobjekt philosophiae, einen abstrakten Begriff, durch einen entsprechenden konkreten Gegenstand ersetzte, nämlich bibliothecae Tuae, also den Ort und Raum, wo ein Studium gewöhnlich stattfindet. So erweckt Kaempfer hier den Eindruck, dass sich Friedrich Adolph zu Lippe nach dem berühmten Vorbild Ciceros, der nach seinem Weggang vom Forum Romanum zwei Jahre lang (46–44) hauptsächlich nur noch philosophische Studien betrieb, ‚nach dem Verlassen des Feldlagers’ (relictis campis) in die erlesene Bibliothek des Hofes (aula) seiner Grafschaft zu begeben pflegte (soles), um sich in rühmenswerter Weise (gloriose) ganz den traditionellen studia humaniora zu widmen, in deren Mittelpunkt kanonische Schriften wie gerade Ciceros Werke standen.

(3) Quo minus dubito […] radiis clementer fovebit:

Die bisher kommentierten Passagen des Widmungstextes bieten viele Beispiele dafür, wie Kaempfer antike literarische Quellen für seine Zwecke benutzte, obwohl er jeweils keinen einzigen Autor oder Text ausdrücklich zitiert. Hier dagegen scheint der umgekehrte Fall vorzuliegen; denn unabhängig davon, ob man die ambivalente Verbalform legimus als Präsens (‚wir lesen’) oder als Perfekt (‚wir haben gelesen’) auffasst, erzeugt Kaempfers Angabe den Eindruck, er erinnere dabei an eine ganz bestimmte Textstelle oder sogar mehrere literarische Zeugnisse der paganen griechischen und römischen Antike. Tatsächlich jedoch ist zwar eine unendlich große Menge antiker Texte überliefert, die Zeus/Jupiter, den obersten Gott des griechisch-römischen Pantheons, betreffen; aber es gibt m.W. keinen einzigen literarischen Beleg, der Kaempfers emphatische Aussagen über Jupiter mit seiner archaisierenden Namensform (Iovi Maxumo …), und zwar speziell seine Wertschätzung der Opfergaben uralter Völker, bestätigt. Kaempfers Rezeption der antiken griechischen und lateinischen Literatur geht also bisweilen so weit, dass er sich sogar auf scheinbar zuverlässige, in Wirklichkeit freilich fiktive Testimonien der Antike beruft, um die Glaubwürdigkeit seiner Argumentation zu erhöhen und ihr somit noch mehr Durchschlagskraft zu verleihen. Ein solches Verfahren zeigt, dass man aus methodischen Gründen bei der Interpretation jedes Satzes, in dem Kaempfer einen antiken Text ‚expressis verbis’ oder indirekt adaptiert, auch mit der Möglichkeit einer literarischen Fiktion rechnen muss.

Die Wirkung der literarischen Fiktion, als die sich sein vermeintliches Jupiter-Zitat erweist, steigert Kaempfer noch erheblich mit der folgenden Junktur Divino exemplo aemula (sc. Celsitudo Tua). Zwar benutzt er mit dem Adjektiv aemula die beiden Leitmotive des Renaissance-Humanismus: imitatio und aemulatio, die Nachahmung der antiken Vorbilder und zugleich das Bestreben, sie jeweils nach Möglichkeit zu übertreffen. Insofern hat Kaempfer sein Ziel hier erreicht; denn indem er in typisch humanistischer Manier seinen Gönner bittet, einem großartigen ‚göttlichen Beispiel’ (Divino exemplo), wie es Jupiter angeblich geboten hat, nachzueifern und es sogar noch zu übertrumpfen, stellt er den christlichen Grafen zu Lippe rangmäßig über den Gott, der in der antiken Götterwelt die höchste Autorität besitzt. Aber Kaempfer ging dabei das Risiko ein, dass ein kritischer Leser seine Erfindung eines klassischen antiken Paradigmas als geschickten rhetorischen Kunstgriff durchschaute.

Kaempfer greift hierbei auf Motive zurück, die er bereits in seinem fast 20 Jahre vorher (1683) an Rudbeck d.Ä. gesandten programmatischen Brief entwickelt hatte, und passt sie der Absicht an, die er im vorliegenden Widmungsschreiben verfolgt; zu den Details jenes frühesten erhaltenen lateinischen Briefes Kaempfers vgl. K. A. Neuhausen, in: Neulateinisches Jahrbuch 12, 2010, S. 114 und 117 (mit den jeweils zugehörigen Anmerkungen).

(4) dum spiritus hos regit artus:

Mit diesem temporalen Nebensatz, der den gesamten Text der Dedikation beendet, bietet Kaempfer in wirkungsvoller Weise tatsächlich zum ersten Male ein echtes Zitat des originalen Wortlauts eines antiken lateinischen Textes, das zudem aus einem der berühmtesten Werke der Antike stammt. Zwar nennt Kaempfer weder den Namen des Autors noch den Titel des Werkes, und da er den zitierten Satzteil in derselben Druckschrift (Kursive) präsentiert wie den gesamten vorangegangenen Text der Widmung, erweckt er überdies den Eindruck, der dum-Satz sei kein Zitat, sondern ebenfalls Bestandteil des von ihm selber verfassten Prosatextes. Aber in Wirklichkeit handelt es sich hier um ein poetisches Element und sogar um eine der bekanntesten Passagen in Vergils Aeneis, nämlich einen Auszug aus der Rede, die Äneas im Rahmen seines schicksalhaften Gesprächs mit Dido hält (Aen. 4, 333–361), und zwar die zweite Hälfte des Verses 336: …dum spiritus hos regit artus. Mit dieser klassischen Reminiszenz – einer Anspielung auf das römische Nationalepos als feierlichem Finale seiner Widmung an den Grafen zu Lippe – hebt Kaempfer den Sprachstil der Amoenitates Exoticae von vornherein auf ein denkbar hohes literarisches Niveau und verpflichtet jeden Interpreten dazu, bei der Erklärung aller folgenden Textteile des Riesenwerkes stets zu überlegen, ob, wie und inwieweit Kaempfer jeweils eine antike (griechische und lateinische) Quelle in seine fortlaufende Darstellung einfließen lässt.

3. Kaempfers Vorwort (praefatio) zu den Amoenitates Exoticae

Nach der Analyse der Angaben Kaempfers auf der Titelseite und in der Dedikation der Amoenitates Exoticae ist von vornherein zu erwarten, dass auch seine (ebenfalls im Original unpaginierte) praefatio zum Gesamtwerk überall Spuren eines Einflusses der antiken – griechischen und lateinischen – Literatur aufweist. Da jedoch dieser dritte Paratext der Amoenitates Exoticae mit 10 Druckseiten mehr als dreimal so umfangreich ist wie die vorangegangene Widmung, seien hier nur zwei repräsentative Beispiele (in der Reihenfolge ihres Auftretens im lateinischen Text) angeführt, um jeweils Kaempfers Rezeption antiker literarischer Vorlagen und Modelle zu veranschaulichen.

(1) Die Zahlangaben octodecim anni und trecentae occupationes (S. 1): Historische Realität und literarische Tradition26

Kaempfers autobiographische Aussage „Octodecim anni sunt, cum ab Indis in patriam appuli“ („Achtzehn Jahre sind es her, seitdem ich vom <Land> der Inder <wieder> in der Heimat gelandet bin“), mit welcher er sein Vorwort feierlich einleitet, besagt aus dieser Rückschau im Jahre 1712 (dem Erscheinungsjahr der Amoenitates Exoticae) wörtlich genommen, dass er 1694 von Indien aus auf dem Seeweg27 direkt in seine Geburtsstadt Lemgo zurückgekehrt ist. Tatsächlich jedoch trat er in Japan seine Rückreise nach Java bereits im Herbst 1692 an, fuhr von dort mit der Retourflotte der VOC über Südafrika nach Europa zurück, traf in Amsterdam schon am 6. Oktober 1693 ein und kehrte nach seinem Aufenthalt in den Niederlanden erst im August 1694, und zwar auf dem Landweg, in seine ostwestfälische Heimat zurück.

Warum wählte Kaempfer statt der Kardinalzahl duodeviginti (TLL V, 1, 225, 28–66) , der normalen und daher in der antiken lateinischen Literatur sehr oft vorkommenden Bezeichnung für das Zahlwort „18“, ausgerechnet den scheinbar präzisen, doch in Wirklichkeit hier ungenauen und zudem seltenen, nämlich nur an insgesamt fünf Stellen bei drei spätantiken Autoren (in den Digesten sowie bei Irenaeus und Ps.-Augustinus) belegbaren Ausdruck octodecim (TLL IX, 2, 432, 1–11) , und zwar dort zweimal ebenfalls in Verbindung mit anni sowie mit anderen Zeitangaben (menses und aeones)? Ferner: Warum verknüpft Kaempfer dabei octodecim mit der zwar markanten, aber gleichfalls nicht ganz zutreffenden topographischen Angabe „ab Indis in patriam appuli“, obwohl er im weiteren Verlauf seines Vorworts (S. 4–5) – in seiner detaillierten und geographisch korrekten Schilderung der Etappen und Hauptstationen seiner zehnjährigen Reise von Finnland über Russland und Persien bis nach Japan – die seit der Antike gebräuchlichen lateinischen Namen für die Inder und ihr Gesamtgebiet (Indi/India) vermeidet und durch die Umschreibung „inde in terras magni Mogilis, regna Malabarica, Ceylanam, et regionem Sinus Gangetici concedo“ ersetzt? Schließlich: Warum verwendete Kaempfer im ersten Faszikel der Amoenitates Exoticae (S. 76 f.) statt des Namens Indi zweimal die Bezeichnung Indiani?

Eine Erklärung der Verfahrensweise Kaempfers erweist sich als einfach, wenn man wiederum mögliche Reminiszenzen an allgemein bekannte antike literarische Vorbilder in Erwägung zieht. Als maßgebliche Folien kommen hier daher kaum die Verwendungen von octodecim in jenen allzu entlegenen drei spätantiken Schriften in Betracht oder gar Sonderfälle wie die erweiterte Zahlangabe für „118.000“ bei Livius ( 39, 5, 14: tetradrachmum Atticum centum octodecim millia ).28 Vielmehr ist an sprachlich und sachlich besser zum Kontext bei Kaempfer passende sowie zugleich zum traditionellen Kanon antiker lateinischer Texte gehörenden Paradigmata zu denken, wie sie z.B. Cäsars Bücher De bello Gallico bieten, die bis heute elementare Bestandteile jedes Lateinunterrichts und –studiums in Gymnasien und Universitäten bilden.

Cäsars berühmte Schilderung seines bahnbrechenden ersten Rheinübergangs sowie des dazu notwendigen ersten Baus einer Brücke über den großen Strom (Gall. 4, 16–19) gipfelt in der abschließenden stolzen Feststellung (19, 3): … diebus omnino decem et octo trans Rhenum consumptis satis et ad laudem et ad utilitatem populi Romani perfectum arbitratus se in Galliam recepit pontemque rescidit („ … nachdem er insgesamt 18 Tage jenseits des Rheins verbracht hatte, glaubte er, es sei genug sowohl zum Ruhm als auch zum Nutzen des römischen Volkes durchgeführt worden, zog sich daher nach Gallien zurück und ließ die Brücke abreißen“). Statt duodeviginti, der gebräuchlichen lateinischen Bezeichnung für „18“, zog Cäsar die zwar (wie octodecim) ungewöhnliche, aber wirkungsvollere Zahlangabe decem et octo vor, um mit dieser rhetorischen Steigerung des arithmetisch kongruenten, jedoch hier weniger wirksamen Ausdrucks duodeviginti (‚zwei von zwanzig’) stärker seine singuläre militärische Leistung hervorzuheben, die historisch betrachtet darin bestand, dass es ihm als erstem römischen Feldherrn gelang, den Rhein zu überqueren und sich eine Zeitlang – und zwar mit sogar 18 Tagen relativ lange – auf rechtsrheinischem Gebiet der Germanen aufzuhalten, und dass er dadurch erheblich dazu beitrug, das Ansehen der Römer bei den Germanen zu erhöhen und zugleich die Grundlage für eine noch erfolgreichere zukünftige Wahrung der politischen Interessen Roms in Germanien zu schaffen.

Kaempfer übernahm aus diesem so einprägsamen und jedem humanistisch gebildeten Zeitgenossen – zumal im damaligen deutschen Sprachraum – vertrauten Passus bei Cäsar die zentrale und prägnante Junktur diebus omnino decem et octo trans Rhenum consumptis, indem er sie mit einem stilistischen Kunstgriff nur geringfügig sprachlich veränderte und sachlich abwandelte: Zunächst ersetzte Kaempfer decem et octo durch die gleichfalls sehr seltene, aber zum deutschen Sprachgebrauch besser passende kontrahierte Form dieses von Cäsar verwendeten Zahlworts, nämlich octodecim (= ‚achtzehn’), und verband dann diese pointierte Kardinalzahl nicht – wie bei Cäsar – mit der Zeitangabe dies (‚Tage’), sondern mit anni (‚Jahre’). Während es Cäsar in seinen Feldzügen gegen die Germanen erstmals geschafft hatte, 18 Tage lang auf der rechtsrheinischen Seite germanischen Boden zu untersuchen, benötigte demnach Kaempfer 18 Jahre, um nach seiner Rückkehr aus Asien in den Amoenitates Exoticae zum ersten Male über seine zehnjährige Reise durch den gesamten Orient ausführlich zu berichten.

Warum bei Kaempfer an die Stelle von 18 Tagen dieselbe Anzahl von Jahren trat oder sogar treten musste, erhellt sich aus seinen auf Octodecim anni sunt […] direkt folgenden beiden Sätzen, und zwar besonders aus einer ganz anderen Zahlangabe, nämlich trecentae. Zunächst behauptet Kaempfer mit der Angabe Has protinus exponere publico constituebam aliquot voluminibus librorum […], welcher den zweiten Satz seiner praefatio einleitet, die fünf Faszikel der Amoenitates Exoticae, wie er sie 1712 veröffentlichte, seien schon unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Asien und Ankunft in Lemgo (1694) vollständig – abgesehen von ein paar notwendigen Zusätzen – fertiggestellt worden und hätten daher in nur wenigen Monaten (paucis mensibus) – also bereits 18 Jahre zuvor (1694 oder spätestens im Jahr danach) – gedruckt und publiziert werden können. Aus heutiger Sicht ist diese Behauptung sicherlich übertrieben und unglaubwürdig; denn die sorgfältige sprachlich-stilistische Ausarbeitung und die kunstvolle literarische Gesamtgestaltung der Amoenitates Exoticae erforderten gewiss zwar keine 18 Jahre, aber doch erheblich mehr Zeit als lediglich drei oder vier Monate. Tatsächlich nennt Kaempfer keine werkimmanenten sachlichen Gründe, die eine angeblich schon 1694 bevorstehende Edition des Werkes auf unbestimmte Zeit hinauszögerten, sondern macht allein äußere Umstände dafür verantwortlich, dass die Amoenitates Exoticae erst 18 Jahre später als vorgesehen erscheinen konnten: Verum trecentae me excipiebant et a ferventi proposito abducebant occupationes et impedimenta („Jedoch dreihundert Beschäftigungen und Hindernisse erwarteten mich und brachten mich <ständig> von meinem glühenden Vorsatz ab“).

Inwiefern waren es nun aber ausgerechnet exakt ‚dreihundert’ Gründe, die verhinderten, dass Kaempfer die Amoenitates Exoticae schon in den Jahren 1694/95 drucken ließ? Zwar gibt Kaempfer drei Hauptursachen an, die Schuld daran waren, dass er seinen ursprünglichen Plan bis 1712 noch nicht verwirklichen konnte: (a) seine privaten familiären Sorgen (gemeint sind vor allem seine Eheprobleme und die Scheidung von seiner Frau sowie der frühe Tod seiner beiden älteren Kinder), (b) die öffentliche Tätigkeit in seiner ärztlichen Praxis und (c) seine dienstliche Funktion als Leibarzt des Grafen zu Lippe. Aber der pauschale Hinweis auf diese drei Bereiche reicht offensichtlich nicht aus, um zu verstehen, warum Kaempfer die Dreizahl der Faktoren, auf die er die erst nach 18 Jahren erfolgte Publikation der Amoenitates Exoticae zurückführt, um das Hundertfache erhöht, nämlich auf genau „dreihundert Beschäftigungen und Hindernisse“.

Es wäre sicherlich naiv, eine solche runde und scheinbar genaue Zahlangabe in wörtlichem Sinne aufzufassen. So hat man in der bisherigen Kaempfer-Forschung versucht, die lateinische Kardinalzahl trecentae, wie sie Kaempfer hier präsentiert, als unbestimmte Angabe (‚zahllose’, ‚unzählige’ oder ‚zahlreiche Beschäftigungen’) zu übersetzen oder gar auf eine noch höhere runde Zahl wie mille (‚tausend’) zu erhöhen – entsprechend so beliebten lateinischen Junkturen wie z.B. mille basia in erotischen Gedichten. In Wirklichkeit jedoch handelt es sich bei der Zeitangabe „dreihundert“, wie sie Kaempfer vorliegt, und ihrer Verdopplung auf „sechshundert“ (sescenti) um uralte literarische Topoi,29 deren Verbreitung von der frühen griechischen und römischen Antike bis zu unserer Zeit reicht.

Als literarische Vorbilder für Kaempfers Verwendung von trecentae kommen hier in erster Linie speziell lateinische antike Texte in Betracht. Helfer (s.o.) hat in seinem lateinisch abgefassten aufschlussreichen Aufsatz mit der programmatischen Überschrift „Sescenta Svnt Qvae Memorem“ anhand etlicher Beispiele gezeigt, dass die Zahl „6“ und ihre Erweiterungen – insbesondere die Kardinalzahl „600“ (sescenti/sexcenti) – metaphorisch nicht nur manchmal in der antiken lateinischen Literatur, sondern außerordentlich oft auch im deutschsprachigen Raum bis zu unserer Zeit verwendet wird, um eine sehr große, jedoch nicht ganz genau definierbare Menge von Gegenständen, Begriffen oder Personen zu bezeichnen und dadurch den Anschein eines präzisen Zahlworts zu erwecken. Allerdings beschränkte sich Helfer zur Erläuterung dieses Phänomens auf vier antike literarische Belege, und zwar bei Plautus ( Aul. 320: sescenta sunt, quae memorem; Trin. 791: sescentae ad eam rem caussae possunt conligi ), Cicero ( Verr. 1, 125: possum sescenta decreta proferre ) und Petron ( 65, 10: sescenta huiusmodi fuerunt, quae iam exciderunt memoriae meae ).

Vor allem aber übersah Helfer völlig, dass in der antiken lateinischen Literatur die halbierte Anzahl von sescenti, also die Kardinalzahl trecenti = dreihundert (mit allen zum Wortstamm trecent- gehörenden Formen), die mit insgesamt ca. 400 Belegstellen doppelt so oft vorkommt wie die entsprechenden Wortformen von sescenti/sexcenti, nicht selten im selben übertragenen Sinne (‚unzählige’) gebraucht wird wie sescenti/sexcenti. Bezeichnenderweise ersetzte bereits Plautus das Zahlwort sescentae, wie er es im Trinummus bietet (s.o. zu Vers 791: sescentae ad eam rem caussae possunt conligi ), in einer anderen Komödie (Mil. glor. 250) durch trecentae, und zwar in einem fast identischen Halbvers: … trecentae possunt caussae conligi; außerdem tritt diese Kardinalzahl im gleichen metaphorischen Sinn noch zweimal bei Plautus auf: trecentis verbis (Pers. 410) und vel trecentis sc. verbis (Trin. 964) . Kein Wunder also, dass auch zwei andere prominente römische Dichter dem Beispiel des Plautus folgten und nicht sescenti, sondern gerade trecenti zur Umschreibung einer unbestimmten Anzahl wählten. So spricht Catull von ‚dreihundert Ehebrechern‘ ( carm. 11, 18: quos simul tenet complexa trecentos ),30 Horaz von ‚dreihundert Ketten‘ ( carm. 3,4, 79/8: amatorem trecentae / Pirithoum cohibent catenae ) und ebensovielen ‚Gepäckstücken‘ ( serm. 1, 5, 12: trecentos inseris ).31

Die antike literarische Tradition dieses Motivs, das schon in der klassischen Poesie der Römer einen so lebendigen Ausdruck fand, konnte Kaempfer als den Lesern seiner Amoenitates Exoticae allgemein bekannt voraussetzen und passte daher den überlieferten metaphorischen Gebrauch des Zahlworts trecenti geschickt seiner eigenen Situation im Jahre 1712 an, indem er im Rückblick auf die letzten 18 Jahre mit Emphase beklagte, dass ihm ‚dreihundert Beschäftigungen und Hindernisse‘ im Wege standen, bevor er sein Werk endlich herausgab. Dabei erzielte er eine erheblich stärkere Wirkung, als wenn er die ebenfalls traditionelle in der Literatur insgesamt viel häufiger vorkommende metaphorische Verwendung des Zahlwortes „sechshundert“ übernommen hätte; denn da er die Zahl „600“ um die Hälfte auf genau „300“ verringerte, schwächte er den möglichen Eindruck einer Übertreibung beträchtlich ab und erhöhte damit die Glaubwürdigkeit seiner sachlichen Angaben. Trotzdem bildet auch Kaempfers Präsentation der Kardinalzahl trecentae im Kern nichts anderes als eine Benutzung eines anschaulichen literarischen Gemeinplatzes, während das Zahlwort octodecim anni am Anfang des Vorworts zu den Amoenitates Exoticae sowohl die historischen Vorgänge widerspiegelt als auch eine literarische Anspielung erkennen lässt.

Ein passender anderer Rückgriff auf Cäsars Kommentare zum Gallischen Krieg trägt schließlich auch zur Erklärung des bei Kaempfer auf octodecim anni sunt folgenden Temporalsatzes „cum ab Indis in patriam appuli“ wesentlich bei. Cäsar beginnt die Darstellung seines zweiten Rheinübergangs mit folgender Feststellung (Gall. 6, 9, 1): Caesar, postquam ex Menapiis in Treveros venit, duabus de causis Rhenum transire constituit (‚Nachdem Cäsar aus <dem Gebiet der> Menapier in <das der> Treverer gekommen war, beschloss er aus zwei Gründen, den Rhein zu überschreiten‘). Der Temporalsatz postquam … venit weist zwei für Cäsars Sprachstil typische Ausdrucksformen auf. Mit den Präpositionen e/ex und a/ab vor dem Namen der Bewohner des jeweiligen Landes pflegt Cäsar den Ausgangspunkt eines bestimmten Marsches anzugeben (hier: ex Menapiis), mit ad oder in analog das erstrebte Zielgebiet (hier: ad Treveros). An die Stelle einer prägnanten Lokalbezeichnung der Herkunft wie ex Menapiis tritt demgemäß bei Kaempfer ab Indis, während in patriam einer Angabe der Richtung wie ad Treveros bei Cäsar entspricht. Obwohl also seine Aussage „ab Indis … appuli“ den historischen Tatsachen nicht ganz entsprach, nahm Kaempfer hier – am Anfang seines auf einem hohen stilistischen Niveau stehenden Vorworts zum Gesamtwerk der Amoenitates Exoticae – eine solche sachliche Ungenauigkeit zugunsten einer eleganten sprachlichen Ausdrucksweise in Kauf; denn seine Formulierung erfüllte die Erwartungen humanistisch gebildeter Leser, zumal da ihnen der lateinische Name der Inder und ihres Landes (Indi/India) aus der antiken Literatur vertraut war – im Gegensatz zu den originalen topographischen und ethnischen Bezeichnungen, die Kaempfer dann später – im weiteren Verlauf seines Reiseberichts – jeweils in korrekter Form mitteilt. Umso mehr verdient die Tatsache Beachtung, dass Kaempfer im ersten Faszikel seiner Amoenitates Exoticae zweimal an jeweils herausgehobener Stelle zur Bezeichnung der Bewohner Indiens nicht den humanistisch gebildeten Lesern seiner Amoenitates Exoticae vertrauten – und daher auch ihm selber schon im ersten Satz seines Vorworts benutzten – antiken Namen Indi bietet, sondern den typisch neulateinischen, jedoch aus heutiger Perspektive irreführenden Ausdruck Indiani. Im Rahmen seiner Berichte „De aulae Persicae statu hodierno“ – in der „Relatio V. Duces Militum et Militia Persica“ – beschreibt Kaempfer unter der Überschrift „Hostes“ (S. 76) die äußeren Feinde der Perser und hebt dabei von vornherein hervor, dass ihre Feinde zugleich auch ihre Nachbarn sind, und zwar in allen vier Himmelsrichtungen, nämlich nach Westen die Türken, nach Osten die „Indianer“, die Russen nach Norden und die Araber nach Süden: „Hostes Persae simul ac vicinos habent, ad Occidentem Turcos, ad Orientem Indianos. Cum Russis ad septentrionem, et Arabibus ad meridiem, profunda pax colitur.“

Was die Araber betrifft, behält Kaempfer demnach den seit der Antike gebräuchlichen Völkernamen Arabes bei, zur Bezeichnung der in der Antike noch unbekannten Russen und Türken dagegen verwendet er notwendigerweise die neulateinischen Namensformen Russi und Turci. Einen Sonderfall bildet hier also allein die Wortbildung Indiani – statt der eigentlich zu erwartenden Namensform Indi – als Bezeichnung der Einwohner des indischen Subkontinents. Seit Kolumbus‘ Entdeckung Amerikas (1492) ist nämlich die Wortform Indiani als Weiterbildung von Indi in der (neu-)lateinischen Sprache und Literatur doppeldeutig: Einerseits übernahm man die irrige Auffassung des Kolumbus, der glaubte, der von ihm entdeckte Erdteil sei Indien, und nannte daher die Ureinwohner Amerikas Indiani (‚Indianer‘). Andererseits wurde diese neue Namensform zugleich jahrhundertelang – vom ausgehenden 15. bis zum beginnenden 18. Jahrhundert – als Variante der traditionellen Bezeichnung Indi benutzt; dass die Adjektive ‚indisch‘ und ‚indianisch‘ als synonyme Ausdrücke tatsächlich noch im Zeitalter der deutschen Klassik gleichermaßen auf Ostindien bezogen wurden, geht aus einem Brief Goethes an Schiller hervor (vgl. Art. „indianisch“ im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 10, 1877, Sp. 2111).

Mit der Bezeichnung der Inder als Indiani ging Kaempfer also aus moderner Sicht das Risiko eines Missverständnisses ein, da ja heutzutage ‚Indianer‘ (Indiani) allgemein nur die amerikanischen Ureinwohner genannt werden, obwohl dieser Name auf dem Irrtum des Kolumbus beruht. Dass aber in Kaempfers lateinischem Text Indiani und Indi als gleichbedeutende Bezeichnungen der Einwohner Indiens parallel auftreten, zeigt gerade der Kontext des vorliegenden Passus (S. 76 f.); denn in seiner Charakteristik der vier Hauptfeinde der Perser beschreibt Kaempfer die Eigenart der Inder (S. 77), indem er sie im selben Satz bezeichnenderweise zuerst Indiani nennt, kurz danach hingegen Indi: „Indianos vero in omnibus attributis illi post se multis relinquunt parasangis; Coeli enim intemperies calida ac humida Indorum corpora sic disponit, ut […]“.

Diese gleichzeitige Verwendung der lateinischen Namen Indiani und Indi als austauschbare Begriffe veranschaulicht somit in exemplarischer Weise, dass in Kaempfers Amoenitates Exoticae durchgehend zwei Traditionslinien gleichrangig neben- und miteinander verlaufen: auf der einen Seite die ‚Classical Tradition‘, wie sie hier die Pluralform Indi als die antike und daher von den Humanisten übernommene Benennung der Bewohner Indiens repräsentiert, auf der anderen Seite die innovative neuzeitliche Weiterentwicklung, die hier durch die spezifisch neulateinische Wortprägung Indiani prägnant zum Ausdruck kommt. Jeder Interpret der Amoenitates Exoticae Kaempfers muss folglich prinzipiell stets beiden Strängen der literarischen Überlieferung Rechnung tragen.

Das gleiche trifft auf Kaempfers Bezeichnung der Namensformen Persae und Persiani zu: Mit Persae bezeichnet Kaempfer gemäß dem antiken Sprachgebrauch gewöhnlich alle Einwohner Persiens vom griechisch-römischen Altertum bis zur frühen Neuzeit, mit der typisch neulateinischen Wortbildung Persiani dagegen nur die Perser der Gegenwart. Ein markantes Beispiel bietet Kaempfer in den Amoenitates Exoticae, fasc. I, p. 152, indem er einen wesentlichen Unterschied zwischen Türken und zeitgenössischen Persern hervorhebt und diese daher Persiani nennt: Turcis ut nefas est ratiocinari de Religione, ita idem permissum est Persianis, qui disputandi cum Christianis mira prurientes libidine […]. So erklärt sich z.B. auch, warum man heutzutage nicht von einem Perser-, sondern von einem Persianermantel spricht.

(2) Das singuläre Euripides-Zitat (S. 2) und seine zentrale Funktion32

Kaempfers Zitierung eines Passus aus einer Dichtung des Euripides, des (nach Aischylos und Sophokles) dritten großen griechischen Tragikers, nimmt innerhalb seiner praefatio zum Gesamtwerk der Amoenitates Exoticae in doppelter Hinsicht einen singulären Rang ein; denn nur hier nennt Kaempfer einen antiken Autor – eben Euripides – mit Namen, und demgemäß präsentiert er im Rahmen seines Vorworts zu den Amoenitates Exoticae nur an dieser Stelle ein griechisches Wort im Original, und zwar den aus einem der zitierten Euripides-Verse übernommenen Schlüsselbegriff γεῦμα (‚Kostprobe‘). So erfüllen das Zitat und die Interpretation euripideischer Verse eine zentrale Funktion in Kaempfers Vorwort zu den Amoenitates Exoticae, weisen allerdings einige Besonderheiten auf.

Da er bereits in der Widmung der Amoenitates Exoticae an den Grafen Adolph Friedrich lapidar hervorgehoben hatte, dass er damit ‚seine Erstlingsgaben orientalischer Früchte‘ (frugum Orientalium primitiae meas) vorlegt und diese so als ‚Vorspiel weiterer bald herauszugebender Werke‘ (operum, quae propediem daturus sum, praeludia) betrachtet, teilt er nunmehr – im Zentrum seines Vorworts – in typisch metaphorischer Ausdrucksweise mit, er wolle ‚mit dem vorliegenden kleinen Werk gleichsam eine Art Kostprobe und Probestück vorausschicken‘ (…placet praesente opella earum quasi γεῦμα quoddam praemittere) und damit ‚unsere Handelsvertreter nachahmen, die bei der Rückkehr von den Messehallen Muster ihrer Waren ausstellen, um damit die Wünsche der Käufer zu erkunden‘ (imitaturus institores nostros, qui ex emporiis redeuntes mercium suarum specimina exponunt, quibus emptorum explorent desideria). Die Stichworte γεῦμα und imitaturus reichen bei Kaempfer aus, um ihn als echten Humanisten reflexartig zu veranlassen, sofort und ohne jede Überleitung – wie besonders eine der Begründung dienende und daher sonst gewöhnlich zu benutzende Partikel (nam, enim oder quidem) – das eigentliche Hauptvorbild anzugeben, das er hier nachahmen will, und zwar nicht so sehr die Handlungsweise einheimischer Kaufleute (institores nostros), auf die er zunächst verweist, als vielmehr jene antike literarische Vorlage, die er offenbar als das für eine Nachahmung (imitari/imitatio) geeignetste Muster ansieht, nämlich die Passage bei Euripides, die er lediglich mit folgenden lateinischen Worten referiert:

„Urbane Ulysses apud Euripidem, ubi Sileno vinum venditurus: Vin tu, inquit, prius gustare, quod feram? Cui ille: ita par est, nam gustus emptorem vocat (Feinsinnig <spricht> Odysseus bei Euripides <dort>, wo er dem Silen Wein zu verkaufen sich anschickt: Willst du, sagt er, vorher kosten, was ich bringen mag? Ihm <antwortet> jener [= Silen]: So ist es schicklich, denn eine Kostprobe ruft den Käufer hervor).

Kaempfer setzt demnach von vornherein voraus, dass der Titel und der Inhalt der gesamten Dichtung des Euripides, und zwar besonders die Episode, die er hier schildert, zumindest den Lesern der Amoenitates Exoticae bekannt sein mussten, die als gelehrte Humanisten seine erlesene literarische Anspielung verstehen und somit wiederum seine profunde Kenntnis der ‚Classical Tradition‘ bewundern konnten. Tatsächlich handelt es sich hier um Euripides‘ „Kyklops“ (Cyclops ist die metonymische Bezeichnung für Polyphem), das einzige vollständig erhaltene griechische Satyrspiel, dessen Stoff schon im 9. Gesang (V. 105–566) der homerischen Odyssee vorliegt. Kaempfer lenkt jedoch die Aufmerksamkeit des kundigen und wohlwollenden Lesers allein auf eine kurze Szene des köstlichen Wechselgesprächs zwischen dem kahlköpfigen Waldgott Silenos, dem stets trinkfreudigen Begleiter des Dionysos, und dem aus Troja heimkehrenden listenreichen Odysseus/Ulysses, der sich vor dem Beginn des Dialogs einen vollen Weinschlauch umgehängt hatte. Beide werden sich schnell handelseinig: Im Tausch gegen den allzu lange entbehrten geliebten Wein liefert Silenos bereitwillig Käse und Lämmer. Im Mittelpunkt stehen die direkt aufeinander folgenden Verse 149 und 150, die das Schlagwort γεῦμα sowie auch das zugehörige Verb γεύειν aufweisen und daher hier von entscheidender Bedeutung sind; auf Odysseus‘ Frage βούλῃ σε γεύσω πρῶτον ἄκρατον μέθυ; (‚Wünschst du, dass ich dich zuerst unvermischten Wein kosten lasse?‘) erwidert Silenos: δίκαιον, ᾖ γὰρ γεῦμα τὴν ὠνὴν καλεῖ (‚Mit Fug und Recht; denn eine Kostprobe ermuntert zum Kauf‘).

Aber bezeichnenderweise zitiert Kaempfer diese zwei zentralen Verse nicht im griechischen Originaltext, sondern bietet eine davon teilweise erheblich abweichende lateinische Version, und zwar offensichtlich eine von ihm selber verfasste Übersetzung. So hatte z.B. Caspar Stiblinus in seiner genau 150 Jahre vor Kaempfers Amoenitates Exoticae erschienenen Euripides-Ausgabe (Basel 1562, S. 482) dieselben Verse folgendermaßen ins Lateinische übertragen: Vis, gustandum primum dabo tibi vinum merum? / Aequum hoc; gustus enim ad emendum provocat. Es handelt sich dabei also um eine ganz wörtliche, jedoch zu umständliche Übersetzung, da Stiblinus die kurze und präzise Junktur σὲ γεύσω, die Odysseus bei Euripides verwendet, in die längere und schwerfällige Konstruktion gustandum tibi dabo umwandelt.

Ganz anders dagegen verfährt Kaempfer bei seiner Wiedergabe dieses einen Vers (149) bildenden Satzes, den Euripides dem Odysseus in den Mund legt. So verändert Kaempfer von vornherein die grammatische Struktur des Satzes, indem er zunächst mit der kontrahierten Verbalform vine (statt visne = ‚willst du?‘) und der Hinzufügung von tu, dem Nominativ des Personalpronomens, deutlicher als Stiblinus mit seiner Übersetzung und Interpunktion („vis,“) zum Ausdruck bringt, dass hier ein direkter Fragesatz vorliegt, und dann auf vine tu konsequenterweise den abhängigen Infinitiv gustare (‚kosten‘) folgen lässt: Hatte Euripides mit der Junktur σὲ γεύσω (= ‚ich werde dich kosten lassen‘) das Schlüsselwort γεύειν als transitives Verb verwendet und Stiblinus daher diese aktivische Form mit gustandum dabo tibi (= ‚ich werde dir zu kosten geben‘) durchaus korrekt ins Passiv umgewandelt, so benutzt Kaempfer das Verb γεύειν im Sinne eines Mediums (‚kosten, schmecken‘), wie es in der antiken griechischen Literatur ebenfalls vorkommt. So ist es bei Kaempfer nicht – wie bei EuripidesOdysseus, der dem Silenos Wein kosten lassen will, sondern umgekehrt Silenos, der den Wunsch hat zu kosten.

Kaempfer geht hierbei sogar noch einen wesentlichen Schritt weiter, indem er zunächst deas von Euripides präsentierte Adverb πρῶτον, das Stiblinus wiederum zutreffend mit primum übersetzt, durch den präziseren Komparativ prius (= ‚früher, vorher‘) ersetzt und dann vor allem statt des bei Euripides von γεύσω abhängigen Akkusativobjekts ἄκρατον μέθυ (‚unvermischter Wein‘), das Stiblinus ebenfalls richtig mit merum vinum (‚reiner Wein‘) wiedergab, den auf den ersten Blick völlig unverständlichen Relativsatz quod feram bietet. Auf diese Weise verkürzt Kaempfer mit seiner lateinischen Übersetzung Vin tu prius gustare, quod feram den jambischen Originalvers des Euripides, der gemäß der poetischen Norm und den strengen Regeln der griechischen Metrik einen jambischen Trimeter (mit sechs Versfüßen) aufweist, um einen ganzen Versfuß (so dass sein lateinischer Vers keinen Senar ergibt, sondern nur fünf Hebungen enthält). Aber einen solchen metrischen Fehler nahm Kaempfer hier offenbar mit Absicht in Kauf, weil er dadurch seine eigentliche Zielsetzung umso klarer erkennen lassen konnte: Einerseits hatte er ja mit der prägnanten Junktur vinum venditurus, mit der er sein Euripides-Zitat einleitete, deutlich genug unterstrichen, dass es bei Euripides der Wein war, den Odysseus dem Silenos verkaufen wollte; deshalb brauchte er den konkreten Begriff vinum im folgenden Vers nicht zu wiederholen. Andererseits wählte Kaempfer die abstrakte Umschreibung quod feram (‚was ich bringen will‘), damit er so wörtlich – durch die erneute Verwendung des Schlüsselverbs ferre – den programmatischen Anfang seiner Widmung der Amoenitates Exoticae an den Grafen Friedrich Adolph (Spolia ex Oriente fero …) aufgreifen konnte: Das Relativpronomen quod, das hier vom folgenden feram abhängt, entspricht jenen ‚Beutestücken aus dem Orient‘, die Kaempfer ‚bringt‘ (fero), und bezieht sich damit sachlich betrachtet auf das Gesamtwerk, das Kaempfer mit den Amoenitates Exoticae 1712 in Lemgo erstmals veröffentlichte.

Als Humanist und Philologe, der auch die griechische Sprache beherrschte, hat also Kaempfer den hier erläuterten Satz, den der griechische Dichter im „Kyklops“ (V. 149) Odysseus aussprechen lässt, gleichsam nach dem traditionellen Vorbild und in der Rolle desselben ‚listenreichen’ Heros seinerseits geschickt umgestaltet, um ihn seiner eigenen Intention anzupassen, nämlich das Interesse derer zu wecken, die das angebotene Werk kosten und kaufen wollen. Aus dem gleichen Grund hat Kaempfer dagegen den folgenden Satz (V. 150), mit dem bei Euripides der Silenos auf die Frage des Odysseus antwortet, unverändert ins Lateinische übertragen, und zwar wiederum anders als Stiblinus, aber ebenfalls fast ganz wortgetreu und abgesehen von einer kleinen metrischen Unebenheit33 auch ohne formale Mängel. Denn dieser Satz enthält nicht wie der vorhergehende Vers das ambivalente Verb γεύειν, sondern den entsprechenden und von Kaempfer bereits in seiner Einleitung des Euripides-Zitats vorgestellten eindeutigen Terminus γεῦμα, den Kaempfer ebenso treffend wie Stiblinus mit gustus übersetzt; außerdem ersetzt er den abstrakten Begriff ὠνή (‚Kauf’), den Euripides verwendete, durch das konkrete Substantiv emptor (‚Käufer’), das hier tatsächlich noch geeigneter ist als eine verbale Ausdrucksweise wie ad emendum (‚zum Kaufen’) bei Stiblinus.

So wird schließlich im Nachhinein deutlich, dass von dem pointierten Adjektiv urbane (‚fein, witzig‘), mit dem Kaempfer sein Euripides-Zitat einleitet, in doppeltem Sinne eine Signalwirkung ausgeht: ‚Feinsinnig‘ ist nicht nur der referierte Ausspruch des Odysseus, sondern auch Kaempfers Kunst der Aneignung und Umwandlung jenes originalen griechischen Wortlauts. Jedenfalls greift Kaempfer unmittelbar nach seiner modifizierten lateinischen Übersetzung der beiden euripideischen Verse mit „Ad gustum igitur …“ das Stichwort gustus auf, um die weiteren Konsequenzen zu ziehen, welche sich aus seiner Interpretation und Umdeutung der zwei Verse ergeben, die er dem „Kyklops“ des Euripides entnahm.

  1. Vollständige Angaben zu den Titeln dieser drei lateinischen Schriften sind in meinen drei Beiträgen zu finden: Neuhausen 2004, Neuhausen 2007 und Neuhausen 2008.
  2. Typisch sind z.B. die Exzerpte aus Kaempfers lateinischen Schriften, die Michael Bernhard Valentini (1657–1729) in seine verschiedenartigen und z.T. mehrmals bearbeiteten Werke (seit 1704) aufnahm.
  3. Edition von Detlef Haberland: s. Krit. Ausg. 2. Hinzuzufügen ist jetzt auch: Haberland/Neuhausen 2010.
  4. Kein geringerer als der berühmte Arzt und Anatom, Physiologe und Botaniker Albrecht von Haller (1708–1777) hat Kaempfers wissenschaftliche Leistungen vornehmlich auf der Grundlage seiner lateinischen Schriften treffend gewürdigt, und zwar in: Bibliotheca Botanica, Vol. II (1772), S. 23 f.
  5. Eine Dokumentation überlieferter Zeugnisse, welche die Rezeption vor allem gerade der lateinischen Schriften Kaempfers seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts betreffen, bereitet Lothar Weiß (Detmold) vor.
  6. Vgl. dazu auch meine Beiträge: „Neulatein“. I. Sprache. F. Geschichte der neulateinischen Sprache. In: Der Neue Pauly, Bd. 15/1 (2001), Sp. 928–931; II. Literatur. In: Der Neue Pauly, Bd. 15/1 (2001), Sp. 931–940..
  7. Part I (Leuven 1990): History and Diffusion of Neo-Latin Literature. Part II (Leuven 1998): Literary, Linguistics, Philological and Editorial Questions.
  8. www.arts.kuleuven.be/sph/hl.htm
  9. http://www.philfak.uni-bonn.de/institute/institut-fuer-griechische-und-lateinische-philologie-romanistik-und-altamerikanistik/philologie/medneolat/publikationen/neulateinisches-jahrbuch
  10. Ijsewijn/Sacré, Part II (s.o.), teilen ihr Kapitel „Literary genres“ (S. 1–376) in 7 Abschnitte ein, wobei als die drei Hauptteile die Dichtung (S. 21–164), die Prosaliteratur (S. 165–257) sowie speziell die gelehrten und wissenschaftlichen Prosaschriften (S. 258–361) im Mittelpunkt der Darlegungen stehen.
  11. Demgemäß lautete das Motto des 12. Kongresses der International Association for Neo-Latin Studies 2003 in Bonn: „Latin as the International Language of Scholarship from the Renaissance to the Present“. Vgl. Acta Conventus Neo-Latini Bonnensis […], Tempe, Arizona 2006 (= Medieval and Renaissance Texts and Studies, vol. 315).
  12. So lautet die Überschrift des betreffenden Kapitels bei Ijsewijn/Sacré, Part II (s.o.), S. 258–361.
  13. Nach meinem Spezialbeitrag zu Japan als ultima Orientis Thule (2008) erschienen zwei große neue Monographien zum alten Thema ‚Thule’: (1) Monique Mund-Dopchie: Ultima Thulé – Histoire d’un lieu et génèse d’un mythe, Genf 2009; (2) Andreas Kleinberg/Christian Marx/Eberhard Knobloch/Dieter Lelgemann: Germania und die Insel Thule – Die Entschlüsselung von Ptolemaios’ „Atlas der Oikumene“, Darmstadt 2010. Kaempfer wird jedoch in beiden Büchern nicht erwähnt.
  14. Belege im Abschnitt „Zu amoenitas bei antiken lateinischen Autoren“ bei Neuhausen 2004, S. 37 f.
  15. Ausführliche Darlegung im Abschnitt Amoenitates als Titelbegriff neulateinischer Prosaschriften seit dem 17. Jahrhundert“ bei Neuhausen 2004, S. 28–40.
  16. Vgl. z.B. die Liste der von Kaempfer benutzten Bücher bei Muntschik 1983, S. 18–20.
  17. Vgl. den Abschnitt „Kaempfers Rezeption der neulateinischen Amoenitates-Literatur: Tradition und Innovation, imitatio und aemulatio bei Neuhausen 2004, S. 40–42.
  18. Vgl. den Abschnitt „Ciceros Einfluß auf Kaempfers Einteilung der Amoenitates Exoticae in fünf Faszikel“ bei Neuhausen 2004, S. 42 f.
  19. Vgl. den Abschnitt „Der auf Fasciculi V folgende Relativsatz Quibus continentur variae relationes, observationes et descriptiones rerum Persicarum et ulterioris Asiae, multa attentione, in peregrinationibus per universum Orientem, collectae […] bei Neuhausen 2004, S. 43–45.
  20. Ausführliche Interpretation bei Neuhausen 2004, S. 46–50.
  21. Aufzählung der betreffenden Lexika bei Neuhausen 2004, S. 46.
  22. Als Sonderfall ist eine Angabe im alten Nachschlagewerk von J. Dielitz (Die Wahl- und Denksprüche, Feldgeschreie, Losungen, Schlacht- und Volksrufe besonders des Mittelalters und der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1884, S. 367) anzusehen: Zwar zitiert Dielitz als anscheinend bisher einziger Verfasser eines lateinischen Lexikons die Sentenz virtuti nihil invium, schrieb sie aber allein einem 1386 gestorbenen österreichischen Erzherzog zu, übersetzte sie unzutreffend („Der Tugend [ist] kein Weg zu rauh“) und verwies dementsprechend lediglich auf Ovids Metamorphosen (14, 113) als literarisches Vorbild. Daher ist es von vornherein äußerst unwahrscheinlich, dass Kaempfer 1712, als er den Wahlspruch virtuti nihil invium im Titel der Amoenitates Exoticae präsentierte, direkt nur auf eine aus dem Mittelalter stammende Losung zurückgriff, und zwar ausgerechnet bloß eine angeblich vier Jahrhunderte zuvor zum ersten und einzigen Male von „Leop. III (Probus)“ geprägte Sentenz. Kaempfer war jedenfalls der erste und bisher einzige lateinische Autor, der virtuti nihil invium als Motto eines ganzen Buches wählte.
  23. Details bei Neuhausen 2008, passim (mit den Nachträgen in diesem Beitrag).
  24. Aktuelle Literaturangaben zu diesem Spezialthema bietet die neue Monographie „Die Stiftung von Autorschaft in der neulateinischen Literatur (ca. 1350–ca. 1650): Zur autorisierenden und wissensvermittelnden Funktion von Widmungen, Vorworttexten, Autorporträts und Dedikationsbildern“, die K. A. E. Enenkel demnächst (2012/2013) veröffentlichen wird.
  25. In: Neulateinisches Jahrbuch 14 (2012) [in Vorbereitung].
  26. Zu diesem Abschnitt vgl. Neuhausen 2004, S. 59–61.
  27. Appellere (sc. navem) bedeutet ebenso wie die passivische Verbalform appelli, die Kaempfer kurz darauf (nam vix appulsum …) selber benutzt, in der Fachsprache der Seeleute stets ‚mit einem Schiff landen’ und wird daher in der lateinischen Literatur allgemein oftmals gebraucht, um in metaphorischem Sinne die Landung an einer Küste nach einer Schiffsreise zu bezeichnen.
  28. Ganz abwegig sind die zwei übrigen im weit verbreiteten Lateinisch-Deutschen Handwörterbuch von Georges s.v. „octodecim“ aufgeführten Belege: Frontin ( strat. 2,5,37: XVIII cohortes ) verwendet nicht das Wort, sondern die römische Ziffer für „18“, während Eutrop ( brev. 1, 1: decem et octo annos natus ) statt octodecim dasselbe gleichbedeutende Zahlwort bietet wie Cäsar (s.u. zu Gall. 4, 19, 3).
  29. Vgl. zwei Spezialuntersuchungen: (1) Bernd Lorenz, Zur literarischen Bedeutung der Zahl Dreihundert, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 22 (1981), S. 345–351. (2) Christian Helfer, Sescenta sunt quae memorem, in: Latine „sapere, agere, loqui“. Miscellanea Caelesti Eichenseer dedicata, edidit Sigrides Albert. Saarbrücken 1989, S. 177–184.
  30. In erweiterter Form begegnet trecenti bei Catull in carm. 9, 2 (millibus trecentis) und 48, 3 (usque ad milia basiem trecenta) .
  31. Wie bei Catull (s. vorige Anm.) tritt trecenti bei Horaz auch in erweiterter Form auf (epist. 2, 2, 164/5): … trecentis / aut etiam supra nummorum milibus emptum.
  32. Zu diesem Komplex vgl. Neuhausen 2004, S. 51–54.
  33. Am Anfang des Verses bietet Kaempfer nicht – wie die Metrik vorschreibt – eine jambische Silbenfolge (kurz-lang), sondern mit ita ein zwei Kürzen aufweisendes Wort. In einer Hebung kann jedoch auch eine kurze Silbe (wie hier das a von ita) lang gemessen werden.

XML-Source: http://diglib.hab.de/edoc/ed000081/tei-introduction.xml
XSL-Stylesheet: http://diglib.hab.de/edoc/ed000081/tei-introduction.xsl

Seite drucken