Einführung

Erasmus Francisci: Neu-erbauter Schau-Platz denckwürdiger Geschichte
Urte Helduser

1. Titel
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Neu-erbauter Schau-Platz denckwürdiger Geschichte/ und seltzamer/ mehrentheils trauriger Fälle: Voll leß-würdiger Erzehlungen; und mancherley/ sowol bey jetzigen/ als längstverwichenen Jahren/ begebener Exempeln/ samt deren nutzlich-beygefügten Erinnerungen/ Aus Vielen alten und neuen berühmten Geschichtschreibern zusammen getragen: Durch Christian Minsicht. Nürnberg/ Gedruckt bey Michael Endter. Im Jahr 1663. Nürnberg: Michael Endter, 1663. - Titelblatt (Kupfertafel), 899 pag. S., 8°. [vd17 ↗23:253532C]

2. Verfasser
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Erasmus Francisci (1627-1694) ist einer der ersten Berufsschriftsteller der deutschen Literatur. Als Erasmus von Finx geboren, legt er den Adelstitel ab, um einem bürgerlichen Beruf nachgehen zu können, und nennt sich nach dem Vornamen seines Vaters. Nach einem Jurastudium ist er als Hofmeister tätig, muss diese Stelle jedoch wegen Krankheit aufgeben und nimmt ab 1657 eine Stelle als „Korrektor“ bei dem Nürnberger Verleger Endter an. 1688 wird Francisci Rat beim Grafen Heinrich Friedrich zu Hohenlohe-Langenburg und Gleichen.

Bei seinem Arbeitgeber Endter erscheint auch der Großteil seiner eigenen Publikationen. Francisci wird zu einem der „frühesten vollberuflich tätigen Schriftsteller und Hausautor des wohl damals größten deutschen Verlagsunternehmens“ (Dünnhaupt 1977, S. 361), Verfasser zahlreicher umfangreicher populärer Schriften, teilweise unter verschiedenen Pseudonymen. Das Pseudonym Christian Minsicht verwendet Francisci für mehrere Werke (Will, S. 462) („Monats-Gespräche in 12 Theilen“), er hat es selbst in seinem 1691 erschienen Verzeichniß meiner […] Schriften entschlüsselt (Dünnhaupt 1975, S. 273). Dünnhaupt (1975) hat 127 Drucke nachgewiesen, darunter auch geistliche Literatur und Kirchenlieder. Die wohl bekanntesten und einflussreichsten Werke Franciscis sind Die lustige Schau-Bühne von allerhand Curiositäten (3 Bde, 1663-73) und der Höllische Proteus (1690).

3. Publikation
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3.1. Erstdruck
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Der Neu-erbaute Schau-Platz denckwürdiger Geschichte ist 1663 in Nürnberg im Verlag Michael Endter erschienen. Er ist einer Gruppe Nürnberger Kaufleute gewidmet: „Denen Erbarn, Besten, Großachtbaren und Wolfürnehmen Herren H. Hieronymus Gutthätern. H. Johann Christoph Langen. H. Johann Andreas Matt. H. Georg Christoph Hoen. H. Wilhelm Gräßel. H. Corneli de Prassery. H. Georg Nürnberger. H. Michael Weichmann. H. Johann Winter. H. Georg Winter. Vornehmen Kauffherren/ auch (respective) Beysitzern der weltberühmten Bancho, gemeiner Stadt Münzmeistern/ und ansehnlichen Handels-Leuten/ in Nürnberg: Meinen Großgünstigen Herren/ Hochgeehrten Beförderern/ und wolgeneigten Gönnern.“


Standorte des Erstdrucks

3.2. Weitere Ausgaben
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3.2.1. Mikroform-Ausgabe
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Neu-erbauter Schau-Platz denckwürdiger Geschichte und seltzamer mehrentheils trauriger Fälle [...], zusammen getragen durch Christian Minsicht, Nürnberg: Endtner 1663, New Haven: Research Publications 1969. Yale University Library Collection of German Baroque Literature; reel 174, no.736.

3.2.2. Digitale Ausgabe
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4. Inhalt
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Franciscis Neu-erbauter Schau-Platz denckwürdiger Geschichte stellt eine Mischung aus Historiographie und literarischer Kuriositätensammlung dar. In einhundert Kapiteln werden unterschiedlichste Fallgeschichten zu ‚denckwürdigen‘ Themen aus verschiedensten Quellen zusammengetragen. Das thematische Spektrum reicht von Wunderberichten, Magie und Dämonologie über anthropologische Themen, Geschlechter- und Familienbeziehungen bis hin zu Naturkatastrophen und Ereignissen der politischen Geschichte.

Unter einer thematischen Kapitelüberschrift versammelt Francisci meist mehrere Fallschilderungen aus unterschiedlichen Quellen, die in der Regel unkommentiert wiedergegeben werden. Berichtet wird so etwa über „wunderliche Geburten“ (S. 269), Wunderzeichen am Himmel (S. 19), Fälle ehelicher Liebe und Treue, Eltern-Kind-Verhältnisse, die Veränderung von „Weibes-personen in Manns-personen“ (S. 279) oder über spektakuläre Träume, über Mondsucht, die Wirkung von Flüchen (S. 113) oder der Einbildungskraft (S. 260).

Einen Schwerpunkt bilden Magie und Dämonologie, Gespenstererscheinungen und Wahrsagerei. Berichtet wird in diesem Zusammenhang auch von Phänomenen wie dem „redenden Blut der Entleibten“ (S. 1-8) – der Bloßstellung des Mörders, bei dessen Erscheinen die Leiche seines Opfers zu bluten beginnt oder der Möglichkeit des „Beyschlaffs“ mit dem Teufel (S. 40f.). In dämonologischen Fragen beschränkt Francisci sich nicht auf bloße Fallschilderungen, sondern argumentiert als protestantischer Aufklärer. Der zunächst ‚unvoreingenommenen‘ Fallschilderung folgt hier eine eher beiläufige Entmystifizierung unter Berufung auf das gelehrte Wissen: „Diese Zauberinnen und Hexen geben für daß sie alle Jahr an einem gewissen Ort zusammen kommen. Nun seynd die meisten unter den Gelehrten/ die hiervon durchaus nichts halten wollen/ sondern es alles vor eine teufflische Verblendung achten/ wie es dann auch in Wahrheit nichts anderes ist.“ (S. 60)

Abgesehen hiervon wird der größte Teil der geschilderten Fälle ohne Bewertung referiert: Die Funktion des Neu-erbauten Schau-Platzes denckwürdiger Geschichte besteht in der Kompilation mehrerer thematisch zusammengehöriger Fälle aus unterschiedlichsten Quellen, die Francisci zum Beleg anführt. Zitiert werden Historiker, Mediziner, Naturwissenschaftler und Philosophen wie David Chytraeus, François Valleriola, Antonius de Torquemada, Caspar Peucer, Marsilio Ficino sowie die antike Historiographie und Literatur (Herodot, Homer, Cicero). Zu den Quellen gehören neben medizinischen Darstellungen (Ambroise Paré, Martin Weinreich, François Rousset) auch Chroniken und Reiseberichte. Nicht zuletzt fungieren verschiedene populäre Theatra als Quellen, so etwa Martin Zeilers Übersetzung von François de Rossets Les histoires tragiques de nostre temps, ou sont descrites les morts funestes, déplorables & desastreuses (1614), die seit 1628 unter dem Titel Theatrum Tragicum firmierte, oder Theodor Zwingers d. Ä. Theatrum Vitae Humanae (1587), Jean Bodins Universae naturae theatrum (1596) und Matthaeus Merians Theatrum Europaeum (1633-1738).

Häufig werden historische Ereignisse unter einer thematischen Kapitelüberschrift behandelt oder auch mehrere Ereignisse zu einem thematischen Kapitel zusammengefasst. Meist knüpfen die Kapitel thematisch aneinander an oder zwei aufeinanderfolgende Kapitel sind antithetisch auf einander bezogen: Dem Kapitel über „gehorsame und getreue Kinder“ (S. 123-127) folgt etwa eines über „ungehorsame und undanckbare Kinder“ (S. 127).

Diese antithetische Struktur setzt Francisci auch in der Schilderung von Judenverfolgungen ein. So werden unter der Kapitelüberschrift „Der verfolgte Jud“ zunächst Judenpogrome in England anlässlich der Krönung Richard Löwenherz’ sowie in Frankreich unter Karl IV. geschildert (S. 795-800). Im anschließenden Kapitel „Die jüdischen Christen-Mörder“ werden dann antijudaistische Legenden über Grausamkeiten von Juden gegenüber Christen (eine Kreuzigung am Karfreitag in Prag 1305, S. 800f.) aufgeführt, darunter die auch William Shakespeares Kaufmann von Venedig zugrunde liegende Geschichte eines jüdischen Geldverleihers in Konstantinopel, der Menschenfleisch anstelle von Zinszahlungen gefordert habe. Francisci führt als Quelle Zwingers Theatrum Vitae Humanum, Bd. 12, S. 2740 an (S. 801ff.).

Berichtet wird außerdem über Naturereignisse wie den Ausbruch des Vesuvs (S. 704f.), Erdbeben (S. 691f.) und Heuschreckenplagen (S. 726). Dazu kommen politische Ereignisse wie Kriegsschlachten oder Belagerungen und ihre Begleitumstände: So wird von Kannibalismus aufgrund von (kriegsbedingten) Hungersnöten, etwa bei der Belagerung von Paris durch Heinrich IV. im Jahr 1590 (S. 535f.). Den Abschluss bilden einzelnen historischen Herrscherfiguren gewidmete Kapitel, wie etwa „Edouards Königs von Engelland ruchlos Leben/ und Untergang“ (S. 665), „Von der Hinrichtung des Herzogen Montmorency und des von Biron“ (S. 877) und „Die Execution des Herrn de la Thou, und Markgrafens von Montros.“

5. Kontext und Klassifizierung
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Der Neu-erbaute Schau-Platz denckwürdiger Geschichte erscheint im gleichen Jahr wie der erste Band von Franciscis wohl populärstem Theatrum, der Lustigen Schau-Bühne von allerhand Curiositäten, von dem es sich aber hinsichtlich Aufbau und Inhalt deutlich unterscheidet. Im Gegensatz zu dem als fiktiven Gespräch einer ‚Herrenrunde‘ gestalteten Lustigen Schau-Bühne von allerhand Curiositäten versteht sich der Neu-erbaute Schau-Platz denckwürdiger Geschichte als Form ‚ernster‘ Geschichtsschreibung und widmet sich, wie der Titel ankündigt „mehrenteils traurige[n] Fälle[n]“. Das schließt jedoch nicht aus, dass ähnliche Themen behandelt werden (Dämonologie, Wunderberichte, Herrscherschicksale). Dass neben den ‚traurigen Fällen‘ im Neu-erbauten Schau-Platz denckwürdiger Geschichte auch Unterhaltsames geschildert wird, begründet der Verfasser in der Vorrede mit der notwendigen Aufheiterung des Lesers durch ‚Abwechslung‘: „damit dem geneigten Leser die Veränderung allen Eckel und Verdruß benehme.“ (Vorrede, unpag. [S. 4]) Auch aufgrund dieser Verbindung von Erbauungs- und Unterhaltungsliteratur (Dünnhaupt 1975, S. 273) lässt sich der Neu-erbaute Schau-Platz denckwürdiger Geschichte in das Genre der „literarischen Kuriositätensammlung“ (Ferraris, S. 95) einordnen, wobei ein Schwerpunkt auf der Schilderung historischer Ereignisse liegt. Schon im Titel („denckwürdiger Geschichte“) orientiert sich Francisci hier an einer seiner wichtigsten und bekanntesten Quellen, dem Theatrum Europaeum. Als Vorbilder dürften vor allem Georg Philipp Harsdörffers Grosser Schauplatz Jämerlicher Mordgeschichte (1649-52) und sein Grosser Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte (1651) gedient haben (Kramer, S. 115).

In seiner Vorrede reflektiert Francisci das Genre der Theatra ganz im Sinne der barocken theatrum mundi-Tradition: „Auf Schauplätzen/ da ertichtete Fabeln eingeführt weren; sperret mancher Augen und Ohren auf: wieviel billiger aber schauen und betrachten wir/ mit geflissener Aufmerckung/ was auf dem Spielplatz dieser Welt/ das Glück vor Trauer- oder Freudenspiele angerich[]tet; wie wunderlich es die Personen und Kleider ausgetheilet; wer wol oder ungeschicklich gespielet; zufrolockende Gunst oder Haß und Spott verdienet habe! Sintemal das Papir und die Bücher an ihnen selbsten auch nicht anders weder lauter stumm-redende Schaubühnen sind; darauf/ nach allweisester Fürsehung Gottes/ diejenigen/ so allbereit zu Staub und Aschen worden/ dennoch zu ewigwärendem Lob oder Tadel/ mit ihren Wol- oder Übelthaten wiedrum von neuem auf den Platz geführet/ und der Nachwelt zu einem Spiegel gegeben werden. Zu was Ende aber? nemlich/ daß wir auch sollen spielen lernen/ und auf dem Schauplatz dieses menschlichen Lebens das unsrige dermassen verrichten/ damit wo nicht alle/ doch die letzte Handlung/ Gottes/ der heiligen Engel/ und frommer tugendhaffter Leute Beystimmung erlange.“ (Vorrede, unpag. [S. 5f.]) Auch das Titelkupfer steht mit dem Schriftzug „Respice finem“ in dieser Tradition.

Auch wenn Francisci im Neu-erbauten Schau-Platz denckwürdiger Geschichte viele Themen zum ersten Mal behandelt, die er an anderer Stelle ‚wiederverwertet‘ (vor allem die Gespenstergeschichten im Höllischen Proteus), erreicht der zum Frühwerk des Verfassers zählende Neu-erbaute Schau-Platz denckwürdiger Geschichte nicht die Popularität anderer Werke des Autors.

6. Rezeption
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Im Vergleich zu anderen Werken Franciscis liegen für den Neu-erbauten Schau-Platz denckwürdiger Geschichte weitaus weniger Rezeptionszeugnisse vor. Beispielhaft für die intertextuellen Beziehungen der Kuriositätenliteratur des 17. Jahrhunderts dürften aber die zahlreichen Verweise auf Franciscis Neu-erbauten Schau-Platz denckwürdiger Geschichte in Johannes Praetorius’ nur wenige Jahre später erschienenem Anthropodemus plutonicus (1666-67) sein. Praetorius verweist mehrfach auf Franciscis „historischen Schauplatz“ – gemeint ist der Neu-erbaute Schau-Platz denckwürdiger Geschichte – und zitiert ihn ausführlich (z.B. Franciscis Ausführungen über das „Teuffelische Beyschlaffen“ (Francisci, S. 40ff., Praetorius, S. 214ff.).

7. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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