Einführung

Christoph Richter: Spectaculum Historicum
Flemming Schock

1. Titel
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Spectaculum Historicum. Historisches Schau-Spiel/ So auf dem Schau-Platz dieser Welt von Gott/ von der Natur/ von guten und bösen Engeln/ von Frommen und Gottlosen Menschen/ in natürlichen Dingen und Politischen Welthändeln/ meistentheils in dem XVI. Seculo nach Christi Geburt/ ist gespielet worden/ Dargestellet in Vierhundert Gesamleten Wunder-Historien Von einem Liebhaber der Welt-Geschichte. Jena/ Auf Verlag Daniel Reichels/ Buchhändlers in Berlin/ druckts Georg Sengenwald/ 1661. Berlin: Daniel Reichel, 1661. - Titelblatt (Kupfertafel), 780 pag. S., 8°. [opac ↗536059926] [vd17 ↗23:323638W]

2. Verfasser
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Christoph Richter (1618-1680). Richter wurde in Görlitz geboren, ist 1641 als Student in Leipzig nachweisbar. 1648 wurde er Diakon in Kohren, 1661 Pfarrer in Gnandstein. Neben dem Spectaculum Historicum gab Richter seit 1655 auch eine Reihe Schreibkalender heraus. Verleger des Spectaculum Historicum ist Daniel Reichel, der in Berlin etwa von Mitte bis Ende des 17. Jahrhunderts tätig war. Im VD 17 sind von Reichel allerdings lediglich 13 Werke nachgewiesen, darunter eines Philip von Zesen.

3. Publikation
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3.1. Erstdruck
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Der Erstdruck erschien 1661 in Berlin bei Daniel Reichel.


Standorte des Erstdrucks

3.2. Weitere Ausgaben
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1667 erschien eine Fortsetzung in Berlin mit fast identischem Titel: Spectaculum historicum. Historisches Schauspiel, so auff dem Schauplatz dieser Welt von Gott, von der Natur, von guten und bösen Engeln, von frommen und gottlosen Menschen, in natürlichen Dingen und politischen Welthändeln meistentheils in dem XVI. seculo nach Christi Geburt ist gespielet worden: dargestellt in 400 gesamleten Wunder-Historien/ von einem Liebhaber der Weltgeschichte.

3.2.1. Digitale Ausgabe des Erstdrucks
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4. Inhalt
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In gravitätischem Tonfall macht Richter in der Vorrede zum Spectaculum Historicum zunächst eindeutig klar, dass sein Text dem Leser nichts anderes bieten möchte als eine ‚sekundäre’ Form des Gottesdienstes – es gilt, die Wunder der Schöpfung Gottes in ihrer spielerischen Vielfalt (analog zum zeitgenössischen Topos ‚lusus naturae’) zu erkennen, zu loben und zu bestaunen. So zeige sich die „himlische Weisheit“ (Vorrede, unpag.) letztlich in allem; mit Blick auf die Inhalte seiner Erzählsammlung hebt der Autor jedoch zwei Bereiche des göttlichen Schöpfungsplans hervor: Die Natur („Res Physicas“) und „die politischen Welt-Händel im gemeinen Leben“ („Res Politicas“) – aus beiden würden in vorliegendem Text genügend nützliche Exempel versammelt: „Wilstu hiervon/ Großgünstiger Leser/ Special-Exempel und sonderbahre Zeugnüsse haben: So durchblättere ein wenig diese gesamlete historische Centurien: Die werden dirs deutlich vor Augen stellen: wie die Weisheit Gottes in rebus Physicis & Politicus, in natürlichen Dingen und politischen Welthändeln entweder selber gespielet oder hat spielen lassen“ (Vorrede, unpag.).

Die Publikation des Werkes rechtfertigt Richter mit werbender Argumentation aus dem Erfolg seiner Kalenderproduktion, die er in Jena ab 1655 unterhielt und in der er erste Auszüge der Übersetzungen abgedruckt hatte. Denn zunächst seien die gesammelten Geschichten gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen: Gesammelt habe er „[...] anfänglich zwar nicht zu dem Ende/ daß sie solten das öffentliche Licht erlangen, sondern daß ich Sie vor mich selbsten zu Nutz und Lust oder anderer Begebenheit gebrauchen wolte. Demnach ich aber meinen Calendariis eine Zugabe von solchen Wunder-Historien beygefüget/ und verspühret/ daß sie viel Leute/ so wohl unter den Gelehrten/ als Ungelehrten/ wegen ihrer rarität/ daran ein Belieben/ und nach mehreren dergleichen ein Verlangen getragen: Als hab ich mich leichte bewegen lassen/ solche durch öffentlichen Druck heraus zu geben“ (Vorrede, unpag.). Richter schließt die Vorrede mit der Bitte an den Leser mit der zeitüblichen Wirkungsanforderung barocker Literatur – zugleich zu erfreuen und zu nützen: „Diese Centurien/ Großgünstiger Leser/ kanstu zur Lust und Nutz gebrauchen: Und ich wil dich gewiß versichern/ daß du keinen eintzigen Schaden daraus empfinden/ auch die Zeit im durchlesen nicht übel anlegen wirst“ (Vorrede, unpag.).

Der Inhalt selbst besteht – wie im Titel angekündigt – aus insgesamt vierhundert kurzen Einzelberichten, die sich mit zeitgenössischem Vokabular als die üblichen ‚Denkwürdigkeiten’ charakterisieren lassen – eine heterogene, inkonsistente Mischung aus moralischen, historischen, sensationellen, naturhistorischen und weiteren Erzählstoffen, die in Sammeltexten des 16. und teils schon des 15. Jahrhunderts wieder und wieder zirkulierten und solcherart zum Grundbestand der frühneuzeitlich populären Wissenskultur gehörten. Schon die erste „Historie“ des Textes gestaltet den Auftakt erwartungsgemäß sensationell – Richter berichtet über eine „Wunderbare Erscheinung der Toten“ (S. 2). Simon Goulart wird als Quelle zitiert; nicht selten beruft sich Richter allerdings auch auf das Hörensagen, um die Authentizität des Geschilderten zu unterstreichen. Das angehäufte Material ist kaum überschaubar und folgt allenfalls mit Unterbrechungen der gängigen Perspektive angehäufter ‚curieuser’ Naturwunder, also jener merk- und denkwürdigen Objekte, in denen die Natur jenseits ihres gewöhnlichen Ganges zu beobachten war, ganz unbenommen, ob diesen Phänomenen nur mehr eine bloße Unterhaltungsrolle oder eine umfassende kommunikative Zeichenfunktion zukam. Dazu gehören natürlich „Wunder-Mensch[en]“ (S. 33) jeglicher Fasson, „Wunder-Geburten“ (S. 227) oder auch das „Wunder-Horn an der Stirne eines Mannes“ (S. 292). Die Konzentration auf vor allem spektakulär-unterhaltende Stoffe zeigt sich auch jenseits der Naturwunder an der Masse moralischer Exempel: Das Spectaculum Historicum berichtet von „Weiber-Zorn und Rache“ (S. 78), über „Ungerathene Kinder“ (S. 52), über die „Eitelkeiten der Welt“ (S. 28), „Vom Gewissen“ (S. 36) oder auch über die „Wunderbare Krafft der Einbildung“ (S. 262), „Unsinnige Säuffer“ (S. 128) und die „Wunderbare Bekehrung eines Türcken“ (S. 177). Richter zieht sie aus einem heterogenen Quellenkorpus zusammen, bei dem im Einzelnen kaum mehr rekonstruierbar ist, was bereits aus zweiter oder dritter Hand kompiliert und/oder übersetzt wurde. In den bibliographischen Verweisen werden auch Werke der Theatrum-Literatur genannt, so Zwingers Theatrum Vitae Humanae (S. 165). Wie schon im Titel markiert, stammen die Wunder-Historien Richters fast ausnahmslos aus dem 16. Jahrhundert, was einmal mehr auf das andere frühneuzeitliche Verständnis von Aktualität verweist.

5. Kontext und Klassifizierung
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Richters Spectaculum Historicum fügt sich nahtlos in Theorie und Praxis der ausufernden Kompilations-, Kuriositäten- und Erzählliteratur des Barockzeitalters ein. Zwei strukturelle Charakteristika dieses Literaturfeldes macht schon der ausführliche Titel des vorliegenden Textes augenfällig: Zum einen die geradezu enzyklopädische Masse des präsentierten Materials in vierhundert Wunder-Historien, die – zum Anderen – als das Ergebnis einer Sammlung zustande gekommen sind. So kann, synonym zur Kompilationsliteratur, auch vom Sammelschrifttum des 17. Jahrhunderts gesprochen werden. Funktion und Selbstverständnis dieser Wissensliteratur waren vom ‚originalen’ Produktivitätsideal des 18. Jahrhunderts noch weit entfernt. Den barocken Kompilatoren ging es nicht darum, neues Wissen zu generieren, sondern das alte (und damit auch bewährte) zu reproduzieren, zu tradieren und allenfalls zu variieren – unter Rückgriff auf eine möglichst heterogene und autoritäre Quellenbasis. Obwohl moderne Konzepte von Autorenschaft und geistigem Eigentum vor dem Hintergrund dieser eher ‚kollektivistischen Wissensproduktion’ versagen, überrascht es doch, dass Christoph Richter erst am Ende der Vorrede zum Spectaculum Historicum das wichtigste Detail zur Sprache bringt: Seine eigene Sammlung fußt zu großen Teilen auf der Übersetzung Simon Goularts – das Werk selbst jedoch (Thresor d’histoires admirables et memorables de nostre temps, mehrbändig ab 1610) unterschlägt er. So habe er die Historien „[...] meistentheils aus einem recht andächtigen/ Gottfürchtigen und Hochgelahrten Collectore, Monsieur Simon Goulart von Senlis, einem Hugonoten/ ins Teutsche übersetzet“ (Vorrede, unpag.). Mit einem für die kompilatorische Schreibpraxis typischen Kommentar erklärt Richter die eigenen Ergänzungen des Vorlagentextes – „Und unter dieselben andere/ so mir im Lesen hin und wieder als wundersam vorkommen/ eingemenget und beygefüget“ (Vorrede, unpag.).

Mit den letztlich vierhundert „Historien“ des ersten Bandes stellt sich Richter vor allem auch im Hinblick auf die Disposition des Materials in die Tradition der Kompilationsliteratur und der Buntschriftstellerei. Mit ihrem zentralen Motto „varietas delectat“, der ‚bunten Abwechselung’, berief sich diese schon auf antike Wurzeln; Stil und Ästhetik eines sich in gefälliger Unordnung präsentierenden Wissens standen zur Zeit der Veröffentlichung des Spectaculum Historicum hoch im Kurs. Und so hält auch Richter mit Bezug auf die im Diskurs der Unordnung verbreitete Garten-Metapher fest: „Die Ordnung aber kan das Register erstatten: Sintemahl nach meinem Bedüncken/ in solchen colligirten Historien/ gleich wie in einem Lustgarten/ die Varietas (mancherley Art) mehr als die Conformitas (einerley Art) erlustiget“ (Vorrede, unpag.). Tatsächlich legt das angehängte Register als eine Art Lektüreschlüssel des Wissensspeichers ex post das alphabetische Ordnungsmuster über die Textmasse. Und noch ein weiteres strukturelles Kernelement der Buntschriftstellerei adaptiert Richter mit dem Text von Goulart – die kleinteilige Fragmentierung in hunderte Historien, die den Text pragmatisch für die Belange der barocken Konversationsliteratur ‚portioniert’: Möglichst kompakte, kollektiv rezipierbare Texte dienen als ‚Appetizer’ für den gesellschaftlichen und vor allem unterhaltenden Dialog über Wissen.

Auch wenn der Begriff der Neugier (curiositas) als Antrieb der Wissenssammlung in Richters Übersetzung so gut wie nicht vorkommt, so sind die Inhalte des Spectaculum Historicum doch eindeutig dem Kuriositäten-Kult des 17. Jahrhunderts zuzuordnen: Das, was für die Zeitgenossen „curieus“ oder „curiös“, also wissenswert war, bezeichnete zunächst keine bestimmte Wissenskategorie – prinzipiell kann alles zum Gegenstand werden, solange es nur die Qualität des Ungewöhnlichen und Verblüffenden, des Seltsamen und Denkwürdigen erfüllt, kurz: des Wunderbaren. Zitat Richter: „Diese vier Centurias Wunder-Historien habe ich wegen ihrer Seltsamkeit und Denckwürdigkeit gesamlet [...]“ (Vorrede, unpag.). Der Titelzusatz Von einem Liebhaber der Welt-Geschichte führt insofern in die Irre, als auf dem Schauplatz von Richter keine historischen Zusammenhänge entwickelt, sondern lediglich verwunderliche Exempel aus dem klassischen, immer wieder reproduzierten Repertoire der Naturwunder („Ein Meer-Mann“, S. 101) und einem ganzen Spektrum weiterer Erzähl- und Sensationsstoffe geliefert werden.

6. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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