Einführung

Tomaso Garzoni: Piazza Vniversale
Peter Heßelmann

1. Titel1
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Piazza Vniversale, das ist: ALlgemeiner Schauwplatz/ oder Marckt/ vnd Zusammenkunfft aller Professionen/ Künsten/ Geschäfften/ Händlen/ vnd Handtwercken/ so in der gantzen Welt geübt werden: Deßgleichen Wann/ vnd von wem sie erfunden: Auch welcher massen dieselbige von Tag zu Tag zugenommen: Sampt außführlicher Beschreibung alles dessen/ so darzu gehörig: Beneben der darin vorfallenden Mängel/ Verbesserung/ vnd kurtze Annotation vber jeden Discurs insonderheit. Nicht allein allen Politicis, sondern auch jedermänniglich wes Standts sie seynd/ sehr lustig zu lesen. Erstlich durch Thomam Garzonum auß allerhand Authoribus vnd experimentis Italiänisch zusammen getragen/ vnd wegen seiner sonderlichen Anmühtigkeit zum offternmal in selbiger Sprach außgangen. Nunmehro aber gemeinem Vatterlandt Teutscher Nation zu gut auffs trewlichste in vnsere Muttersprach vbersetzt/ Vnd so wol mit nohtwendigen Marginalien, als vnterschiedlichen Registern geziert. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/ bey Nicolao Hoffman/ in Verlegung Lucæ Iennis. M.DC.XIX. Venedig: Giovanni Battista Somascho, 1585. - Titelseite (Kupfertafel), 16 unpag. Bl., 731 pag. S., 7 unpag. Bl., 2°. [opac ↗243710399] [vd17 ↗12:109736B]

2. Verfasser
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Tomaso Garzoni wurde 1549 in Bagnacavallo, in der Nähe von Ravenna, geboren. Im Alter von vierzehn Jahren ging er zunächst nach Ferrara, dann nach Pisa, um Jura zu studieren. Am 18. Oktober 1566 wurde er Mitglied der „Canonici Lateranensi di Santa Maria in Porto di Ravenna“ und änderte seinen ursprünglichen Vornamen Ottaviano in Tom(m)aso. Den Rest seines Lebens verbrachte Garzoni in seiner Heimat oder in deren unmittelbarer Nähe, vor allem in Ravenna. Er starb in Bagnacavallo am 8. Juni 1589. Über seine Lebensumstände ist so gut wie nichts bekannt. Alle Schriften des gelehrten Kanonikus und Kompilators wurden innerhalb von nur sechs Jahren, zwischen 1583 und 1589, oder postum veröffentlicht. Neben der Piazza Vniversale erschienen folgende, oft mehrfach aufgelegte und übersetzte Publikationen: Il Theatro de’ vari et diversi cervelli mondani. (Venedig 1583; ital. Nachdrucke 1585, 1586, 1588, 1595, 1598; frz. Übersetzung 1586; span. Übersetzung 1600); L’Hospitale de’ pazzi incurabili. (Venedig 1586; 2 weitere Ausgaben 1586; Nachdrucke 1589, 1594, 1599, 1600, 1601; engl. Übersetzung 1600; frz. Übersetzung 1620; dt. Übersetzung 1618; Neudrucke Lanciano 1915, Mailand 1967; Turnhout 2010); Le vite delle donne illustri della Scrittura Sacra. (Venedig 1586; Nachdrucke 1588, 1589); Hugonis de sancto Victore Opera omnia. (Venedig 1588; Nachdruck 1617); La Sinagoga degli ignoranti. (Venedig 1589; Nachdrucke 1589, 1594, 1601, 1605; span. Übersetzung 1600); Il mirabile cornucopia consolatorio. (Bologna 1601); Gli due Garzoni cioè L’Huomo astratto del molto rever. P. D. Tomaso Garzoni Da Bagnacavallo. (Venedig 1604; Nachdruck Ravenna 1989); Opere di Tommaso Garzoni. (Venedig 1617).

3. Publikation
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3.1. Erstdruck
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Der italienische Erstdruck erschien 1585 in Venedig bei Giovanni Battista Somascho mit dem Titel La piazza universale di tutte le professioni del mondo. Der deutsche Erstdruck wurde 1619 in Frankfurt/Main im Verlag von Lucas Jennis veröffentlicht.


Standorte des deutschsprachigen Erstdrucks von 1619

3.2. Weitere Ausgaben
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Nach der italienischen Erstausgabe erschienen 25 Nachdrucke (u.a. 1587, 1589, 1595, 1599, 1601, 1605, 1610, 1612, 1616, 1617, 1626, 1638, 1651, 1665, 1675; lat. Übersetzung 1614 und 1623–1624; span. Übersetzung 1615).

Der deutschen Erstausgabe folgten drei weitere Editionen (Frankfurt/Main: Lucas Jennis 1626, Frankfurt/Main: Matthäus Merian 1641, Frankfurt/Main: Matthäus Merians Erben 1659).

3.2.1. Teilausgaben
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Opere. A cura di Paolo Cherchi. Neapel 1972.

Opere. A cura di Paolo Cherchi. Ravenna 1993 (=Classici italiani minori 18).

Piazza Vniversale. Hrsg. von Karl R. Pawlas. Nürnberg 1962 (Faksimile-Neudruck der Ausgabe Frankfurt/Main 1659).

3.2.2. Neueditionen
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La piazza universale di tutte le professioni del mondo. Venedig [1585]. A cura di Giovanni Battista Bronzini. 2 Bde., Florenz 1996 (=Biblioteca di Lares 49).

La piazza universale di tutte le professioni del mondo. Hg. von Paolo Cherchi und Beatrice Collina. Turin 1996.

La piazza universale di tutte le professioni del mondo. Venedig 1589. Reprogr. Nachdruck Ravenna 1989.

3.2.3. Digitale Ausgaben
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- Digitale Ausgabe des italienischen Erstdrucks von 1585

- Digitale Ausgabe des deutschen Erstdrucks von 1619

- Digitale Ausgabe der Ausgabe von 1641

4. Inhalt
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Die Piazza Vniversale ist eine umfangreiche Enzyklopädie oder – so annonciert es das Titelblatt – ein Schauwplatz/ oder Marckt/ vnd Zusammenkunfft aller Professionen/ Künsten/ Geschäfften/ Händlen/ vnd Handtwercken/ so in der gantzen Welt geübt werden. Drei Register dienen dazu, die in der Enzyklopädie in 153 „Discursen“ ausgebreitete Wissenskompilation zu erschließen: Das „Register der Authorum/ vnd Scribenten/ auß welchen dieses gantze Werck genommen“, das „Register der Discursen/ vnd Professionen/ so auff diesem Marckt zusammen kommen“ und das „Register vnd Verzeichnus aller vornembsten Sachen/ so in diesem Wercke begriffen“. Garzoni verarbeitete in dem Folioband mit 732 Seiten zweispaltigem Text die Kenntnisse und das Wissen seiner Zeit aus den verschiedensten Lebensbereichen. Dabei rekurrierte er nicht nur auf Professionen bzw. Berufe im heutigen engeren Wortsinn, sondern auch auf – wie es im Werktitel anklingt – darüber hinausgehende Beschäftigungen (z. B. „Von Leimstengelern vnd Bulern/ oder Hurenhengsten“, „Von Mummen vnd Vermummungen“, „Von schertzen/ beydes mit Worten vnd mit Geberden“, „Von Müssiggängern vnd Pflastertrettern“).

Das Titelblatt, dessen Rahmung der Unterzeichnung zufolge von Matthäus Merian entworfen wurde, deutet den Inhalt des Buches programmatisch in Sinnbildern an: Außer einem Marktplatz als Ort des Informationsaustauschs (oben Mitte), einer Druckerei als Stätte der Informationsdistribution (unten Mitte), den allegorischen Figuren „Diligentia“ und „Experientia“ mit den Devisen „Fleis bringt Nahrung“ und „Zeit bringt Erfahrung“ sowie Athene (Göttin der Künste und des Handwerks) und Merkur (Gott des Handels) bildet es in zwölf Vignetten verschiedene Berufe und Gewerbe ab, u.a. den Kaufmann, Gelehrten, Maler, Bildhauer, Jäger, Fischer, Müller, Bäcker, Metzger und Koch. Das Werk stellt in einem vorausgehenden „general Discurs von allen Wissenschafften/ Künsten vnd Handwercken ins gemein“ und daran anschließenden 152 „Discursen“ ausführlich Personengruppen und ihre ausgeübten Tätigkeiten vor, darunter Fürsten, Verwalter, Geistliche, Juristen, Ärzte, Alchemisten, Kalenderschreiber, Zauberer, Wahrsager, Poeten, Buchhändler, Kabbalisten, Historiker, Teufelsbanner, Bettler, Huren, Goldschmiede, Schwimmer, Bader, Seifensieder etc. Das Kompendium bietet eine riesige Collage aus Tausenden von Zitaten aus allen möglichen Literaturgenres von der Antike bis in die achtziger Jahre des 16. Jahrhunderts. Zitiert wird beispielsweise aus Lyrik, Epik und Dramatik, aus Mythologie, Bibel, Patristik, Historiographie und Rhetorik.

5. Kontext und Klassifizierung
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Die Piazza Vniversale fügt sich in die Tradition italienischer Enzyklopädien der Frühen Neuzeit ein, die häufig unter den Titeln Teatri, Specchi und Piazze erschienen. Auf die Theater-Metapher wird bei Garzonis Versuch, die Welt enzyklopädisch in einem „Schawplatz“ zu erfassen, mehrfach rekurriert, beispielsweise wenn in der Vorrede „der Author deß Theatri, vnd Schawplatz aller Wissenschafften/ Künsten vnd Handthierungen/ so in der gantzen Welt gefunden werden“ (S. 1) von Momus, dem Gott der Tadler und Verleumder, Kritik erfährt. Die frühneuzeitliche Debatte um eine adäquate Organisation des expandierenden Wissensuniversums spiegelt sich bereits im metaphorischen Buchtitel wider, der mit der architektonischen Metaphorik eine gut strukturierte, leicht verständliche und für den Leser attraktive Organisationsstrategie signalisiert. Die Piazza Vniversale des gelehrten Kanonikers aus Bagnacavallo stellt ein Beispiel für einen Wissensspeicher in Form einer frühneuzeitlichen kompilatorischen Enzyklopädie dar, die moraldidaktische Ambitionen auf der Basis christlicher Ethik verfolgt. Das Wissen wird in origineller Weise geordnet nach Gruppen ehrenhafter und unehrenhafter Berufe, Stände und Tätigkeiten, die auf einem großen „Marktplatz“ mit lehrhafter Intention zusammengeführt werden (siehe zum Kontext auch Artikel zum Schauplatz der Künste und Handwerke von Nikola Roßbach). Das Werk leistet einen beachtlichen Beitrag in der Geschichte der polyhistorischen Wissenskompilation und der Popularisierung von Wissen.

6. Rezeption
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Zahlreiche italienische Editionen, lateinische, französische, spanische und englische Übersetzungen, ferner vier deutsche Editionen der Piazza Vniversale, dazu eine lateinische, alle fünf in Frankfurt erschienen, sowie eine deutsche Übersetzung des L’Hospitale de’ pazzi incurabili (Straßburg 1586), machten aus dem Gelehrten aus Bagnacavallo einen europäischen Autor von Rang, ja den erfolgreichsten Autor von Traktaten in italienischer Sprache in Europa zwischen Renaissance und Aufklärung. Im deutschen Sprachraum erlebte Garzonis Werk einen außerordentlichen Erfolg. Es wurde hier öfter als anderswo in Europa ediert, übersetzt und nicht zuletzt in literarischen Texten von zahlreichen Autoren rezipiert. Im Hinblick auf die deutsche Literatur hatte Garzonis Piazza Vniversale eine große Wirkung auf Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausen, der in seinem Werk wiederholt auf die Enzyklopädie einging, ausgiebig aus ihr schöpfte und es als Zitatenreservoir nutzte. Bereits in seinem Erstlingswerk, dem Traktat Satyrischer Pilgram (1666/1667), wird vielfach auf die Quelle verwiesen, die ihm in der ersten deutschen Übersetzung von 1619 bekannt war. Auch im Simplicissimus Teutsch (1668) und im gesamten simplicianischen Romanzyklus kommt es in zahlreichen Passagen zu literarischen Erwähnungen und Adaptationen. Im Ewig-währenden Calender (1670) hat Grimmelshausen die Piazza Vniversale teilweise dialogisiert. In „Simplicissimi Discurs mit Zonagrio/ die Calender-Macherey und was deme anhängig/ betreffent“ und „Zonagri Discurs von Waarsagern“ erscheint Garzoni mit anagrammatisch verschlüsseltem Namen als fiktiver Gesprächspartner. Noch in seinem letzten Werk, im zweiten Teil des Wunderbarlichen Vogel-Nests (1675), beruft sich Grimmelshausen auf die Autorität des italienischen Polyhistors.

Garzonis Piazza Vniversale wurde im 17. und 18. Jahrhundert im deutschen Sprachgebiet darüber hinaus u.a. von Aegidius Albertinus, Arnold Mengering, Johannes Prätorius, Georg Philipp Harsdörffer, Daniel Georg Morhof, Abraham a Sancta Clara, Johann Heinrich Zedler und Nikolaus Hieronymus Gundling rezipiert. Noch Gotthold Ephraim Lessing und Johann Georg Hamann haben die Enzyklopädie gelesen.

7. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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1Grundlage für die Bearbeitung ist die deutsche Erstausgabe von 1619.
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