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Vorrede Von dem Leben, Schriften, und Cha racter des Verfassers.

Doctor Franz Hutcheson war den 8 August 1694. gebohren. Sein Vater, Herr Johann Hut cheson, war Prediger bey einer presbyteriani schen Gemeinde im nördlichen Theile von Jrrland. Er hatte den Ruhm eines vernünftigen, gelehrten, from men und tugendhaften Mannes. Sein Sohn, Franz, wurde im achten Jahr seines Alters, nebst seinem äl tern Bruder, der Aufsicht und Anführung ihres Gros vaters, Herr Alexander Hutchesons, anvertrauet, wel cher ebenfalls ein würdiger presbyterianischer Geistlicher in demselben Theile von Jrrland, aber aus Schottland gebürtig war. Er war der zweyte Sohn einer alten und angesehenen Familie in der Grafschaft Ayr in die sem Königreiche. Franz verrieth gar bald eine ausserordeutliche Fähigkeit, eine ungemeine Wissensbegierde und die vor trefflichste Gemüthsbeschaffenheit. Die sonderbare Menschenliebe und Uneigennützigkeit, durch welche er, sein ganzes Leben hindurch, sich unterschied, zeigte sich schon in seiner frühesten Jugend bey verschiedenen Gele genheiten. Sein unschuldiges und sanftes Betragen, seine große Fähigkeit und sein besonderer Fleis verschaff
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2 Vorrede. ten ihm bald die vorzüglichste Zuneigung seines Grosva ters. Aber seine Liebe zu seinem Bruder war so gros, daß er über die Zärtlichkeit seines Grosvaters keine Freude empfand, weil sein Bruder nicht einen glei chen Antheil daran hatte. Der Vorzug, welcher ihm gegeben wurde, verursachte ihm so gar eine wahre Be kümmernis, und er wendete alle Mittel und alle nur mögliche unschuldige Kunstgriffe an, es dahin zu brin gen, daß sein Bruder die Liebe seines Grosvaters eben so sehr zu verdienen scheinen möchte. Und da sein Grosvater in seinem letzten Willen eine ehemalige Ein richtung seiner Familiensachen, zu seinem Vortheil, geändert hatte: so konten seine Anverwandten ihn durch keine Gründe bewegen, es anzunehmen, sondern er schlug es schlechterdings aus, und bestand darauf, daß es bey der ersten Einrichtung bleiben müsse. Diese und viele andere Beyspiele von gleicher Art, welche angeführt werden könten, liessen seine ausserordentliche Uneigen nützigkeit in reifern Jahren vorhersehen. Nachdem er die Anfangsgründe der Wissenschaf ten erlernt hatte, wurde er auf eine von seinen Anver wandten etwas entlegene Akademie geschickt, um sich mit der Weltweisheit bekant zu machen. Er wurde daselbst in der ordentlichen scholastischen Philosophie unterwiesen, welche damals in Ansehen stand, und auf welche er sich mit einem mehr als gewöhnlichem Eifer und Fleis se legte. Im Jahr 1710. verlies er die Akademie, und be gab sich auf die Universität zu Glasgow, in die Classe de rer, welche die natürliche Weltweisheit erlernten. Zu gleicher Zeit übte er sich von neuem in der griechischen
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Vorrede. 3 und lateinischen Sprache: und er brachte es in allen Theilen der Gelehrsamkeit, welchen er seinen Fleis wid mete, so weit, als man es von einem so fähigen und so sorg fältig gebildeten Geiste erwarten konte. Nachdem er den gewöhnlichen Lauf der philosophi schen Wissenschaften vollendet hatte, richtete er seine Ge danken auf die Gottesgelahrheit, welche er, zu der ei gentlichen Wissenschaft und Beschäftigung seines Le bens zu machen, sich vornahm. In dieser Absicht stu dirte er die Theologie verschiedene Jahre auf der Universi tät zu Glasgow unter der Anführung des gelehrten Pro fessors, Johann Simsons. Unter den mannichfaltigen Lehren der Theologie, welche er seiner genauesten Untersuchung werth fand, be schäftigte er sich zuerst mit der erhabenen Lehre von dem Wesen, den Vollkommenheiten und der Vorsehung Got tes, worauf die andern sich insgesamt gründen. Das gelehrte und scharfsinnige Buch, welches Doctor Clark kurze Zeit zuvor hiervon herausgegeben hatte, fiel ihm in die Hände. Ob er gleich die Schlüsse desselben voll kommen billigte, und einen grossen Begrif von seinen ungemeinen Fähigkeiten und Einsichten hatte: so fand er doch, nach einer ernstlichen und aufmerksamen Prüfung seiner Beweise, die Ueberzeugung nicht, welche er wünschte und erwartete. Voll Verlangen, sich in dieser Lehre mehr Genüge zu leisten, und besonders die Stär ke und Gründlichkeit der Beweise a priori , wie man sie zu nennen pflegt, darinnen angewendet zu sehen, schrieb er im Jahr 1717. einen Brief an ihn, worinnen er sei ne Einwürfe anführte, und eine weitere Erklärung forderte. Man hat unter Hutchesons Briefschaften kei
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4 Vorrede. ne Beantwortung dieses Briefes vom Döctor Clark ge funden. Je mehr er nachdachte, je mistrauischer wur de er immer gegen die Richtigkeit und Stärke der me taphysischen Beweise, durch welche man das Daseyn, die Einheit und die Vollkommenheiten der Gottheit darzuthun sich bemüht. Er glaubte nicht nur, daß diese Art von Beweisen der Fähigkeit gemeiner Menschen nicht gemäs sey, sondern daß auch die Gelehrten selbst dadurch keine gründliche und immerwährende Ueberzeu gung erlangen könten. Er hatte schon in seinen jün gern Jahren die Meinung, und er hat niemals Ursache gefunden, sie zu ändern, daß einige Gegenstände unserer Erkäntnis, ihrer Natur nach, des Beweises einer völli gen und unwidersprechlichen Gewisheit fähig sind, daß man hingegen bey andern blos zu einer Wahrscheinlichkeit gelangen kan; und daß, da Gewisheit zu fordern, wo es nur bis zur Wahrscheinlichkeit zu bringen ist, für eben so unvernünftig angesehen werden mus, als wenn man verlangen wollte, Töne zu sehn, und Farben zu hö ren. Er war überdieses überzeugt, daß das Unterneh men, die genauesten Beweise zu geben, wo keine möglich sind, für die Vortheile der Wahrheit und Religion von sehr gefährlichen Folgen sey; weil dasselbe, an statt uns zu einer vollkommenen Gewisheit zu führen, das Gemüth mit Zweifel und Ungewisheit erfüllt, und dem Scepticismus geneigt macht. Denn wenn wir bey der Art von Ueberzeugung, welche die Natur der Sache zulässt, still zu stehen uns verweigern, und bis zu der höchsten Art derselben, bis zu den genauesten und un überwindlichsten Beweisen, hinaufsteigen wollen: so werden wir unmittelbar hieraus folgern, daß gar keine Ueberzeugung vorhanden sey, weil wir die Art derselben
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Vorrede. 5 nicht antreffen, die wir erwartet hatten. Solcherge stalt bleibt das Gemüth beständig in Ungewisheit, und bildet sich ein, gar keine Beweisthümer für sich zu ha ben, ungeachtet wirklich alle diejenigen, welche die Natur der Sache zulässt, vor ihm liegen, und einem jeden ge nug thun, dessen Verstand nicht von einer unnatürli chen Begierde nach einer gelehrten Erkäntnis in allen Sachen, ohne Unterschied, in Unordnung gebracht wor den. Diese Meynung von den verschiedenen Stufen der Ueberzeugung, welche den verschiedenen Gegenständen un serer Erkäntnis eigen sind, veranlassten Hutcheson zuerst, die Sittenlehre auf die Erfahrung, und nicht, auf die abgesonderten Verhältnisse der Dinge gegeneinander, zu gründen. Er hatte sechs Jahre auf der Universität zu Glasgow zugebracht, als er nach Jrrland zurück gieng, und sich den gewöhnlichen Prüfungen unterwarf, um in den geistlichen Stand zu treten; worauf ihm die Freyheit ertheilt wurde, unter den Presbyterianern zu predigen. Man wollte ihn eben zum Prediger bey ei ner kleinen presbyterianischen Gemeinde im nördlichen Theile von Jrrland machen; als einige Edelleute bey Dublin, welche wusten, daß seine Geschicklichkeit grösser war, als daß er sie bey dieser entfernten Gemeinde ganz hätte anwenden können, ihn ersuchten, eine Art von Pri vatakademie zu errichten. Er lies sich diesen Antrag gefallen, und verwaltete das übernommene Amt so an ständig und so glücklich, daß alle diejenigen, welche ihre Kinder seiner Aufsicht anvertrauten, mit ihm ausserordent lich zufrieden waren; und er zog bald die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Er hatte sich nur eine kurze Zeit
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6 Vorrede. in Dublin aufgehalten, als seine Verdienste und Voll kommenheiten schon überall bekant waren. Personen aus allen Ständen, die einigen Geschmack an den Wis senschaften hatten, oder gelehrte Leute hochzuschätzen wu sten, suchten seine Bekantschaft und Freundschaft. Un ter andern beehrte ihn der Lord Viscount Molesworth mit einer vorzüglichen Achtung und Freundschaft, wel cher in dem Umgang mit ihm viel Vergnügen fand, und ihn durch seine Critiken und Anmerkungen in den Stand setzte, seine Untersuchung über die Begriffe von der Schönheit und von der Tugend, ehe sie ans Licht trat, zu verbessern und vollkommener zu machen. Do ctor Synge, itziger Lord Bischof von Elphin, dessen Freundschaft Hutcheson allemal unter die grössten Freu den und Glückseligkeiten seines Lebens zählete, übersahe ebenfalls seine Schrift, und half ihm den allgemeinen Plan des Werks entwerfen. Die erste Ausgabe kam, ohne den Nahmen des Verfassers, heraus, aber die Vortreflichkeit des Werks verstattete ihm nicht, lange verborgen zu bleiben. Es er hielt so vielen Beyfall, und erweckte von dem Verfasser so grosse Begriffe, daß der damalige Lord Lieutenant von Jrrland, Lord Granville, dessen Einsicht und Geschmack in den Werken des Geistes und der Gelehrsamkeit überall bekant ist, seinen geheimen Secretär abschickte, sich bey den Buchhändlern nach dem Verfasser zu erkundigen. Da er aber von denselben seinen Nahmen nicht erfah ren konte: so lies er ihnen einen an den Verfasser gerichteten Brief einhändigen. Auf diese Art wurde Hutcheson mit dem Lord bald bekant, und erhielt, die ganze Zeit seiner Regierung hindurch, von ihm die
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Vorrede. 7 vorzüglichsten Kennzeichen von Vertraulichkeit und Achtung. Von dieser Zeit an, wurde seine Bekantschaft in Jrrland fast von allen denjenigen gesucht, welche entweder wegen ihrer Würde, oder wegen ihrer Gelehrsamkeit in Ansehen standen. Der Erzbischof King, der Verfasser des Buchs de origine mali , hielt Hutcheson sehr hoch, und seine Freundschaft war für ihn in einer Begebenheit von grossem Nutzen, die ausserdem von verdrieslichen Folgen gewesen wäre, und ihn gänzlich außer Stand hätte setzen können, in seiner Stelle noch weiter nützlich zu seyn. Es wurden zween verschiedene Versuche ge macht, Hutcheson, vor dem erzbischöflichen Gerichte, zu verklagen, weil er sich unterstanden hätte, die Erziehung der Jugend zu übernehmen, ohne sich durch die Unter schrift der englischen Kirchenordnung und durch die Er laubnis vom Bischof, hierzu geschickt gemacht zu haben. Es wurde aber durch diese beyden Versuche nichts aus gerichtet, weil der Erzbischof den grössten Unwillen gegen diejenigen zu erkennen gab, welche so kühn gewesen wa ren, sie zu unternehmen. Er versicherte ihn zugleich, daß er nicht Ursache hätte, von dieser Seite einige Beun ruhigung zu befürchten, so lange es in seiner Gewalt stünde, es zu verhüten. Er erwarb sich auch die Hochachtung des Primaten, Bolter, welcher, auf seine Veranlassung, an die Universi tät zu Glasgow ein Geschenk eines jährlichen Einkom mens machte, zum Unterhalt eines Stipendiaten, der sich zu einer gewissen Art von Gelehrsamkeit geschickt machen sollte. Dieses ist nur eines von den vielen Beyspielen, die man von der wohlthätigen Gemüthsart dieses Prä
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8 Vorrede. laten anführen kan. Herr West, ein Edelmann von großer Geschicklichkeit, und von einem bekanten Eifer für die Vorrechte der Freyheit im Staat und in der Religion, war besonders von Hutcheson eingenommen, und lebte mit ihm, so lange er sich in Jrrland aufhielt, in grosser Vertraulichkeit. Wenige Jahre nach der Untersuchung kam die Abhandlung über die Leidenschaften heraus. Da diese beyden Bücher schon lange in der Welt sind, und man davon schon unterschiedene neue Auflagen gesehn hat, woraus die Aufnahme derselben hinlänglich beurtheilet werden kan: so würde es unnöthig seyn, von densel ben etwas zu sagen. Um diese Zeit verfertigte er einige philosophische Abhandlungen, worinnen er auf eine an dere, und der menschlichen Natur anständigere Art, als Herr Hobbs, die Ursachen des Lachens aufsuchte. Diese Abhandlungen kamen in einer Sammlung unter der Auf schrist<Aufschrift>: Briefe des Hibernicus, heraus. Einige Briefe in dem Londoner Journal von 1728. mit der Unterschrift Phi laretus, welche Einwürfe wider verschiedene Lehren in der Untersuchung enthielten, veranlassten Hutcheson, dieselben in dieser öffentlichen Schrift zu beantworten. Die Briefe und die Beantwortung sind hernach beson ders gedruckt worden. Der Streit blieb unentschieden, weil der Briefwechsel, welchen sie nachgehends, nur un ter sich, fortzusetzen beschlossen hatten, durch den Tod des Philaretus unterbrochen wurde. Nachdem er seine Privatakademie in Dublin, sieben bis acht Jahre, mit großen Beyfall unterhalten hatte, wurde er im Jahr 1729 nach Schottland als Professor der Philosophie auf der Universität zu Glas
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Vorrede. 9 gow berufen. Der Ruhm, welchen er sich durch seine Gelehrsamkeit und Verdienste erworben hatte, waren der einzige Bewegungsgrund, daß die Universität zu Glas gow ihm die durch den Tod des gelehrten und ver dienstvollen Herrn Gershom Carmichael erledigte Stel le antrug. Die Welt billigte ihre Wahl, und der Er folg rechtfertigte dieselbe sattsam. Die Professoren merkten gar bald, daß seine Aufnahme in ihr Colle gium, in Absicht auf den Ruhm und die Vortheile der Gesellschaft, gute Wirkungen hatte. Verschiedene junge Standespersonen kamen mit ihm von seiner Akademie, und sein Ruf lockte viele andere aus England und Jrr land. Doch vielleicht wird sich der Leser mehr verwun dern, daß er die Stelle annahm, als daß sie ihm von der Universität, ohne sein Ansuchen, angetragen wur de. Wenn man fragen sollte, wie es sich hat zutragen können, daß ein Mann von Hutchesons Verdiensten, der so viele vornehme, angesehene und vielvermögende Personen unter seine Freunde zählen konte, sieben bis acht Jahre hindurch, einer Privatakademie, mitten in ei nem Lande vorstehen müssen, wo es so viele Stellen gab, die sich für gelehrte und verdienstvolle Männer so wohl schickten; oder wenn man fragen sollte, wie es sich hat zutragen können, daß man ihm verstattete, sein Va terland zu verlassen, alle Vereinigung mit seinen Verwandten und Freunden aufzugeben, und in der Mit ten seines Lebens sich in ein ander Königreich zu wenden, um daselbst eine wenig einträgliche aber sehr beschwerli che Stelle auf einer Universität anzunehmen: so wird es genug seyn, auf diese Fragen zu antworten: daß seine Freunde eben so bereit, als fähig waren, ihm zu die nen, und daß seiner Beförderung von dieser Seite
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10 Vorrede. nichts im Wege stand. Er hatte besondere Ursachen, die ihn abhielten, eine Beförderung zu suchen, oder auch die sichersten und unfehlbarsten Mittel anzuwenden, wodurch er dazu hätte gelangen können. Man muß aber seinem Charakter Gerechtigkeit wiederfahren lassen, und zu erwähnen nicht vergessen, daß er in dem Stan de, worein ihn die göttliche Vorsehung hatte setzen wol len, eben so nützlich als zufrieden war, und daß weder die Liebe des Reichthums noch der Schimmer und die Pracht des menschlichen Lebens ihn vermögen konten, sei nen Gesinnungen die mindeste Gewalt zu thun. Man kan noch hinzufügen, daß die unsichtbare Hand einer allweisen Vorsehung, welche alle Vorfälle des menschli chen Lebens, und alle Entschliessungen des menschlichen Willens ordnet, ihn in ein solches Amt führete, das ihn zwar nicht ausserordentlich vornehm machte, aber doch vielleicht mehr, als ein jedes anderes, seinen ungemeinen Talenten angemessen war, und ihm Gelegenheit gab, der Welt mehr wahre und wichtige Dienste zu leisten, als er in einem andern Stande zu thun fähig ge wesen wäre. In seinem neuen Amte war er nicht, wie auf sei ner Akademie, verbunden, die Sprachen und verschiede nen Theile der Philosophie zu lehren, sondern er hatte Musse, der Wissenschaft, die er vorzüglich liebte, der menschlichen Natur, feine<seine> vornehmste Aufmerksamkeit zu widmen. Er hatte hohe Gedanken von ihrer ursprüng lichen Würde, und war überzeugt, daß sie, selbst in die sem verdorbenen Zustande, durch eine richtige Unterwei sung und fleissige Bildung, grosser Verbesserungen fä hig wäre. Es wurde ihm das Lehramt der philosophi
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Vorrede. 11 schen Sittenlehre angewiesen. Er verfuhr bey der wei tern Nachforschung in dieser Wissenschaft, auf keine an dere Art, als bey ihrer Erlernung. Er setzte alle Un tersuchungen über die abgesonderten Beziehungen der Dinge auf einander, über die ewige Uebereinstimmung und Mishelligkeit derselben, bey Seite, und richtete seine Betrachtungen nur auf das, was uns immer vor Augen ist, und unmittelbar durch Wahrnehmungen und Er fahrungen erkant werden kan; nämlich, was wir von der gegenwärtigen Beschaffenheit der menschlichen Natur, durch die Erfahrung lernen; welcher Zustand des Her zens, und welche Art zu leben, unserer ganzen Bestim mung am gemässesten sey. Er hatte angemerkt, daß es unsern Zeiten zum Glück und Ruhm gereichte, daß man sich in der Na turlehre von der Gewohnheit, Hypothesen und will kührliche Lehrgebäude anzunehmen, losgearbeitet und die Mühe übernommen hätte, die Einrichtung der materiali schen Welt durch Beobachtungen und angestellte Ver suche selbst kennen, und die darinnen wirkenden Kräfte und Grundursachen bestimmen zu lernen. Er sahe au genscheinlich, daß die Naturlehre, blos durch dieses Verfahren, zu einem höhern Grad der Vollkommenheit, als sie vorher erreicht hatte, gestiegen wäre, und daß, wenn man auf diesem Wege fortgehen würde, diese Wis senschaft noch wichtigere Verbesserungen zu hoffen hätte. Er war überzeugt, daß ein wahrer Abris der Sitten lehre ebenfalls keine Geburt des Witzes und der Erfin dung, oder des richtigsten metaphysischen Tiefsinns seyn könne, sondern von eigenen Betrachtungen der verschie denen Kräfte und Grundtriebe hergenommen werden
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12 Vorrede. müsse, deren wir uns in unserm eigenen Busen bewusst sind, und von welchen wir einsehen können, daß sie, im ganzen menschlichen Geschlechte, in gewissen Graden wir ken. Es müsse also in der Sittenlehre wenigstens für sehr zuträglich gehalten werden, den Bau unsers Innern, als ein Ganzes, das aus verschiedenen Theilen zusam mengesetzet ist, genau zu untersuchen, das Amt und den Endzweck eines jeden Theiles, nebst den natürlichen Verhältnissen dieser Theile unter einander, anzumerken, und daraus die Absicht des Ganzen und die mannichfal tigen Verrichtungen zu folgern, wozu sie von ihrem großen Urheber bestimmt zu seyn scheinen. Er glaubte, man hätte Grund zu hoffen, daß, wenn man auf eben die Art, wie man den Bau eines thierischen Körpers, und einer Pflanze, oder das System der Himmelskörper zu untersuchen pflegt, genauere philosophische Untersuchun gen über die verschiedenen natürlichen Grundtriebe und natürlichen Neigungen des menschlichen Geschlechts an stellte, man zu einer weit richtigern Theorie der Sitten lehre gelangen würde, als es bisher möglich gewesen wäre: und eine Theorie, welche, auf so deutlichen und festen Gründen, beruhete, würde einem jeden, der die Wahrheit zu finden suchte, vollkommene Genüge leisten. Denn wir können, durch das innere Bewusstseyn und Ge fühl, die Beschaffenheit unsers innern Wesens eben so genau kennen lernen, als uns die verschiedenen Theile ei nes Körpers, durch Hülfe unserer Augen, bekant wer den: und wir dürfen wegen der Absichten, zu welchen, wenigstens die vornehmsten Theile unsers Innern, be stimmt sind, eben so wenig zweifelhaft seyn, als wir es wegen der Absichten der Glieder an unserm Körper, und unserer äusserlichen Sinne seyn können. So sehr
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Vorrede. 13 wir von dem Daseyn und den Vollkommenheiten des höchsten Wesens überzeugt sind; eben so sehr sind wir überzeugt, daß die moralische Beschaffenheit unserer Natur sein Werk ist, und wir folgern hieraus, daß es gewis sein Wille sey, daß wir uns in diejenige Ver fassung des Gemüths setzen, und diejenige Art zu leben erwählen sollen, welche den offenbaren Absichten und Bestimmungen seines göttlichen Werks am gemässesten ist; und daß ein solcher Zustand des Herzens und ein solcher Plan des Lebens, welcher am gewissesten mit dem Endzweck aller Theile desselben übereinstimmt, als die vollkommenste Art zu handeln angesehen werden und die Pflicht, die Glückseligkeit und Vollkommenheit der Men schen ausmachen mus. Unser Verfasser hat in dem folgenden Werke ei nen Versuch gemacht, zuförderst die verschiedenen Grund triebe der menschlichen Seele, in so fern sie ein sittliches Ganzes ausmachen, zu entwickeln, und daher den Ur sprung unsrer Begriffe vom sittlichen Guten und Uebel, und unsers Gefühls der Pflicht oder sittlichen Verbind lichkeit, aufzusuchen. Hierauf bemüht er sich zu er forschen, worinnen eigentlich die höchste Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts bestehe; und sodann sucht er die besondern Gesetze der Natur, oder diejenigen Re geln zu bestimmen, welche nothwendig beobachtet wer den müssen, wenn in der Verbindung, worinnen wir ge geneinander, als Mitglieder einer Gesellschaft, stehen, das allgemeine Beste befördert werden soll. Man mus es dem Urtheil des aufmerksamen und unpartheyischen Le sers überlassen, ob der Verfasser in diesem allen glücklich gewesen ist.
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14 Vorrede. Wenn man indessen auch annehmen wollte, daß sein Lehrgebäude, nach einer längern und nähern Prü fung des Wesens, und der Wirkungen unserer Seele, in einigen Stücken eine Aenderung oder Verbesserung zuge lassen haben würde: so bleibt doch allemal gewis, daß alle seine Anmerkungen und Betrachtungen vollkommenen Beyfall verdienen, weil er die höchste Tugend und Vor treflichkeit eines Menschen eben darin setzet, worinnen sie, nach einer gesunden Philosophie und der göttlichen Offenbarung, bestehen soll, nämlich in einer so ferti gen und so beständigen Ausübung aller guten Neigungen gegen Gott und den Menschen, daß dadurch alls andre Begierden, Leidenschaften und Neigungen in Schranken gehalten und wir angetrieben werden, nur solche Handlungen zu unternehmen, wodurch die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts auf die vollkommen ste Art, die in unsern Kräften steht, befördert werden kan. * Man mus bekennen, daß die Lehre unsers Verfassers, nach welcher wir, vermöge der Be 1
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Vorrede. 15 schaffenheit unserer Natur, ** wirklich in einer innerli chen geheiligten Verbindlichkeit stehen, das Beste des menschlichen Geschlechts, selbst auf Unkosten des Lebens und aller Freuden desselben, zu befördern, mit der Lehre des Christenthums, die uns gebietet, unser Leben für die Brüder zu lassen, entweder völlig übereinkommt, oder ihr doch nahe verwandt ist. Sie giebt uns zu glei cher Zeit richtigere, liebreichere und würdigere Begriffe von der menschlichen Natur, die, vermöge ihres Ur sprungs, darauf eingerichtet ist, nach weit uneigennützi gern Grundtrieben zu handeln, als diejenigen Weltweisen gestehen wollen, welche darau<daran> arbeiten, alle Regungen der menschlichen Seele einzig und allein auf die Selbst 2
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16 Vorrede. liebe zu gründen, so sehr auch dieselben, gleich beym ersten Anblick, davon entfernt zu seyn scheinen mögen. Ob gleich diese edlen Grundtriebe, in diesem verdorbenen Zustand, durch sinnliche und eigennützige Leidenschaften dergestalt unterdrückt und überwältiget werden, daß sie sich nicht in der gehörigen Lebhaftigkeit äufsern<äussern>, selbst wenn die bequemste Gelegenheit dazu vorhanden ist: so ist doch, nach unsers Verfassers Begriffen, die Absicht des Urhebers der Natur aus dem wichtigen Umstande sattsam wahrzunehmen, daß das moralische Gefühl be ständig sein Amt so treulich verwaltet, daß es niemals einer wahrhaftig uneigennützigen Tugend den stärksten und innigsten Beyfall versagen wird. Je weniger Ver dacht vorhanden ist, daß der Märtyrer, der Patriot, der Held, wenn er sein Leben, in einer würdigen Sache, aufgiebt, einige Absichten dabey habe, wenn es auch nur der Nachruhm wäre; desto lauter und anhaltender ist der Beyfall aller Zuschauer; dahingegen derselbe sich so bald vermindert, als man dem Sterbenden den ge ringsten eigennützigen Bewegungsgrund schuld geben kan. Nach dieser Vorstellung der Dinge trägt die mensch liche Seele nicht nur in ihren Verstandeskräften das Ebenbild des göttlichen Verstandes, sondern auch in ih ren geselligen und auf das gemeine Beste gerichte ten Neigungen das Ebenbild der göttlichen uneigennützi gen Gütigkeit an sich. Solchergestalt ist zwischen der Beschaffenheit unsers Innern, welches darauf eingerich tet ist, das allgemeine Beste zu befördern, und zwi schen der Einrichtung des Ganzen die vollkommenste Uebereinstimmung. Wir finden in der ganzen Natur die bewundernswürdigste Sorgfalt, die allgemeinen Vor theile aller Gattungen lebendiger Wesen zu befördern.
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Vorrede. 17 Es ist also der Analogie der Natur gemäs, daß die Men schen, als die oberste Classe der Geschöpfe auf dieser niedern Welt, mit der Geneigtheit versehen seyn müssen, das allgemeine Beste ihrer Nebenmenschen vor Augen zu haben, und es für ihre Pflicht zu halten, selbst ihr Le ben dahin zu geben, wenn es ein allgemeiner Vortheil erfordert. Hutcheson war ein zu vernünftiger und zu gelehrter Mann, als daß er blos bey besondern Lehrsätzen der Moral hätte stehen bleiben sollen. Seine Wissen schaft schränkte sich nicht auf sein eigenes Lehrgebäude ein, und man wird bey Durchlesung des folgenden Werks deutlich wahrnehmen, daß er mit den Schriften der Al ten und Neuern, welche die Sittenlehre, die Religion und die Regierung zum Gegenstand haben, sehr wohl bekant war. Auch selbst in diesem Umfange war die Sittenlehre nicht die einzige Wissenschaft, der er seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit widmete. Eine heftige Wissensbegierde war ihm natürlich. Er liebte die Wahrheit, und forschte nach ihr mit Unparteylichkeit und unermüdetem Fleisse. Er besas eine geschwinde Ein sicht und ein treues Gedächtnis; und er hatte sich nicht nur gewöhnt, immerfort zu denken und zu forschen, son dern er fand auch Vergnügen dabey. Seine Seele war niemals der Ermattung unterworfen, die so oft den Fleis berühmter Leute unterbricht: seine Kräfte waren be ständig gleich munter und wirksam. Ein Geist, der so viele Vorzüge besas, und so viele Jahre hinter einander in dem Umgang mit den Wissenschaften zuge bracht hatte, muste sich nothwendig eine weitläuftige Ge lehrsamkeit erworben haben.
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18 Vorrede. In seiner Jugend machte er sich mit dem Geist der Alten sehr genau bekant, und er empfand und bewun derte bald die Richtigkeit und ungekünstelte Schönheit der Gedanken und des Ausdrucks, welche ihre Schriften unsterblich und unschätzbar gemacht haben. Er las die Geschichtschreiber, Dichter und Redner des Alter thums, mit einer Art von Begeisterung, und zugleich mit einer critischen Genauigkeit. Er hatte besonders die Dichter so oft gelesen, daß er lange Stellen aus ihnen im Gedächtnis behalten hatte, die er in seinen Vorlesun gen, bey Gelegenheit, auf eine sehr gute Art anzuwen den wusste. Daß er die lateinische Sprache vollkommen verstand, ist aus den Schriften zu beurtheilen, die er darinnen verfertigt hat. Sein Abris der Metaphysik, Geisterlehre, natürlichen Theologie, und sein Auszug aus der Ethik sind in einer zierlichen und reinen Schreibart abgefasset, die man nur selten in neuern lateinischen Schriften antrift. Er hatte alle Theile der Philosophie so sorgfältig durchgedacht, daß er darinnen keine gemeine Einsicht be sas. Er verfertigte einen kleinen Abris der Vernunft lehre, welchen er zwar nicht für die gelehrte Welt be stimmt hatte, wodurch er aber doch sattsam bewies, daß er ein Meister in dieser Wissenschaft war. Man sieht aus seiner Metaphysik, daß er die unvernünftigen Fra gen und unnützen Streitigkeiten der alten Scholastiker, die über diesen Theil der Philosophie eine so dicke Fin sternis verbreitet haben, ungemein wohl inne hatte. Er hat diese Wissenschaft in ein helles Licht gesetzt, und sie lehrreich und unterhaltend gemacht. Die Naturlehre verstand er so, wie sie durch die Hülfe der Mathematik
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Vorrede. 19 und der Erfahrungen verbessert worden, und er wen dete die Käntnis derselben zu dem edlen Vorsatz an, die grossen Wahrheiten von dem Daseyn, den Vollkom menheiten und der Vorsehung Gottes zu befestigen. Er hatte es in der Geschichte der Künste und Wissenschaften sehr weit gebracht; er war bis zu ihrem Ursprung zu rückgegangen, hatte die verschiedenen Veränderungen, das Wachsthum, den Verfall, und die Wiederaufnah me derselben genau beobachtet, und den Character der merkwürdigsten Philosophen, nebst den unterscheidenden Lehren und der besondern Eigenschaft ihrer Philosophie angemerkt. Ueber dieses hatte er eine ungemeine Känt nis der kirchlichen und bürgerlichen Geschichte alter und neuer Zeiten, welche desto mehr an ihm zu bewundern war, da er mit tiefsinnigern und ernsthaftern Wissenschaf ten Umgang pflog. Er verstand auch die Grundsprache des alten Testaments, und obgleich seine andern gelehr ten Beschäftigungen ihm nicht erlaubt hatten, selbst ein Criticus darinnen zu werden: so waren ihm doch die wichtigsten Critiken derjenigen bekant, welche sich durch ihre Gelehrsamkeit in dieser Sprache hervorgethan hatten. Nirgends zeigte sich sein grosser fähiger Geist in einem hellern Glanze, als in dem Umgange mit seinen Freunden. Man mochte sich unterreden, wovon man nur wollte; so kosteten ihm seine Gedanken so wenig Mühe, sein Ausdruck war so faslich, und seine Wissen schaft von so grossem Umfange, daß ihm jedermann mit Vergnügen zuhörete. Es giebt Leute, die wirklich ei nen grossen Vorrath von Gelehrsamkeit besitzen; allein sie scheinen ihn in so weit von einander entlegenen Ge
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20 Vorrede. genden ihres Verstandes beygelegt zu haben, daß es Zeit erfordert, ehe sie ihn zusammen schaffen und davon Gebrauch machen können. Bey andern scheint es, daß ihre grosse Gelehrsamkeit nur Finsternis über ihre Gedanken verbrei tet, und daß sie von den untermengten Begriffen, die sich in ihren Verstand auf einmal eindrängen, verhin dert werden, die Dinge zu unterscheiden. Aber der ganze Schatz seiner Wissenschaft lag immer vor ihm, und war beständig zu seinem Dienst bereit. Er über sah auf einen Augenblick alles, was mit seinem itzigen Gegenstand zusammenhieng, und verwarf dasjenige, was keine Verwandschaft mit demselben hatte. Er sprach von den schwersten und tiefsinnigsten Sachen mit einer Leichtigkeit und Deutlichkeit, die vielleicht Leuten von nicht geringerer Geschicklichkeit wiederholte Bemü hungen gekostet haben würde, ohne ihn zu erreichen. Es kostete ihm wenig Arbeit, betrügerische Vernunftschlüsse aufzulösen. Er unterschied die wahre Gelehrsamkeit von der falschen; die Gegenstände unserer Erkäntnis, welche der unwidersprechlichsten Beweise fähig sind, von solchen, welche es nicht sind; nützliche und wichtige Fra gen, von solchen, welche blos die Neugier befriedigen und zum Zeitvertreib dienen. Er hatte nichts so sehr und so beständig vor Augen, als den wirklichen Nu tzen, den die Wissenschaften im menschlichen Leben schaf fen können. Seine Absicht war nicht, mit unerhebli chen Dingen sich zu belustigen, sondern er hatte bey al len seinen Untersuchungen den wahren Vortheil des menschlichen Geschlechts zum Augenmerk. Selbst von methaphysischen Streitigkeiten, wovon er keinen an dern Nutzen hoffen konte, nahm er Gelegenheit, dem Stolz und der Eitelkeit der jungen Leute Ein
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Vorrede. 21 halt zu thun, die von ihrer grossen Gelehrsamkeit so voll sind; und er zeigte, wie unfähig auch die scharf sinnigsten Sterblichen wären, in die geheime Natur und in das Wesen der Dinge einzudringen. Diese besondern Talente waren in Hutcheson mit den liebreichsten Neigungen und den nützlichsten Tugen den verbunden. Die Reinigkeit seiner Sitten war, von seiner Jugend an, unbefleckt. Gleichwie er allemal den höchsten Abscheu vor dem Laster zu erkennen gab: also blieb er beständig in den entferntesten Gegenden von ihm, und vermied auch die mindesten und verzeihlich sten Unanständigkeiten im Betragen. Allein diese strenge Tugend wurde nicht von dem Eigensinn, nicht von der Ungeselligkeit begleitet, die sie so oft zu Gefährten hat, und die nicht allein so viele sonst schätzbare Leute unangenehm machen, sondern auch die guten Wirkun gen hindern, welche ausserdem die Tugenden derselben auf andere haben würden. Er war vollkommen auf richtig, und verabscheuete in Worten und Werken auch den geringsten Schein einer Hintergehung. Er verachtete diese kleinen Kunstgriffe, die man in der Welt gemeiniglich für lobenswurdige Geschicklichkeiten und für Beweise einer nicht gemeinen Klugheit zu hal ten pflegt. Er war von Natur frey und offenher zig, und voll Eifer, das zu sagen, was er für wahr hielt. Schon beym ersten Anblick verrieth er seine red liche und aufrichtige Seele, und bey einer nahen Bekant schaft mit ihm fand man ihn niemals von sich unter schieden. Er war ganz Wohlgewogenheit und Zunei gung. Man durfte ihn nur sehen, um sich hiervon zu überzeugen. Seine Mine und sein Betragen bewiesen es.
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22 Vorrede. Diese Gemüthsart war ihm so sehr eigen, daß man auch in seinen Schriften Spuren davon antrift, an wel chen vielleicht sein Herz eben so viel Antheil hat, als sein Verstand. Und wenn dasjenige, was in seinem Lehr gebäude auf die liebreichen und geselligen Neigungen ge gründet worden, eine Vertheidigung nöthig hätte: so würde man es wenigstens auf eine sehr angenehme Art mit der Gewalt entschuldigen können, welche diese Neigungen über ihn selbst hatten. Sein Herz war zur Freundschaft gemacht. Er war zwar mit äusserlichen Versicherungen derselben sehr zurückhaltend; aber er war allemal bereit, sich jedermann durch die wichtigsten Dienste, die man von einem Freun de erwarten kan, gefällig zu machen. Seine Freunde nahmen bey jedem unglücklichen Zufall, bey jeder Be kümmernis, ihre Zuflucht zu scinem<seinem> Rath und Beystand. Die heftige Zuneigung zu seinen Freunden, siegte über seinen natürlichen Widerwillen gegen den Wunsch, an gesehen zu seyn; ein Sieg, den die Betrachtung seines eigenen Vortheils niemals hätte erhalten können. Sei ne Gefälligkeiten schränkten sich nicht blos auf seine be sondern Freunde und Anverwandten ein; sein Herz über flos von Gütigkeit gegen alle, die er kante, und er ergrif jede Gelegenheit, sich ihnen angenehm und ver bindlich zu machen. Ob gleich nur wenige einen so star ken Trieb zu den Wissenschaften haben, und sich densel ben mit einer so anhaltenden Aufmerksamkeit und An strengung widmen; so muste doch dieser Geschmack seiner Neigung, Gutes zu thun, oftmals nachgeben. Er war von einer ungemein wohlthätigen Gemüthsart; beson ders war es ihm eine wahre Freude, hoffnungsvollen
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Vorrede. 23 Jünglingen, die sich in dürftigen Umständen befanden, beyzustehen, und ihren Fleis nicht nur mit einem Zu schus an Gelde, sondern auch durch die Erlaubnis, daß sie seinen Vorlesungen, ohne einige Bezahlung, bey wohnen durften, zu unterstützen. Mit einer Art von vernünftiger Schwärmerey, die ihn immer begeisterte, und den vornehmsten Theil seines Characters ausmachte, nahm er sich der Vortheile der Gelehrsamkeit, Freyheit, Religion, Tugend und der menschlichen Glückseligkeit an. Aus allem, was er sagte und that, konte man wahrnehmen, daß er die edle Absicht hatte, sie zu befördern und auszubreiten. Sie vermochten so viel über ihn, daß sie einen Einflus auf sein ganzes Betragen hatten, und ihm einen allgemei nen Geist, von dem weitesten Umfange, mittheilten. Das, was wir in ihm einen allgemeinen Geist nennen, bestand nicht in einer unbestimmten Begierde nach allem demjenigen, was wir nicht wissen, oder nicht vollkommen verstehen; sondern in einem erleuchteten und uneingefchränkten<uneingeschränkten> Eifer für die Glückseligkeit der Men schen, und die Mittel sie zu befördern. Seine Liebe zur wahren Gelehrsamkeit, seine unermüdete Sorgsalt<Sorgfalt>, sie zu erlangen, und den Geschmack an ihr auszubreiten, machte ihn zu dem Amte, welches die Vorsicht ihm angewiesen hatte, ausserordentlich geschickt. Und viel leicht haben wenige Leute, in gleichen Aemtern, mit glei chem Glück und Eifer, den Geschmack an der ächten Lite ratur ausgebreitet. Allein sein Eifer blieb nicht in den Gränzen seines eigenen Lehramts, sondern derselbe erstreckte sich auf alles, was im menschlichen Leben Vortheil und Nutzen schaffen kan. Wenn er sprach: so
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24 Vorrede. glaubte man, er hätte fast allen wichtigen Bedienungen vorgestanden; so sehr verrieth er, daß er die Vortheile einer jeden verstand, und sich ernstlich angelegen seyn lies, zur Beförderung derselben etwas beyzutragen. Sein gutartiges Herz fand die gröste Freude daran, die Mittel aufzusuchen, wodurch in den verschiedenen Ständen der menschlichen Gesellschaft dasjenige, was von den Regeln der Ordnung abwich, mit denselben in Uebereinstimmung gebracht, oder dasjenige, was mit denselben schon übereinkam, zu mehrerer Vollkommenheit erhöht werden könte. Die von ihm hierzu gemachten Entwürfe gründeten sich auf keine leere Einbildungen, sondern sie waren der Ausführung fähig, und hätten die Aufmerksamkeit aller derjenigen verdient, welche Gewalt und Ansehen in der Gesellschaft, in den Stand setzten, sie zur Ausführung zu bringen. Dieser Eifer für das gemeine Beste zeigte sich beständig in seiner Art zu den ken, und nicht nur in seinen ernsthaftern, sondern auch in sei nen heitern und vergnügten Stunden. Er war an Entwür fen, die den Vortheil anderer angiengen, unerschöpflich; doch niemals hat er an einen gedacht, der seine eigenen Nutzen betroffen hätte. Wir haben schon angemerkt, daß er in seiner Jugend, zu einer Zeit, da man an Glückseligkeiten, die in die Augen fallen, den meisten Geschmack zu haben pflegt, niemals auf Vorschläge ge hört hat, die ihm eine Ausficht<Aussicht> in Reichthümer und An sehen eröfneten. In seinem reifen Alter, da aber der gute Zustand seiner Gesundheit ihn noch hoffen lies, viele Jahre zu leben, wurde ihm der Antrag gethan, auf der Universität zu Edimburg Professor der philosophischen Sittenlehre zu werden. Ungeachtet er in dieser Stelle mehrere Einkünfte und bessere Gelegenheit gehabt haben
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Vorrede. 25 würde, mit den vornehmsten und angesehensten Personen bekant zu werden: so war er doch in seinem gegenwärti gen Stande vergnügt, und gänzlich abgeneigt, ihn je mals zu ändern. Diese vortreflichen Talente machten seinen Umgang, besonders für seine Freunde, so unterhaltend und lehrreich, daß derselbe allen denjenigen, die ihn zu geniessen das Glück hatten, eine Schule der Weisheit war. Es hätte eine sehr unverständige Gesellschaft seyn müssen, die er nicht zugleich vergnügt und unterrichtet hätte. Eine un gemeine Lebhaftigkeit der Gedanken und des Ausdrucks, ein immerwährender Quell von Gütigkeit und Menschen liebe, und eine sichtbare Mine von innerer Glückseligkeit machte ihn zur Seele der Gesellschaft und hatte auf alles, was ihn umgab, einen belebenden Einflus. Er war munter und scherzhaft, vertraulich, und im höchsten Grad gefällig, und ganz und gar frey von Stolz und Zwang. Kein Zeichen einer Eitelkeit oder Zufriedenheit mit sich selbst wurde man an ihm gewahr. Er verlangte keinen Ruhm, und er bildete sich auf den ungesuchten Besitz desselben nichts ein. Er war unter allen, die um ihn waren, derjenige, der die meisten Vorzüge besas, und zugleich der einzige, der es nicht gewahr wurde. Seine Gedan ken beschäftigten sich niemals mit seinen eigenen Voll kommenheiten. Er wurde durch die Ausübung liebrei cher Neigungen, durch den Eifer für die gemeinen Vor theile, und durch das begierige Forschen nach der Wahr heit abgehalten, auf sich selbst aufmerksam zu seyn. Die ses war so ein unläugbarer Theil seines Characters, daß selbst diejenigen, welche am wenigsten geneigt waren, vortheilhaft von ihm zu denken, ihn niemals eines Stolzes
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26 Vorrede. oder einer Eitelkeit beschuldigen konten. Seine natür liche Bescheidenheit wurde durch seine gottesfürchtigen Gesinnungen noch mehr erhöhet und verfeinert. Er war von den grossen Wahrheiten der natürli chen und geoffenbarten Religion und von dem wichtigen Einflus einer geziemenden und vernünftigen Gottesfurcht auf die Glückseligkeit des menschlichen Lebens und auf die Befestigung und Reinigkeit eines tugendhaften Wan dels, auf das stärkste und lebhafteste überzeugt. Man konte in dem Umgange mit ihm merken, wie viel Gewalt seine Gottesfurcht auf sein Herz hatte. In seinen öffent lichen Vorlesungen lies er keine, auch nicht die, von sei nem eigentlichen Gegenstand, entfernteste Gelegenheit vorbey, daß er sich nicht weitläuftig und voll Entzückung über die Anständigkeit und den Vortheil der voll kommensten Ehrfurcht gegen Gott, und über unsre Pflicht, alle unsere Gaben, unsre Tugenden und alles, was wir besitzen, seiner Gütigkeit zuzuschreiben, erkläret hätte. Dieses waren in seinen Augen die unfehlbarsten Mittel, die Aufwallungen von Stolz, von Eitelkeit und Selbstzufriedenheit zu unterdrücken, welche in den Her zen solcher Leute zu entstehen pflegen, die nicht ernstlich und oft daran denken, daß sie nicht besser sind, als an dere, und daß sie nichts besitzen, als was sie em pfangen haben. Er sahe diese Gesinnungen, wenn sie sich einmal in unserer Seelen festgesetzt haben, als den eigentlichen Grund der Einfalt des Herzens und Wan dels an, welche die höchste Vollkommenheit eines tu gendhaften Characters ausmacht. Hutcheson wurde durch alle diese Vorzüge, durch seine grosse Gelehrsamkeit, und durch das glückliche Ta
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Vorrede. 27 lent, ohne Mühe, und doch richtig und gründlich zu sprechen, zu dem vortreflichsten Lehrer, den unsre Zeiten je mals gesehn haben. Er besas eine natürliche und ein nehmende Beredsamkeit. Er sahe wirklich mehr auf den Verstand als auf den Ausdruck, und doch war sein Aus druck gut. Er war in der nachdrücklichen und genauen Sprache, die zu philosophischen Untersuchungen so unent behrlich ist, ein Meister. Aber er hielte es weder in sei nen Vorlesungen, noch in seinen Schriften über Gegen stände der Religion und Sittenlehre, für seine Pflicht, ohne Ausnahme ein unterrichtender Lehrer zu seyn, der für nichts, als die erforderliche Kürze und Genauigkeit in richtigen Erklärungen und bündigen Schlüssen, zu sorgen hätte. Er glaubte die Pflichten seines Amts eben so vollkommen zu erfüllen, wenn er bey moralischen Be trachtungen, die das Herz rühren können, sich länger verweilte, und die Liebe zur Tugend erregte, als wenn er den wichtigsten Lehrsatz mit der grösten philosophischen Genauigkeit vortrüge und erläuterte. Er sahe die Bil dung des Herzens als den vornehmsten Endzweck aller moralischen Unterweisung an. Er machte dieselbe be ständig zu seinem Augenmerk, und er besas alle Eigen schaften, darinnen glücklich zu seyn, so weit es durch menschliche Mittel möglich ist. Er dachte und empfand mit einer so ausserordentlichen Lebhaftigkeit, daß er bey den grossen Gegenständen der Sittenlehre und Religion in die höchste Entzückung gerieth. Dieses gab seinem Vortrage eine angenehme Gestalt, welche die Aufmerk samkeit der Zuhörer unterhielt, und zu gleicher Zeit den stärksten Eindruck in ihren Seelen zurücklies. Er er füllte ihre Herzen mit einem neuen und höhern Vergnü gen, als sie jemals zuvor empfunden hatten, wenn er mit
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28 Vorrrede. seiner einnehmenden Art, ihnen eine Aussicht in weite Gefilde der Erkäntnisse, wovon sie vorhin gar keine Be griffe gehabt hatten, eröfnete. Wenn er, zum Exempel, seinen Zuhörern, bey der Vorlesung über die natürliche Theologie, in dem Bau eines jeden einzelnen Dinges un zähliche Beweise einer bewundernswürdigen Kunst und einer liebreichen Absicht entdeckte, und hernach die er staunlichern Beweise der weisesten Allmacht und der gü tigsten Sorgfalt in dem allgemeinen Ganzen, als ein Ding betrachtet, ihnen vor Augen legte: so ist leicht zu begreifen, daß dieses auf ihre zarten Gemüther, die von der Liebe zur Wissenschaft voll waren, einen tiefen Ein druck machen muste. Solche Betrachtungen der Natur waren ihnen neue Entdeckungen, welche sie mit Vergnü gen und Erstaunen erfüllten, und ihnen zugleich die an genehmste und stärkste Ueberzeugung von dem Daseyn und den Vollkommenheiten des grossen Urhebers der Welt ver schaften. Wenn er sie von der Betrachtung der äusserli chen Welt, zu dem Anschauen einer innerlichen, der menschlichen Seele, fortführte, und ihnen in der morali schen Beschaffenheit derselben ebenfalls die Spuren der göttlichen Weisheit und Gütigkeit zeigte: so wurden sie von neuem Vergnügen und Erstaunen durchdrungen, und empfiengen neue und überzeugendere Proben von den herrlichen Eigenschaften des Vaters unserer Geister. Und wenn er die verschiedenen Tugenden als schön an sich selbst, als die edelste Anwendung unserer ver nünftigen und moralischen Kräfte, und als die einzige Quelle der wahren Würde und Glückseligkeit einzelner Personen und ganzer Gesellschaften schilderte: so wurden sie von diesem liebenswürdigen Gemählde bezaubert, und fühlten ein inniges Verlangen, das zu seyn, was sie
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Vorrede. 29 sahen. Das Vergnügen, welches aus dem anbrechen den Licht der Wahrheit und der Schönheit der Tugend in fähigen und gutgearteten Seelen entspringt, erregt eine so heftige Begierde zur Wissenschaft, und einen so grossen Eifer, sie zu erlangen, daß es auf einige Zeit die Em pörungen der jugendlichen Leidenschaften aufhält, welche stark genug sind, junge Leute in ihren besten Jahren hinzureissen. Damit man sich aber nicht einbilde, als ob diese mächtige Wirkungen blos den Reitzungen der Neuheit zuzuschreiben wären: so ist noch zu erwäh nen, daß einige von seinen Zuhörern, die schon Jahre und Wissenschaft hatten, seine Vorlesungen über die phi losophische Sittenlehre, vier, fünf, auch sechs Jahr hin ter einander besuchten, und immer neue Unterhaltung fan den, obgleich der Hauptgegenstand, jedes Jahr, allemal derselbe war. Seine Vorlesungen wurden dadurch noch nützli cher, daß sie sich nicht auf tiefsinnige Betrachtungen und auf ein besonderes Lehrgebäude einschränkten, sondern sich gemeiniglich bis auf das gemeine Leben erstreckten. Er entdeckte zuweilen die gewöhnlichen Thorheiten und La ster des vornehmsten Theils der Welt, die Abweichungen von Recht und Billigkeit in dem geschäftigen Theil dessel ben, und die gefährlichen Klippen, an welchen die Ju gend scheitern, und Tugend und Glückseligkeit verlieren kan. Zu andern Zeiten blieb er bey Materien stehen, de ren Wichtigkeit von jedermann eingesehen werden konte. Die grosse Grundregel, auf welcher er bestand, und die er dem Herzen seiner Zuhörer einzuprägen suchte, war, sich über alle Dinge zu freuen, in der festen Ueberzeu gung, daß es eine allgemeine Vorsehung eines unendlich
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30 Vorrede. weisen und gütigen Wesens gebe, welches alle seine Werke liebt, und von welchem sich nicht denken lässt, daß es et was, das es gemacht hat, hassen könne. Er pflegte die ses unaufhörlich, auf das nachdrücklichste, einzuschärfen, „als den festen Grund eines gänzlichen Vertrauens auf Gott, und einer ehrerbietigen Unterwerfung unter seinen Willen, bey allen Vorfallenheiten. Man müsse die Lei den als unsere grösten Wohlthaten ansehen, weil sie uns nicht nur Gelegenheit verschaffen, die erhabensten Tu genden, als die Ergebung in den Willen Gottes, die Verzeihung der Beleidigungen, die Vergeltung des Bö sen mit Guten, auszuüben; sondern uns auch den Weg zeigen, zu richtigen Begriffen von der Eitelkeit aller Dinge, ausser der Liebe zu Gott, und der allgemeinen Menschenliebe, zu gelangen: alles, was wir haben, müsse nicht uns selbst, sondern Gott, welcher alles giebt, zugeschrieben werden: Liebe und Dankbarkeit, welche Gott den Ruhm, daß alles, was vortreflich ist, von ihm herkomme, nicht verweigert; und ein unaufhörlicher Ei fer, Gutes zu thun, schienen ihm die höchste menschliche Vollkommenheit auszumachen.“ Er drückte sich über diese grossen Grundsätze, mit der leichten und einnehmen den Art aus, welche unmittelbar das Herz rührt, und der Einbildungskraft die schönsten und reizungsvoll sten Bilder vorstellt. Da er alle Jahre Gelegenheit hatte, in seinen Vor lesungen den Ursprung der Regierung zu erklären, und die verschiedenen Arten derselben gegen einander zu halten: so lies er sich besonders angelegen seyn, die wichtigen Vortheile, welche die Freyheit im Staat und in der Re ligion der menschlichen Glückseligkeit bringt, einzuschär
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Vorrede. 31 fen. Da die Liebe zur Freyheit und der Eifer, sie zu be fördern, seine eigentliche Grundsätze waren: so pflegte er sich bey denselben allemal sehr weitläuftig, mit Anführung der bündigsten Beweise, und mit dem ernstlichsten Vorsatz der Ueberzeugung aufzuhalten; und er war so glücklich, daß wenige seiner Zuhörer, mit was für Vorurtheilen fie<sie> auch zu ihm gekommen waren, ihn ohne die vortheilhaf testen Begriffe von den Meinungen, die er in diesem wich tigen Puncte annahm und vertheidigte, verliessen. Ausser seinen beständigen Vorlesungen, welche er über die natürliche Religion, die Sittenlehre, die Rechts gelehrsamkeit und Staatskunst, wöchentlich fünf Tage hielt, beschäftigte ihn noch eine andere, drey Tage wö chentlich, worinnen er die besten griechischen und lateini schen Schriftsteller des Alterthums, über die Sittenlehre, auslegte, und sowohl die Sprache, als die Grundsätze derselben, auf die geschickteste Art erklärte. Ausser diesen Vorlesungen hielte er allemal des Sontags Abends noch eine über die Wahrheit und Vor treflichkeit der christlichen Religion, worinnen er alle Beweise von der Wahrheit und den wichtigen Vortheilen derselben deutlich und genau anführte, und den Zusammenhang ihrer göttlichen Lehren aus den ursprünglichen Zeugnis sen des neuen Testaments selbst, und nicht aus den par teyischen und scholastischen Lehrgebäuden der neuern Zei ten vortrug. In dieser Vorlesung hatte er die meisten Zuhörer, weil die Studirenden aus allen Ordnungen die sen Tag von ihren besondern Beschäftigungen frey waren, und derselben desto lieber beywohnten, je mehr sie über zeugt waren, daß sie Vergnügen und Unterricht fin den würden.
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32 Vorrede. Ein Lehrer, der solche Gaben hatte, und einen sol chen Eifer bezeigte, die Pflichten seines Amts zu beobach ten, der alle Vorzüge eines redlichen Mannes besas, der für die wohlgeartete Jugend so eingenommen war, der sich aller ihrer Angelegenheiten annahm, und bey allen Vorfallenheiten ihnen Gefälligkeiten erwies; ein solcher Lehrer muste nothwendig ihre gröste Hochachtung und Zuneigung gewinnen. Dieses setzte ihn bey denselben in ein grosses Ansehen, welches er blos zu der vortreflichen Absicht anwendete, tugendhafte Eindrücke in ihre Herzen zu prägen, und ihnen eine Neigung zur Gelehrsam keit, zu schönen Künsten, und zu allem, was im mensch lichen Leben anständig und nützlich ist, beyzubringen. Er hatte das besondre Glück, daß er die Liebe zur alten Literatur, besonders zum Griechischen, wieder erweckte, welches, vor seiner Zeit, auf der Universität sehr verab säumt worden war. Jedermann, der um ihn war, er hielt von ihm eine solche Liebe zur Wissenschaft und eine solche Begierde zu forschen, daß die Studirenden, auch bey ihren Spatziergängen und Besuchen, sich mit vielem Scharfsinn über gelehrte Sachen unterhielten, und da durch immer begieriger wurden, ihren Fleis auf die wich tigsten Sachen zu wenden. Er nahm sich nicht nur der jenigen Studirenden an, die seiner Aufsicht unmittelbar anvertrauet waren; sondern er bemühete sich auch, den übrigen in allen Facultäten, so oft sich Gelegenheit fand, nützlich zu seyn. Besonders suchte er denjenigen, welche sich der Gottesgelahrheit widmeten, Dienste zu leisten, und unter andern wichtigen Unterweisungen, ihnen richtige Begriffe von dem vornehmsten Gegenstand der geistlichen Redekunst beyzubringen. Tiefsinnige Betrachtungen über streitige Fragen sowohl aus der Theologie, als aus
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Vorrede. 33 der Philosophie, schienen ihm, wenigstens bey den or dentlichen Gelegenheiten, keine Materien zu seyn, die sich für die Kanzel schickten. Er hielt besonders dafür, daß man keinen Nutzen zu hoffen hätte, wenn man auf der Kanzel die dahin nicht gehörigen speculativischen Fragen abhandeln wollte, z. E. ob die menschliche Natur unei gennütziger Neigungen fähig sey? ob der Ursprung der Pflicht oder der sittlichen Verbindlichkeit aus dem natür lichen Bewustseyn, oder aus dem moralischen Gefühl; aus dem Gesetz, oder aus der vernünftigen Betrachtung des Eigennutzes, herzuleiten sey? und andre solche Unter suchungen. Ob gleich solche Fragen in der Schule der Weltweisheit * untersucht werden können und müssen; so gehörten sie doch, seiner Meinung nach, nicht in das Gebiet des Predigers, dessen Amt nicht ist, die Grund triebe der menschlichen Seele zu erklären, sondern sich an dieselben zu wenden, und sie in Bewegung zu setzen. 3
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34 Vorrede. Was überdieses die philosophischen Fragen wegen der sittli chen Verbindlichkeit anbetrift: so kommen die verschiedenen Arten sie zu erklären, darinnen vollkommen überein, daß sie die Ausübung tugendhafter Handlungen nothwendig machen, welche eben der vornehmste Gegenstand ist, womit der hei lige Redner sich beschäftigen soll. Der allgemeine Plan zu predigen, welchen er anpries, bestand in folgenden: Da die Menschen kraftlose, unwissende, schuldige Geschöpfe sind, die ihre eigene Glückseligkeit nicht befördern kön nen, und jeden Augenblick unvermeidlichen Uebeln aus gesetzt sind: so müssen sie aufgefordert werden, sich für solche zu erkennen, und die Lehren der natürlichen und ge offenbarten Religion, welche für diejenigen Trost enthalten, die sich in dieser demüthigenden Gestalt sehen, müssen denselben in das höchste Licht gesetzet werden. Da sie der Gefahr unterworfen sind, durch eigennützige und sinnliche Leidenschaften, von ihrer Pflicht und Glückse
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Vorrede. 35 ligkeit hinweggelockt zu werden: so sind ihnen die schreck lichen Lehren der Religion, welche sie in Furcht setzen und ihren unordentlichen Leidenschaften Einhalt thun können; und hingegen angenehmere, welche sie zur Ausübung rei ner Sitten, und zur Rechtschaffenheit und Menschenliebe ermuntern können; in ihrer ganzen Stärke vor Augen zu legen. Und da sie geneigt sind, bey der allgemeinen Er käntnis ihrer Pflichten stehen zu bleiben, ohne dieselbe zu der Einrichtung ihrer Herzen und ihres Lebens anzuwen den; so mus der heilige Lehrer sich nicht zu sehr bey allge meinen Sätzen, dergleichen die Schönheit, Vortreflich keit und Billigkeit der göttlichen Gesetze sind, aufhalten, sondern sich besonders bemühen, sie zu unterrichten, wie sie sich in allen Verfassungen und Ständen des Lebens, selbst bey den geringsten und gewöhnlichsten Geschäften desselben, zu verhalten haben. Alles dieses mus, ohne einen mühsamen Schwung des Ausdrucks, auf die deut liche und ungekünstelte Art vorgetragen werden, welche das Herz rührt, und in das Gewissen und in das unmit telbare Gefühl eines jeden eindringt. Zu allem diesen ist noch hinzuzufügen, daß er auch ausserhalb seines Lehramts, in allen andern Betrachtungen, ein brauchbares Mitglied der Universität war, weil seine grossen Talente und sein unermüdeter Eifer ihn geschickt und willig machten, die bürgerlichen Vortheile derselben eben so sehr, als die Gelehrsamkeit, zu befördern. So war das Leben dieses würdigen Mannes, welches er in einem unaufhörlichen, aber ihm nicht beschwerlichen Fleisse, in der beständigen Bemühung, nach allen seinen Kräf ten Gutes zu thun, und Wahrheit, Tugend und Religion un ter den Menschen auszubreiten, zugebracht hat. Kurz, er be sas ungemeine Vorzüge und ungemeine Tugenden, und hatte
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36 Vorrede. nur geringe Fehler, die von seinen guten Eigenschaften her rühreten. Wenn er zuweilen sich zusehr erhitzte: so war die ses seinem lebhaften Geist und seinem feinen Gefühl zuzu schreiben. Wenn sein Unwillen heftig war: so war er blos durch die Niederträchtigkeit und Bosheit, die sein Herz so sehr verabscheuete, erregt worden. War er zu einer Zeit offenher zig, da es besser gewesen wäre, zurückhaltend zu seyn: so war sein redliches und aufrichtiges Herz daran schuld, das keiner Verstellung fähig war. Einigen misfiel seine edle Freymü thigkeit, andere waren auf seinen Ruhm eifersüchtig; ei nige verläumdeten ihn aus Vorurtheil, andere aus Heuche ley; aber sein Verstand, sein Geist und seine Verdienste wer den noch erhoben werden, wenn die Urtheile, die man zu sei nem Nachtheil fällte, längst vergessen sind. Eine gute Leibesbeschaffenheit, und eine beständige Ge sundheit, die, ausser einigen schwachen Anfällen vom Poda gra, niemals, als einige Monate vor seinem Tode, unterbro chen worden war, schienen der Welt noch länger den Genus eines so schätzbaren Lebens zu versprechen. Aber es gefiel der allweisen Vorsicht, ihn, nachdem er sich wenig Monate nicht wohl befunden, und einige Tage das Fieber gehabt hatte, in dem drey und funfzigsten Jahre seines Alters, und im scchs<sechs> zehnten seines Aufenthalts in Glasgow, abzufordern. Er wurde von allen Freunden der Gelehrsamkeit und Tugend, be klagt, und sein Tod war für die Gesellschaft, von welcher er ein so vortrefliches Mitglied gewesen war, für alle seine Anver wandten und Freunde, ein unwiederbringlicher Verlust. Er hatte sich, bald nach seiner Niederlassung in Dublin, mit Maria Wilson, einer Tochter Franz Wilsons, Esq; ver heirathet, welcher in der Grafschaft Langford Güter besas, und sich als Hauptmann in dem Dienst des Königs William, un sterblichen Andenkens, bey den damaligen Staatsveränderun
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Vorrede. 37 gen hervorgethan hatte. Er zeigte bey seiner Verbindung die Uneigennützigkeit und Grosmuth, die alle andere Handlun gen seines Lebens begleitete. Er hatte einen Abscheu vor dem Gebrauch die Heirath für eine Art von Kauf und Verkauf an zusehen. Er wurde blos durch den guten Verstand, die liebens würdigen Eigenschaften und vollkommenen Tugenden seiner Gattin gerührt; und die ununterbrochne Glückseligkeit ih res Ehestandes rechtfertigte seine weise und tugendhafte Wahl. Er hat einen Sohn, Franz Hutcheson, Doctor der Arzney kunst, hinterlassen, welcher frühe Proben seines fähigen Gei stes abgeleget hat, und der Herausgeber dieses Werks ist. Wenn jemand wünschen sollte, etwas von Hutchesons äusser licher Gestalt zu wissen: so darf man nur sagen, daß sie ein Bild seiner Seele war. Eine mittlere Länge, ein ungezwun genes und freyes, aber anständiges und männliches Betra gen, gab ihm ein edles Ansehen. Seine Gesichtsfarbe war schön und roth, und seine Züge waren regelmäsig. Seine Mi ne und sein Blick verriethen Verstand, Geist und ein gütiges und heiteres Herz. Man wurde von seiner ganzen Person, gleich beym ersten Anblick, zu seinem Vortheil eingenommen. Es ist noch zu gedenken, daß man bey allem, was von der Philosophie des Verfassers, gesagt worden ist, blos die Absicht gehabt hat, die Meinungen desselben vorzutragen, und daß der Verfertiger dieses Lebens, seine eigenen Gedanken dabey ganz bey Seite gesetzt hat. Der Verfasser war ein Freund der Wahrheit und der Freyheit zu denken, und er ver langte nicht, daß jemand seine Meinungen annehmen sollte, wenn er sich nicht überzeugt sähe, daß sie auf sichern Gründen ruheten. Die Absicht, die Gottesfurcht, die Tugend und das Beste der Menschen zu befördern, ist in dem ganzen Werke so offenbar, daß man hoffen darf, der gröste Theil desselben wer de den Beyfall aller unpartheyischer und gutgesinnter Leser er
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38 Vorrede. halten, so sehr auch der Verfertiger dieser Nachrichten, oder andre Leute, in besondern Meinungen, oder in der Entschei dung besondrer Fragen, von dem Verfasser abgehen möchten. Einige gütige Richter werden, und vielleicht nicht ohne Grund, den Ausspruch thun, daß von dem Character Hutche sons, als Schriftsteller betrachtet, viel zu wenig gesagt wor den. Sie werden sagen, „man habe von ihm nur erwähnt, daß er die menschliche Seele, als ein moralisches Ganzes, untersuchet, und darinnen eine Reihe von Neigungen, wel che sich alle auf das Beste anderer, als den letzten Endzweck, beziehen, und ein moralisches Gefühl, welches uns gewisse Neigungen und Handlungen für gut, und die entgegenge setzten für böse erkennen lässt, wahrgenommen habe. Dieses alles aber habe er mit allen Philosophen gemein, die mit ihm uneigennützige Neigungen in der menschlichen Na tur zugeben. Er verdiene hingegen, in Ansehung der mei sten und vornehmsten Artikel, die sich auf die Känt nis der menschlichen Natur und der Sittlichkeit beziehen, der Welt als ein Original vorgestellt zu werden. Denn obgleich alle Anhänger der grosmüthigen Philosophie, in unsrer Natur gewisse Neigungen annehmen, welche die Glückseligkeit anderer zum letzten Gegenstand ha ben: so wird und mus doch alsdenn, wenn die handelnde Person sich nach den wichtigsten Regeln des menschlichen Verhaltens umsieht, und die Fragen aufwirft: warum soll ich dieses gegenwärtige Verlangen befriedigen? oder warum soll ich mich ihm, zum Vortheil eines andern, widerse tzen? von Hutcheson eine ganz andre Antwort erfolgen, als die übrigen Philosophen bisher gegeben haben. Nach diesen letztern ist die handelnde Person der Betrachtung ihrer per sönlichen Glückseligkeit, welche aus der Herrschaft der tu gendhaften Neigungen entspringt, überlassen, und durch die
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Vorrede. 39 selbe wird ihre Wahl bestimmt; denn diese Philosophen neh men für ausgemacht an, daß das ruhige und überlegte Be streben der handelnden Person, nur einen letzten Zweck ha ben könne, nämlich ihren eigenen höchsten Vortheil, oder ih re persönliche Glückseligkeit. Hutchesons Lehre ist von ei nem ganz andern Inhalt. Vermöge derselben giebt es drey ruhige Bestimmungsgründe in unserer Natur, nämlich, das ruhige Verlangen nach unserer eigenen Glückseligkeit; das ruhige Verlangen nach der Glückseligkeit anderer Wesen, und das ruhige Verlangen nach der sittlichen Vollkommen heit. Jeder von diesen Bestimmungsgründen ist als ein letzter Zweck anzusehen. Zwischen dem zweyten und dritten kan schwerlich ein Widerspruch entstehen; aber zwischen dem ersten und den übrigen beyden kan oft, wenig stens ein scheinbarer Streit, vorfallen, und in allen diesen Fällen ist es so fern, daß unsere Natur darauf eingerichtet seyn sollte, dem Verlangen nach unsrer eignen Glückseligkeit, zum Nachtheil der andern Bewegungsgründe, nachzugeben, daß vielmehr das moralische Gefühl allemal der handelnden Person gebietet, einem jeden von den letzten Bestimmungs gründen den erstern willig aufzuopfern. Alles dieses sind Sachen, welche auf die Erfahrung ankommen, und ein je der mus hiervon, nach sich selbst, urtheilen. Nichts ist so sehr streitig, als ob das Verlangen nach der sittlichen Vollkom menheit, oder das Verlangen nach der eignen Glückseligkeit für den höchsten Bestimmungsgrund angesehen werden müsse, der mit der gegenwärtigen Beschaffenheit unsrer Na tur übereinkommt. Vor unserm Verfasser ist niemals ein Philosoph darauf gefallen, eine solche Vorstellung von un srer Natur zu machen, daß der Trieb nach der sittlichen Vor treflichkeit dafür angesehen werden müsse. Die Natur hat die Eintracht zwischen den letztern beyden der drey höchsten“
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40 Vorrede. „Bestimmuugsgründe<Bestimmungsgründe> der menschlichen Seele gestiftet; aber die Religion allein kan, nach unserm Verfasser, alle drey in eine unveränderliche Harmonie bringen, und alle Mishel ligkeit unter ihnen verhüten. Man mus gestehen, daß Hutcheson diese Lehre vollstän diger und gründlicher vorgetragen hat, als irgend einer von den alten und neuen Weltweisen. Aber, daß keiner von ihnen jemals darauf gefallen sey, kan ohne eine weitläuftige und sehr genaue Prüfung ihrer Werke nicht mit Gewisheit be hauptet werden, ungeachtet es vielleicht wahr seyn kan. Unser Verfasser hat niemals auf den Ruhm neuer Entdeckungen Anspruch gemacht, sondern ihn vielmehr verbeten. Man kan dieses seiner ungemeinen Bescheidenheit zuschreiben; und viel leicht rührt es von eben dieser liebenswürdigen Tugend her, daß er die Sittenlehre mehr in der schlechten Gestalt bloser Er fahrungen, als in der prächtigen Tracht einer tiefsinnigen Wissenschaft ansahe; und daß er sich mehr bemühete, seine Leh ren in den vornehmsten Stücken mit den Grundsätzen andrer guter Moralisten in Verwandschaft zu bringen, als sie von denselben zu trennen. Seine Absicht war also, zu zeigen, daß wenn man die grosmüthigen Neigungen und das morali sche Gefühl zugleich in der menschlichen Natur annimmt, die Lehre von der ewigen Uebereinstimmung und Mishelligkeit der Dinge und von der Unveränderlichkeit der moralischen Wahrheiten, richtig und gründlich wird. Aber es ist Zeit, dem Leser die Durchlesung des Werks und die Beurtheilung der Lehren des Verfassers, zu überlassen, welche er bey einer ge nauen Prüfung sehr wohl gegründet finden wird. Auf der Universität zu Glasgow, den 24 December 1754.
W. Leechmann, Doctor und Professor der Gottesgelahrheit.
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Der erste Abschnitt, Von der Beschaffenheit der menschlichen Natur, und ihren Kräften, vornehmlich von dem Verstande, dem Willen und den Leidenschaften.

I.Die Absicht der philosophischen Sittenlehre(Was die philosophi sche Sitten lehre sey.) ist, die Menschen zur Ausübung derjenigen Handlungen zu gewöhnen, welche ihre gröste Glück seligkeit und Vollkommenheit am sichersten beför dern können; in so weit dieses durch Wahrnehmun gen und Folgerungen, die aus der Beschaffenheit der Natur hergeleitet werden, ohne Hülfe einer über natürlichen Offenbarung geschehen kan. Diese Grundregeln, oder Vorschriften des Verhaltens werden dahero für Gesetze der Natur angesehen, und das System oder die Sammlung derselben wird das Gesetz der Natur genennet. Die menschliche Glückseligkeit, welche der(Die Känt nis der menschlichen Kräfte ist darinnen nöthig.) Endzweck dieser Wissenschaft ist, kan nicht deut lich eingesehen werden, wenn man sich nicht zuvor mit der Beschaffenheit der menschlichen Natur, und allen ihren empfindenden und handelnden Kräften,
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(Erstes Buch.) 42 Von der Beschaffenheit und mit den natürlichen Gegenständen derselben be kant gemacht hat. Denn die Glückseligkeit ist derjenige Zustand der Seele, worein sie durch ihre verschiedenen angenehmen Empfindungen oder Veränderungen versetzt wird. Man verfährt also in dieser Wissenschaft am natürlichsten, wenn man die verschiedenen empfindenden und handelnden Kräfte oder Fähigkeiten der Menschen nebst den verschiedenen natürlichen Bestimmungen derselben, und den Gegenständen, von welchen ihre Glückse ligkeit entsteht, zuförderst untersucht; alsdenn aber die verschiedenen Vergnügungen, deren sie fähig sind, mit einander vergleicht, damit wir entdecken können, worinnen die höchste Glückseligkeit und Vollkommenheit bestehe, und wie das ganze Ver halten beschaffen seyn müsse, durch welches dieselbe erlangt werden kan. Bey dieser Untersuchung darf man dasjenige, was zwar, zur Natur unsers Körpers oder unsrer Seele, gehört, aber in der Sittenlehre keinen grossen Nutzen schaft, nur kurz berühren. Wir werden unnöthige Streitigkeiten vermeiden, und wegen desjenigen, was andre Schriftsteller bereits gut er klärt haben, uns auf sie beziehen. Wir werden dahero viel sinnreiche anatomische Betrachtungen über die Vorzüge, welche der menschliche Körper vor dem Körper andrer beseelter Geschöpfe hat, übergehen. Der Leser wird dieselben bey anato mischen Schriftstellern, und beym Docter Cum berland finden.
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der menschl. Natur und ihren Kräften. 43 (Erster Abschnitt.) II. Wenn ihr den Menschen, von seiner Ge burt an, betrachtet: so seht ihr ein Geschöpf, das(Schwach beiten<Schwachheiten> der Menschen von ihrer Kindheit an.) schwächer, und weniger, als alle andere, fähig ist, ohne Hülfe eines Erwachsenen, sich zu erhalten; und das auch länger, als alle andre, in diesem Stande des Unvermögens bleibt. Alle andre be seelte Geschöpfe gelangen schon in wenigen Mona ten zu ihrer vollen Lebhaftigkeit, und zu dem voll kommenen Gebrauch ihrer Kräfte; wenige haben mehr, als vier oder fünf Jahre, zu ihrer völligen Reife nöthig. Zehen bis zwölf Jahre brauchen die Menschen, ehe sie sich durch ihre eigene Kunst und Arbeit erhalten können, selbst in den gesitte testen Gesellschaften, und in den Weltgegenden, de ren Bewohner sich von der Aehnlichkeit mit den wil den Thieren am weitesten entfernt haben. Andere beseelte Geschöpfe kommen bekleidet und bewafnet aus der Hand der Natur; sie haben alles, was zu ihrer Vertheidigung und Erhaltung gehört, ohne daß ihres gleichen nöthig hätten, sich darum im mindesten zu bemühen. Die unbebauete Erde giebt ihnen ihre Nahrung; Wälder und Felsen dienen ihnen zu Wohnungen. Die Menschen sind unbe kleidet und unbewafnet. Jhre zuträglichste und angenehmste Nahrung ist seltner, und erfordert Mühe und Arbeit. Jhre Körper sind nicht im Stande, den Unbequemlichkeiten der Witterung zu widerstehen, wenn nicht für ihre Kleider und Wohnungen mühsam gesorgt wird. In ihren zar ten Jahren hängt also ihre Erhaltung von der Sorgfalt der Erwachsenen ab; und ihr ganzes Le ben würde elend seyn, wenn sie sich in Wüsteneyen
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(Erstes Buch.) 44 Von der Beschaffenheit befänden, und des Beystands ihrer Mitbrüder sich beraubt sähen. (Die Ab sichten der selben.) Man mus dieses für keine unbillige Grau samkeit des Urhebers der Natur gegen die Men schen ansehen. Wir werden bald das Gegenmittel wider diese langwierige Schwachheit unsrer jün gern Jahre in der zärtlichen Zuneigung der Aeltern zubereitet finden; wir werden die Endursachen der selben in den verschiedenen Verbesserungen wahr nehmen, deren wir fähig sind. Die Mittel unse rer Erhaltung erfordern viel Mühe und Geschick lichkeit: wir sind verschiedener edler Vergnügungen fähig, die andern beseelten Geschöpfen unbekant sind, und in den nützlichen und angenehmen Kün sten ihren Grund haben, welche wir, ohne eine lange Erziehung, ohne vielen Unterricht, und ohne die Nachahmung anderer, nicht erlernen können. Wie viel Zeit haben wir nöthig, unsre Mutter sprache zu lernen? Wie viel Geschicklichkeit wird selbst zu den gemeinsten Künsten des Ackerbaues, oder anderer zur Wirthschaft gehörigen Verrichtun gen, erfordert? Ein Körper, mit voller Stär ke ausgerüstet, ohne eine Seele, die weder Künste noch Wissenschaften, noch gemeinnützige Fähigkeiten besässe, würde uns unbändig und un biegsam machen. Wir würden unsern Aeltern und Lehrmeistern eine Last seyn. Da wir also nö thig haben, unterwürfig zu bleiben: so haben wir nicht so zeitig die Kräfte haben sollen, uns von die sem nothwendigen und liebreichen Joche losmachen zu können.
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der menschl. Natur und ihren Kräften. 45 (Erster Abschnitt.) III. Die natürlichen Triebfedern, welche sich zuerst entdecken, sind unsre äusserlichen Sinne,(Kräfte, welche sich zuerst äus sern.) nebst einigen geringen Kräften, uns selbst zu bewe gen, einer Begierde nach Nahrung, und einem an gebohrnen Trieb, sie zu uns zunehmen. Alle diese Kräfte äussern sich für uns auf eine zu dunkle Art, als daß wir sie vollkommen verstehen könten: noch viel weniger wissen die Thiere, daß sie von ihnen zu den Brüsten ihrer Mütter geführt werden, oder daß eine besondere Bewegung der Luft nöthig ist, wenn sie säugen wollen. Wir handeln anfänglich alle auf gleiche Art nach angebohrnen Trieben, die uns eine höhere Hand weislich eingepflanzt hat. Unsre äusserlichen Sinne bringen bald Vor stellungen des Vergnügens oder des Schmerzens in unsre Seele: und mit diesen Vorstellungen entdeckt sich zugleich unmittelbar eine natürliche immerwäh rende Neigung, jenes zu wünschen, und diesen zu verabscheuen; nach allem zu trachten, was die Ur sache oder die Gelegenheit des Vergnügens seyn kan, und hingegen die Ursachen des Schmerzens sorgfältig zu vermeiden. Dieses sind wahrschein licher Weise unsre ersten Begriffe von natürlichem Guten und Uebel, von Glückseligkeit und Elend. Die äusserlichen Sinne sind diejenige Einrich(Der eigent liche Begrif der sinnli chen Empfin dung.) tung unserer Natur, vermittelst welcher alle mal gewisse Vorstellungen in der Seele ent stehen, so oft die Gliedmassen des Körpers ent weder gewisse Eindrücke empfangen, oder in gewisse Bewegungen gesetztwerden. Ei nige von diesen Vorstellungen erhalten wir blos durch
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(Erstes Buch.) 46 Von der Beschaffenheit einen Sinn, andre durch zween oder mehrere. Untern die erstern gehören diese fünf Arten, näm lich, Farben, Töne, Geschmack, Geruch, Kälte oder Hitze; einige scharfsinnige Schriftsteller zäh len ihrer mehr. Wir können diese die eigentlichen Begriffe der sinnlichen Empfindung nennen. Die Gelehrten sind darinnen einig, daß diese sinnlichen Empfindungen weder in Abbildungen oder Vorstellungen der äusserlichen Eigenschaften in den Gegenständen, noch in den Eindrücken oder Veränderungen, welche die Gliedmassen des Kör pers empfangen, bestehen. Sie sind entweder Zeichen, welche uns neue Vorfallenheiten in un serm Körper, wovon uns die Erfahrung und Beobachtung die Ursachen entdeckt, ankündigen; oder sie sind Merkmale, die der Urheber der Natur angegeben hat, uns zu unterrichten, welche Dinge nützlich und unschädlich, oder schädlich sind; oder sie sind Anzeigen der Dinge, welche wir aus serdem nicht unterscheiden würden, und die gleich wohl in unsern Zustand einen Einflus haben. Doch alle diese Merkmale oder Zeichen können zu der Abbildung dessen, was sich ausser uns befin det, eben so wenig beytragen, als der Knall eines Geschützes, oder die Entzündung des Pulvers das Unglück eines Schiffs abbildet. Die angenehmen sinnlichen Empfindungen des Geschmacks, Ge ruchs, und Gefühls, entstehen von unschädlichen oder nützlichen Gegenständen, wenn sie mit der ge hörigen Mässigung gebraucht werden: die unange nehmen oder schmerzhaften Empfindungen hinge
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der menschl. Natur und ihrer Kräften. 47(Erster Abschnitt) gen von solchen, welche schädlich sind, oder keinen Nutzen haben. Durch das Gesicht und Gehör scheint der Schmerz keinen unmittelbaren Zugang zu uns zu finden; kaum ist eine sichtbare Gestalt oder ein Ton eine unmittelbare Gelegenheit dazu; obgleich die gewaltsame Bewegung des Lichts oder der Luft, eine schmerzhafte Empfindung hervorbrin gen kan. Und doch empfängt die Seele das un schätzbare Vergnügen über Schönheit und Har monie, und die Begriffe von Grösse, Figur, Lage und Bewegung, durch Hülfe des Gesichts und Ge hörs. Nicht durch diese beyden letztern, sondern durch die ersten drey, wird in uns das Vergnügen hervorgebracht, das man sinnlich nennt. Die Begriffe, welche wir durch zween oder(Begleiten de Begriffe der sinnli chen Em pfindung.) mehrere Sinne erhalten, sind Dauer, Anzahl, Ausdehnung, Figur, Bewegung, Ruhe. Dauer und Anzahl haben in jeder Vorstellung oder Hand lung in der Seele statt, sie mag von den Glied massen des Körpers abhängen oder nicht. Die ein fachen Begriffe in dieser Classe, welche einige die begleitenden Begriffe der sinnlichen Empfindung nennen, sind nicht ohne Ausnahme entweder ange nehm oder schmerzhaft. Wir finden, an der Ver einigung verschiedener Arten von Figuren und Be wegungen, Vergnügen. In den Verhältnissen der Figur mit der Farbe, liegt Schönheit, und in den Verhältnissen der Zeit und der Töne, ist Harmonie. Die Verhältnisse der Zahlen und Figuren sind das Feld, auf welchem wir die Kräfte unsrer Vernunft am freyesten und uneingeschränktesten beschäftigen können. Hiervon hernachmals.
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(Erstes Buch.) 48 Von der Beschaffenheit IV. Es giebt eine andere natürliche Kraft der (Begriffe vom Be wustseyn und Nach denken.) Vorstellung, die zwar immer angewendet, aber nicht genug überdacht wird, eine innerliche Em pfindung, Wahrnehmung oder ein Bewustseyn al ler Handlungen, Leidenschaften und Veränderungen der Seele, wodurch ihre eigenen Vorstellungen, Urtheile, Schlüsse, Neigungen und Empfindungen, die Gegenstände ihrer Betrachtung werden können. Sie kennt sie, und weis ihre Benennungen; und also kennt sie auf eben die Art, wie sie Körper kennt, sich selbst, durch unmittelbar empfundene Eigenschaften, ungeachtet das Wesen beyder unbe kant ist. (Urtheile und Schlüsse) Diese beyden Vorstellungskräfte, die sinnli che Empfindung und das Bewustseyn, brin gen der Seele die Gegenstände ihrer Erkäntnis zu. Alle unsre ersten und unmittelbaren Begriffe ent springen aus einer von diesen zwo Quellen. Aber die Seele bleibt nicht bey der blossen Vorstellung der Dinge stehen. Sie vergleicht die erhaltenen Begriffe, unterscheidet ihre Beziehungen, bemerkt die Verändrungen, welche in den Gegenständen ih rer Betrachtung durch Handlungen, die wir selbst oder andere unternehmen, veranlasst werden; sie untersucht die Natur, die Verhältnisse, die Ursa chen und Wirkungen, die vorhergehenden und nach folgenden Umstände eines jeden Dinges, wenn sie nicht durch ungestüme Begierden daran verhindert wird. Diese Kräfte zu urtheilen und zu schliessen, sind bekanter, und von allen Philosophen besser untersucht worden, als irgend eine andre; dahero
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der menschl. Natur und ihren Kräften. 49(Erster Abschnitt.) wir sie übergehen. Alle diese verschiedenen Kräfte der äusserlichen Empfindung, des Bewusstseyns, des Urtheilens und des Schliessens werden gemeinig lich die Wirkungen des Verstands genennt. V. Ob es gleich noch einige andere Arten(Die Wir kungen des Willens.) von feinern Empfindungen giebt, die den Men schen natürlich zu seyn scheinen: so haben doch ei nige davon die Wirkungen des Willens, die Nei gungen und Leidenschaften zum Gegenstand. Es ist dahero nöthig, den Willen und seine natürlichen Bestimmungen zuförderst ein wenig zu betrachten, ehe wir uns zu diesen feinern Erfindungen wenden. Es ist klar, daß, sobald als ein Begrif, ein Urtheil oder ein Schlus, uns einen Gegenstand oder eine Begebenheit als unmittelbar gut oder an genehm, oder als das Mittel eines künftigen Ver gnügens oder der Sicherheit vor dem Uebel, ent weder in Absicht auf uns selbst, oder auf eine Person, die uns lieb ist, vorstellt; daß als denn unmittelbar ei ne neue Bewegung der Seele entsteht, die von den Wirkungen des Verstandes unterschieden ist, näm lich ein Verlangen nach diesem Gegenstand oder dieser Begebenheit. Sobald wir aber wahrneh men oder dafür halten, daß ein Gegenstand oder eine Begebenheit die Gelegenheit zu Schmerz oder Elend, oder zu dem Verlust eines Gutes, sey; so bald entsteht die entgegengesetzte Bewegung, welche Abscheu genennt wird. In allen diesen Fäl len entstehen die ersten Bewegungen des Willens von Natur, ohne daß eine Wahl oder ein Ge heis vorhergeht, und sie sind die allgemeinen
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(Erstes Buch.) 50 Von der Beschaffenheit Quellen der Handlungen eines jeden vernünftigen Wesens. (Vier all gemeine Classen der Wirkungen des Willens.) Zu dem Willen werden genteiniglichgemeiniglich zwo an dre Gemüthsbewegungen gerechnet, welche, von un sern Vorstellungen der Gegenstände oder Bege benheiten, herrühren, in sofern sie, unserm Ver langen gemäs, erhalten, oder nicht erhalten wer ten; oder in sofern sie, unserm Abscheu ge mäs, entfernt und verhütet werden, oder nicht. Sie werden Freude und Traurigkeit genennet. Aber da dieselben die Seele nicht unmittelbar in Bewegung setzen: so scheinen sie eher neue Empfindungen der Seele, als Wirkungen des Willens zu seyn. Dem ungeachtet werden diese Worte oft ohne Unterschied gebraucht, wie es bey vielen andern Benennungen der Handlungen und Leidenschaften gewöhnlich ist. Wie man also durch Vergnügen oder Freude das Verlangen nach einer Begebenheit, die, wenn sie sich zuträgt, uns erfreuen wird, auszudrücken pflegt: also wird Traurigkeit an statt Furcht oder Abscheu ge braucht. Wir haben dahero die alte * Eintheilung der Bewegungen des Willens, in Verlangen, Ab 4
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der menschl. Natur und ihren Kräften. 51(Erster Abschnitt) scheu, Freude und Traurigkeit angenommen. Wir können uns auch schwerlich einen Geist vorstellen, der nicht diese Veränderungen und Bewegungen des Willens auf eine oder andere Art hätte. Da die Gottheit alle Macht und alle Vollkommenheit besitzt: so mus sie freylich aller Bewegungen, die einen Schmerz einschliessen, unfähig seyn. Die Wirkungen des Willens können wie(Eigennü tzige und ge meinnützige Wirkungen des Willens) derum in zwo Classen getheilet werden. Einige sind auf die Erlangung des Guten und Abwendung des Gegentheils, in Absicht auf unsern eigenen Vortheil; einige aber sind auf die Erlangung des Guten in Absicht auf andere; und auf die Abwendung der Uebel, die ihnen drohen, ge richtet. Die erstern wollen wir eigennützig oder auf uns selbst gerichtet, die andern aber gemein nützig oder auf andere gerichtet, nennen. Man mag mit so tiefer Gründlichkeit, als man will, zu behaupten suchen, daß alle Bewegungen des Willens aus einer Quelle entspringen: so kan doch niemand läugnen, daß wir oft ein inneres wahres und unverstelltes Verlangen, nach der Wohlfart anderer, in sehr verschiedenen Graden, in uns wahrnehmen. VI. Es giebt zwo ruhige natürliche Bestim(Die zwo ruhigen Be stimmungen des Willens. Selbstliebe) mungen des Willens, welche bey dieser Gele genheit besonders betrachtet werden müssen. Erstlich ein unveränderlicher und immerwährender Trieb nach unserer eigenen höchsten Vollkommen heit und Glückseligkeit. Dieser natürliche Trieb wirkt in dem ganzen Geschlechte der Menschen. Da sie über ihre eigene Beschaffenheit und über ihre Kräfte, zu handeln und zu empfinden, nicht nach
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(Erstes Buch.) 52 Von der Beschaffenheit denken, noch darauf merken: so haben wenige die verschiedenen angenehmen Empfindungen, deren sie fähig sind, oder die verschiedenen Kräfte zu han deln, betrachtet und verglichen. Wer aber dieses thut, wird ein ruhiges Verlangen nach der Voll kommenheit aller unsrer thätigen Kräfte, und nach den höchsten angenehmen Empfindungen, welche, wie wir bey der Vergleichung finden, den wichtig sten Einflus auf unsre Glückseligkeit haben, in uns wahrnehmen. Diejenigen, welche diese Betrach tungen und Vergleichungen nicht angestellt haben, tragen ein natürliches Verlangen nach solchen Ar ten von angenehmen Empfindungen, wovon sie durch ihre Sinne oder höhere geübte Kräfte einige Begriffe erlangt haben, in sofern dieselben neben einander bestehen, oder zu bestehen scheinen; und begehren die Vollkommenheit solcher Kräfte, die ihre Erwartung erfüllen können. Wenn diese Empfin dungen einander zuwider zu seyn scheinen: so wird die Seele, wenn sie ruhig ist, vor allen andern die jenigen verlangen, welche den wichtigsten Einflus auf ihre Glückseligkeit zu haben scheinen. So weit sind alle einig. (Liebe ge gen andre.) Die andre erwähnte Bestimmung des Wil lens ist auf die allgemeine Glückseligkeit anderer ge richtet. Wenn die Seele ruhig ist, und die Be schaffenheit und Kräfte anderer Wesen, ihre na türlichen Handlungen und Fähigkeiten, glückselig oder elend zu seyn, betrachtet; wenn die eigennü tzigen Triebe, Leidenschaften und Begierden ent schlummert sind: so äussert sich ein ruhiger Trieb der Seele, die grösste Glückseligkeit und Vollkom
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der menschl. Natur und ihren Kräften. 53(Erster Abschnitt.) menheit der ganzen ihr bekanten Welt zu verlan gen. Unser innerliches Bewustseyn ist ein unver werflicher Zeuge, daß ein solcher Trieb, eine solche Bestimmung der Seele in uns ohne alle Bezie hung auf eine Art unsrer eignen Glückseligkeit wirkt. Aber hier findet sich wiederum, daß, weil wenige das ganze System der den Menschen be kanten Wesen untersucht haben, diese Bestimmung des Willens sich nicht immer, und nicht in ihrem ganzen Umfange, äussert; sondern wir finden nur ein natürliches Verlangen nach der Glückseligkeit einer solchen einzelnen Person, solcher Gesellschaften, und solcher Systemen, wider welche bey einer ruhi gen Betrachtung, weder ein Vorurtheil, noch die Vermuthung streitet, daß ihre Glückseligkeit der unsrigen auf einige Art entgegen sey. Da der Begrif unsrer eignen höchsten Glück seligkeit, oder die grösste Summe angenehmer Em pfindungen, nicht bey allen Menschen insgesamt an zutreffen ist: so ist dieselbe auch nicht ihr aus drücklicher Wunsch oder Endzweck. Wir können dahero nicht sagen, daß jedes besonderes ruhiges Verlangen nach eigenem Vortheil die Erreichung dieser Summe zur eigentlichen Absicht habe, und daß nach dem Gegenstand dieses Verlangens, un ter dem Begrif eines nothwendigen Theils dieser Summe, getrachtet werde. Die Menschen ver langen von Natur, selbst bey ruhigen Bewegun gen der Seele, nur nach solchen Gegenständen, welche Nutzen bringen, oder die Vermittler ange nehmer Empfindungen sind, als nach Reichthum, Gewalt, Ehre; ohne daß sie dabey die Gedanke
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(Erstes Buch.) 54 Von der Beschaffenheit haben, dieselben zu einem Theil der grössten Sum me zu machen. Auf gleiche Art haben wir ruhige Neigungen des Wohlwollens gegen einzelne Perso nen, oder kleinere Gesellschaften unsrer Mitbrüder, wobey keine Betrachtung des ganzen grossen Systems vorhergegangen ist, und wobey diese Personen und Gesellschaften nicht als Theile dieses grossen Systems angesehen, noch ihre Glückselig keit, als ein Theil der grössten Summe der allge meinen Glückseligkeit, begehrt worden. Derglei chen sind unsre ruhigen Neigungen des Wohlwol lens gegen Freunde, gegen das Vaterland, gegen Personen von ausserordentlichen Verdiensten, ohne daß wir uns in unsern Gedanken auf das ganze grosse System beziehen. Wir können, wenn wir wollen, alle angenehmen Empfindungen, welche wir, blos um unsertwillen, begehren, zu der gröss ten Summe unsrer eigenen Glückseligkeit schla gen; und wir können auf gleiche Art alle unsre ru higen besondern Neigungen des Wohlwollens gegen andre, zu der allgemeinen Wohlgewogenheit, im weitesten Umfange, bringen. Es ist von wichti gen Folgen, solche grosse Absichten zu haben, und diese Beziehungen zu machen. Doch es ist klar, daß die verschiedenen besondern Neigungen, sie mö gen auf uns selbst oder auf andere gerichtet seyn, ohne unruhige Bewegungen wirken, wenn auch keine solche Beziehungen vorhergegangen sind. (Unruhige auf uns selbst und andre gerichtete Leidenschaf ten.) VII. Doch ausser allen diesen ruhigen Be wegungen des Willens, die von einem kleinern oder grössern Umfang sind, giebt es besondere Lei
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der menschl. Natur und ihren Kräften. 55(Erster Abschnitt.) denschaften und Begierden, welche bey gewissen Gelegenheiten, natürlicher Weise entstehen; deren jede ihre eigene Befriedigung, ohne alle weitere Beziehung, zum letzten Zweck hat; und welche von heftigen, verworrenen und unangenehmen Em pfindungen begleitet werden, die so lange fort dauern, bis der Gegenstand oder die Befriedigung erlangt worden. Einige von diesen unruhigen Leidenschaften und Begierden sind auf uns selbst, einige aber auf andere gerichtet, und einige sind beydes zugleich. Von der ersten Art sind Hun ger, Durst, Wollust, Triebe zum sinnlichen Ver gnügen, Reichthum, Macht oder Ruhm. Von der zweyten Art sind Mitleiden, Glückwünschun gen, Dankbarkeit, eheliche und verwandschaftliche Neigungen, so oft als sie zu heftigen und unruhi gen Bewegungen der Seele werden. Zorn, Neid, Unwillen, können zu beyden Arten gehören, nach dem sie aus der Betrachtung einer Hindernis entweder unsers eigenen Vortheils, oder des Vortheils unsrer Freunde, oder andrer geliebter und hochgeachteter Personen entstehen. Alle diese entstehen bey na türlichen Gelegenheiten, wobey die Seele weder auf die grösste Glückseligkeit ihrer selbst, noch an derer, bedacht ist. Der Unterschied zwischen den ruhigen und unruhigen Bewegungen des Willens, sie mögen auf uns selbst oder auf andere gehen, mus einem jeden in die Augen fallen, welcher in Erwägung zieht, wie oft dieselben einander entgegen han
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(Erstes Buch.) 56 Von der Beschaffenheit deln. * So wird uns Zorn oder Wollust auf ei ne Seite ziehen; und ein ruhiger Blick auf unsern höchsten Vortheil, auf die grösste Summe des eigenen Wohls, oder auf einigen besondern Vor theil, wird uns auf die entgegengesetzte Seite len ken. Zuweilen überwindet die Leidenschaft den ru higen Trieb; und zuweilen ist der letzte Sieger. Das ruhige Verlangen nach Reichthum wird man chen, obgleich nicht ohne Weigerung, zu starken Ausgaben nöthigen, wenn er dadurch zu einem vortheilhaften Handel, oder zu einer einträg lichen Beförderung gelangen kan; unterdessen wird der Geitz über diese Ausgaben unwillig werden. Das stille Verlangen nach unsrer Kinder oder Freunde Tugend, Ehre und Vollkommenheit wird uns veranlassen, sie von uns hinwegzusenden, und Gefahren auszusetzen; dahingegen die väter liche und mütterliche oder freundschaftliche Leiden schaft sich diesem Vorhaben widersetzet. Dankbar keit, Mitleiden und freundschaftliche Liebe, werden uns auf dieser Seite anliegen; auf der andern werden wir von der Liebe des Vaterlandes oder ei ner Zuneigung von grösserm Umfange, angetrieben werden. Wir strafen unsre Kinder, wir schrän ken sie ein, wir halten sie zu mühsamen Lernen und Arbeiten an, aus einer ruhigen Zuneigung; un terdessen daß eine zärtliche Leidenschaft, alles, was ihnen beschwerlich ist, misbilliget. Den Begier den zuwider, welche zur Erhaltung des Lebens, nach 5
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der menschl. Natur und ihren Kräften. 57(Erster Abschnitt.) dem Lauf der Natur, bestimmt sind, beredet uns die Liebe des Lebens zur Enthaltsamkeit, zu schmerz haften Curen, und zu ekelhaften Arzneyen. Gleichwie zu dem Verstand nicht nur die niedern Kräfte der sinnlichen Empfindung, die wir mit den unvernünftigen Thieren gemein haben, son dern auch die Kräfte der Vernunft und des Bewust seyns gehören; also gehörenauch<gehören auch> zu dem Willen nicht nur die körperlichen Begierden und unruhigen Leidenschaften, sondern auch die verschiedenen ruhi gen und weniger eingeschränkten Neigungen einer edlern Art. VIII. Wir schreiben auch dem Willen die(Kräfte der Bewegung.) Kraft zu, uns selbst zu bewegen; weil wir, wenn wir die Bewegung wollen, gewisse Theile des Kör pers so bewegen, wie es unser Wille vorschreibt. Es sind nicht alle Theile desselben so eingerichtet, daß wir sie, nach unserm Gefallen, bewegen kön ten; sondern blos diejenigen, deren Einrichtung auf diese Art für uns nothwendig, und im Leben nützlich ist. Die Bewegungen der innern Theile, von welchen die Dauer des Lebens unmittelbar ab hängt, geschehen ohne alle Wirkungen unsers Willens, und wir können sie durch kein unmittel bares Wollen geschwinder oder langsamer machen. Die Aufsicht über die Bewegungen, welche un aufhörlich nothwendig sind, würde die Seele be ständig beunruhigen, und sie zu allen andern Be schäftigungen unfätzig<unfähig> machen. Es erregt auch nicht jede Bewegung noch jeder Eindruck auf die Theile des Körpers, Empfindungen in der Seele.
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(Erstes Buch) 58 Von der Beschaffenheit Die innern Bewegungen, von welchen das Leben unmittelbar abhängt, empfindet sie nicht, so lange der Körper in guter Ordnung ist. Eine solche Empfindung würde eine beschwerliche und unnütze Zerstreuung der Seele bey allen ihren guten Unter nehmungen seyn; wie bey einer Krankheit zu ge schehen pflegt, wenn wir die Bewegung des Her zens, oder den Pulsschlag fühlen. Die sinnlichen Empfindungen zeigen uns nur solche Veränderun gen, Begebenheiten, oder Gegenstände an, von welchen wir unterrichtet zu seyn nöthig haben. Dahero ist die Bewegung des Haupts, der Augen, des Munds, der Zunge, der Füsse, und des un schäzbarsten und mit der grössten Kunst gebildeten Werkzeugs, der Hand, unserm Willen unterwor fen. Alles dieses sind deutliche Beweise der weisen und gütigen Einrichtung unsers Schöpfers. Un sre Glieder werden unmittelbar durch die Muskeln und durch eine Kraft bewegt, welche das Haupt, vermittelst der Nerven, durch unsern Körper ver breitet. Aber, bey unsern willkührlichen Bewe gungen, wissen wir von dieser Zwischenbewegung eben so wenig, als wir sie wollen. Wir haben die lezte Bewegung zur Absicht; und die andern ge schehen ohne unser Wissen und Willen. Auf glei che Art wird die sinnliche Empfindung, durch eine Bewegung in einer Nerve, die bis zu dem Gehirn fortgehet, hervorgebracht. Wir empfinden keine Bewegung im Gehirn; sondern wir haben eine Empfindung, die sich blos auf den äusserlichen Theil des Körpers, der den Eindruck empfangen hat, be zieht, und die blos diesen Theil einzunehmen scheint;
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der menschl. Natur und ihren Kräften. 59(Zweyter Abschnitt.) wovon wir keine Erklärung angeben können. Die se Betrachtungen haben einige scharfsinnige und fromme Männer auf die Muthmassung gebracht, daß ein höhers Wesen, oder die Gottheit selbst, nach gewissen allgemeinen Gesetzen, die einzige physika lische Ursache aller unsrer Bewegungen, und die einzige Ursache aller unserer sinnlichen Empfindun gen seyn müsse.
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4 * Man sehe die tuscula nischen Fragen des Cicero im dritten und vierten Bu che nach. Virgil sagt: Hinc metuunt, cupiuntque, dolent gaudentque ------ Von den Stoikern, den ge schwornen Feinden der Lei denschaften, wurde selbst der Gottheit die β^%/{ου}λησις und %)ευλάβεια und χαρὰ, im vollkommensten Grade beygelegt. Aber alle diese waren von einer höhern Gattung, als die unruhigen Leidenschaften. Von dieser Eintheilung wird hernach weiter gehandelt.
5 * Dieses hat Plato im neunten Buche von der Re publik und Aristoteles in der Sittenlehre sehr wohl beschrieben.

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