Einführung

Giulio Camillo: L’Idea del Theatro
Stefan Laube

1. Titel
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L’Idea del Theatro dell’Eccellen. M. Givlio Camillo. In Fiorenza M D L. Venedig, Florenz: Lorenzo Torrentino, 1550. - Titelblatt (Kupfertafel), 86 pag. S., 4°. [opac ↗154415758]

2. Verfasser
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Giulio Camillo, auch Giulio Camillo detto Delminio, 1480 im Friaulischen Portogruaro geboren, widmete sich Zeit seines Lebens dem Entwurf und dem Bau eines Theaters, das das Wissen der Welt – in eigentümlicher Verschränkung von Enzyklopädie und Magie – enthalten und vermitteln sollte. Camillos Wanderleben begann bald nach seinem Studium in Padua, für dessen erfolgreichen Abschluss es bisher keinen Beleg gibt. Es ist aber erwiesen, dass er u.a. Rhetorik und Logik studiert hat. Zudem widmete er sich dem Studium der hebräischen Sprache, der Kabbala und der neuplatonischen Philosophie. Schon früh hatte er in Venedig Kontakt zu Kreisen, die über kabbalistische und hermetische Lehren spekulierten. Als Redner und Lehrer der studia humanitatis verdiente er sich seinen Unterhalt an vielen Orten Italiens. Nördlich der Alpen machte Camillo Bekanntschaft mit Johannes Sturm (1507-1589), dem Begründer der Straßburger Lateinschule, sowie mit Erasmus von Rotterdam (um 1466-1536), wobei sich letzterer über den stotternden Humanisten aus Italien, der im Lateinischen nur mäßig bewandert war, lustig machte. Überregionale Berühmtheit erlangte Camillo durch seinen Entwurf eines Gedächtnistheaters. Damit war kein Buch gemeint, sondern eine hölzerne Konstruktion, in der das gesamte Wissen der Welt – insbesondere in Form von Textexzerpten, aber auch von materiellen Bildern – mnemotechnisch gespeichert sein und abrufbereit gemacht werden sollte. Ein erstes Zeugnis für die Abfassung eines mnemotechnischen Theaters, einer „Fabrica“, geht bereits auf das Jahr 1526 zurück. Bald danach verstetigte sich Camillos Werdegang, indem er es schaffte, seine Talente in den Dienst eines großen Mäzens, des französischen Königs, zu stellen. Vermutlich übergab Camillo bereits um 1530 François I. eine handschriftliche umfangreiche Fassung seines Theatro della sapientia, das in den 1980-er Jahren wieder entdeckt werden sollte. In den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts war Camillo Stammgast am französischen Hof, denn auch François I. – wie so viele andere Zeitgenossen – war begierig, dieses Geheimnis umwobene Theatrum zu durchschauen.

Die Hoffnungen, die der König von Frankreich auf Camillo gesetzt hatte, erfüllten sich wohl nicht ganz. Jedenfalls gelang es Alfonso D’Avalos del Vasto (1502-1546), dem spanischem Gouverneur von Mailand, der auch Ariost (1474-1533) mäzenatisch unterstützte, Camillo in die lombardische Metropole zu locken. Wie beim französischen König sollten auch hier Transparenz und materielle Unterstützung in ein Austauschverhältnis treten, hoffte doch d‘Avalos, dass ihm als Gegenleistung für eine Pensionszahlung das ‚Geheimnis‘ des Theaters mitgeteilt würde. Camillo nahm das Angebot an und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens als Pensionär des Gouverneurs von Mailand, wobei er vor ihm sowie vor verschiedenen Akademien Vorträge hielt.

Camillo starb 1544 in Mailand, ohne einen Text veröffentlicht zu haben. Kurz vor Camillos Tode gelang es dem Marchese Alfonso d‘Avalos noch, ihn zu einer Niederschrift der L‘Idea del Theatro zu bewegen, indem Camillo seinem Freund und Begleiter Girolamo Muzio die Kerngedanken diktierte. Camillo hinterließ bei seinem Tod ausschließlich Handschriften, die dann zügig in verschiedenen Editionen verlegt wurden.

3. Publikation
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3.1. Erstdruck
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1550 erschien L’Idea del Theatro erstmals sowohl in Venedig als auch in Florenz. Das Exemplar der Herzog August Bibliothek ist in Florenz bei Lorenzo Torrentino gedruckt worden.


Standorte des Erstdrucks

3.2. Weitere Ausgaben
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L‘Idea del Theatro ist auch Bestandteil der ersten Gesamtausgabe Tutte l’opere (Venedig 1552), die in den Jahren 1579, 1580 und 1584 neu aufgelegt wurde. 1560 erschienen in Venedig die gesammelten Werke von Camillo in einer erweiterten Fassung unter dem Titel Opere de Camillo in due tomi – der Text L‘Idea del Theatro ist im ersten Band abgedruckt – Neuauflagen in den Jahren 1566, 1567 und 1568.

Ausgaben des Textes L‘Idea del Theatro im 20. Jahrhundert: Giulio Camillo Delmoni: L’Idea del Teatro e altri scritti di retorica, Turin 1990 [Alethes. Collezione di retorica], S. 59-124. Seit 1991 ist Camillos L‘Idea del Theatro auch in einem kurz kommentierten, neu gesetzten, von Lina Bolzoni herausgegebenen Druck in der Reihe „L‘Italia“ des Verlages Sellerio greifbar. Corrado Bologna entdeckte 1986 in der Johan Rylands Library von Manchester eine Abschrift eines Camillo’schen Textes namens Theatrum della sapientia (Sign. Christie MS. 3), deren Umfang von 147 Blättern den der Druckschrift L‘Idea del Theatro deutlich übertrifft. Das Kapitel über die Kategorie des Machens – „Categoria del fare“ [fol.11v-17v] – ist als Faksimile sowie in transkribierter Form abgedruckt bei Keller-Dall‘Asta (S. 253-279).

3.2.1. Digitale Ausgaben
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4. Inhalt
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Mit L‘Idea del Theatro ist sowohl der Titel einer postum erschienenen Abhandlung gemeint als auch der Entwurf einer dreidimensionalen Architektur, die es tatsächlich gegeben hat. Das Buch ist sechs Jahre nach dem Tod des Autors veröffentlicht worden. Verfasser des Vorworts ist Lodovico Domenichi (1515-1564), der diese Abhandlung einem spanischen Diplomaten und Humanisten, einen gewissen Diego Hurtado von Mendoza zueignet. Es fällt auf, dass Camillo den Text in seiner Muttersprache, also in ‚volgare‘, verfasst hat. Mit Hilfe dieser Druckschrift ist es möglich, das verloren gegangene hölzerne Miniaturtheater, das in Venedig und Paris für Furore sorgte, zu rekonstruieren. Camillo brachte eine hermetisierte Gedächtniskunst in einem Theatergebäude unter, das mit magischen, astrologischen, mythologischen Metaphern und Bildern, die man auch aufhängen könnte, ausgestattet war und für deren Erfindung er eine besondere Begabung hatte. Die hölzerne Architektur sollte so etwas wie eine begehbare Bildenzyklopädie sein. Camillo nutzt die Merkmale eines wirklichen Theaters, des klassischen vitruvianischen Theaters, kehrt aber entsprechend seiner mnemotechnischen Zielsetzung die in einem Theater vorherrschenden Raumfunktionen um, insofern als bei ihm der Zuschauer auf der Bühne steht, während auf den Zuschauerplätzen Sinnbilder für alle Dinge der Schöpfung aufgestellt waren. Camillo wollte mit dem Theater eine Merkarchitektur für Redner errichten. Schriftliche oder bildliche Gedächtnishilfen sollten diese in die Lage versetzen, zu jedem möglichen Thema eine möglichst perfekte Rede von ciceronianischer Qualität zu halten. Wie genau dieses Theater aussah, ist umstritten, da bis heute weder Modelle noch Abbildungen zu diesem Werk existieren. Zudem muss der Leser der uns überlieferten Abhandlung schnell feststellen, dass dieser in kurzer Zeit aus Camillos Erinnerung diktierte Text wenig strukturiert, in seinen Erklärungen oft unvollständig ist und über keine Illustrationen verfügt. Dennoch verfolgt Camillo eine Ordnung. Er gründet sein Gedächtnissystem auf erste Ursachen, auf die Sefiroth (hebräischer Ausdruck für die zehn göttlichen Emanationen im kabbalistischen Lebensbaum) als die ‚ewigen Orte‘ schlechthin seines Gedächtnissystems. Camillo setzt sich zum Ziel, die ‚ewigen’ Inhalte aller Dinge, der irdischen wie der himmlischen, für immer im Gedächtnis behalten zu wollen und eine Ordnung zu schaffen, welche die Sinne wach hält und die Gedanken bewegt: „Or se gli antichi oratori volendo collocar di giorno in giorno le parti delle orationi che havevano à recitare, le affidavano à luoghi caduchi, come cose caduclie, ragione è, che volendo noi raccomandar eternalmente gli eterni di tutte le cose che possono esser vestiti di oratione con gli eterni di essa oratione, troviamo à loro luoghi eterni“. [Wenn die antiken Redner in dem Wunsch, die vorzutragenden Teile der Rede von einem Tag auf den anderen festzuhalten, sie vergänglichen Orten als vergängliche Dinge anvertrauten, dann ist es wohl rechtens, dass wir in dem Wunsch, auf ewig die ewige Natur aller Dinge, die in der Rede ausgedrückt werden kann, aufzubewahren, sie ewigen Orten zuweisen (S. 10f., Übersetzung bei Yates, S. 129)]. Die Grundpfeiler seines Theaters sind die Sieben Säulen des Salomonischen Tempels der Weisheit. Diese sieben Säulen als Sefiroth der überhimmlischen Welt bezeichnen die stets konstant bleibende Ewigkeit. Den Sefiroth werden nun Engel und Planeten mit ihren mythologischen Gottheiten, die auch die Natur der ‚unteren Dinge‘ repräsentieren, zugeordnet: dem Mond Malchut und Gabriel, dem Merkur Jessod und Michael, der Venus Hod, Nezach und Honiel, der Sonne Tifereth und Raphael, dem Mars Gaburah und Camael, dem Jupiter Chessed und Zadkiel und dem Saturn Bina und Zaphkiel. Die Planeten bilden den ersten von insgesamt sieben horizontalen Rängen in Camillos theatraler Struktur. In diesem Rang symbolisieren die Planeten die himmlische Welt bzw. die Sefiroth und Engel die überhimmlische Welt. Getreu der Sitte in antiken Theatern, dergemäß die wichtigsten Leute auf den untersten Sitzen saßen, hat Camillo auf seinen untersten Rang die sieben wesentlichen Maßeinheiten positioniert, von denen, entsprechend der magisch-mystischen Theorie, alle irdischen Dinge abhängen, nämlich die sieben Planeten. Jedem der sieben Planeten ist in dem arenahaften Halbrund ein Sektor zugeordnet, wobei die emblematischen Bildmotive im Sektor je nach Zuordnung zu einem bestimmten Himmelskörper von der entsprechenden planetarischen Eigenschaft beeinflusst sind. Diese vertikal ausgerichteten Planetensektoren kreuzen nun ebenfalls sieben horizontale Ränge, so dass Camillos Gebilde insgesamt 49 Teile bzw. Abteile aufweist. Wenn sich der Betrachter nun in die Position eines auf der Bühne stehenden Schauspielers begab, konnte er seinen Blick von Abschnitt zu Abschnitt wandern lassen. Dabei erschloss sich ihm eine Vielzahl von Bildsujets, die an den jeweiligen Abschnitten angebracht waren.

Die siebenstufigen Ränge sind zum einen in sieben Segmente unterteilt, die den damals bekannten Planeten – Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn – zugeordnet sind, zum anderen repräsentieren die sieben Ränge den Stufenbau der Welt von den spirituellen Grundlagen der Schöpfung aufwärts bis zum Mikrokosmos der menschlichen Sphäre, beginnend bei den ersten Ursachen (Rang 1), dem die einfachen Elemente (Rang 2) und die Vermischung der Elemente (Rang 3) folgen. Die menschliche Sphäre kommt ab den mittleren Rängen mit der Erschaffung von Geist und Seele (Rang 4) und der Vereinigung von Seele und Körper (Rang 5) ins Spiel. Rang 6 behandelt die natürlichen Tätigkeiten des Menschen und Rang 7 die Künste, Wissenschaften, Religion und Gesetze der Menschen. Das Theater Camillos ist somit eine Darstellung des Universums, ausgehend von der überhimmlischen Welt der Sefirot, Engel und letztlich Gottes, über die himmlische Welt samt Planeten bis hin zur irdischen Welt, die in ihrer schöpferisch-materiellen Ordnung gezeigt wird, wie es Frances Yates in ihrem 1966 erschienenen Buch The Art of Memory, die Giulio Camillos Wissenskonzeption aus dem Dornröschenschlaf geweckt hat, gesehen hat. Insbesondere die sieben vertikalen Sektoren mit ihren Planeten als Leitsymbolen bringen diese Schöpfung in eine Ordnung. So wird der Mond mit dem Element Wasser als auch mit verborgenen Dingen assoziiert, das heißt im ersten Rang ist der Mond als Bezeichnung der himmlischen und überhimmlischen Welt dargestellt, im zweiten Rang als einfaches Element für Wasser, im dritten Rang als das vermischte Element Wasser mit Wasserflora und Wasserfauna, im vierten Rang steht der Mond für Unwissenheit, Vergesslichkeit und Erinnerung, im fünften Rang für verborgene Dinge und Wandlungen des Menschen, aber auch für Ausscheidungen und Schmutz des menschlichen Körpers, die sechste Reihe beinhaltet die natürlichen Tätigkeiten mit Wasser wie Baden und Waschen etc., die letzte Reihe die künstlerisch-technischen Tätigkeiten mit Wasser wie Bau von Kanälen, Brücken und Wasserkraftanlagen. Ein ähnlicher Aufbau ist bei den anderen Planeten zu finden. So kann man in der Abteilung des Saturn etwas über das Lastentragen und das Lasttier Esel sowie zum Zustand des Erdhaften überhaupt, mit dem der Saturn assoziiert wird, finden. Aber auch die Einsamkeit, die Melancholie, die Armut und schließlich die mystische Erhebung in Kontemplation ist auf den verschiedenen Rängen des Saturns abrufbar. Jupiter hingegen regiert die Luft, das Wohlwollen, den Reichtum, das Glück; Merkur die Künste, den Verstand, die Kommunikation; Venus die Liebe von der Prostitution bis hin zum irdischen Paradies der Sinnlichkeit, den Genuss, die Schönheit. Mars ist Herrscher des Feuers und aller damit verbundenen Tätigkeiten vom Schmieden bis hin zum Krieg. Die Sonne schließlich steht im Zentrum allen Geschehens, steht für Würde und Ehre, für den höchsten Teil der Seele und die Befruchtung der Welt. Camillos Theater ist eine Konkretisierung des im 15. Jahrhundert neu entdeckten, von Marsilio Ficino (1433-1499) ins Lateinische übersetzten Corpus Hermeticum, in dessen Mittelpunkt die Kraftfelder der Planeten stehen.

Camillos Konzept ist der ambitionierte Versuch, die gesamte Welt in einer Theaterarchitektur vorstellbar zu machen. In De vita coelitus comparanda (1489) spricht Marsilio Ficino bereits von der Errichtung eines „Bildes der Welt“ (zit. nach Yates, S. 150). Die Bilder, die Camillo in seinem Theater aufstellt, aber in seiner Abhandlung nicht zeigt, müssen Emblemen bzw. Impresen geähnelt haben. Im Theater wird eine topisch organisierte Sinn-Bild-Kunst zur Schau gestellt, in der den Bildern bestimmte Motti zugeordnet sind. Camillos Gedächtnistheater machte einen geradezu exzessiven Gebrauch von Bildern, entsprechend der Forderung antiker Rhetoren, in der Gedächtniskunst „imagines agentes“ zu verwenden. Dementsprechend sollten die Bilder, die auf den Rängen aufgestellt waren, die Besucher in eine innere Aktivität versetzen. Die Aktivierung des Gedächtnisschauspiels war in der Tat ein Werk der Theaterbesucher, denn die Bilder auf den Rängen mussten zunächst entschlüsselt und untereinander kombiniert werden. Zur Aufstellung kamen oft Emblemata aus dem Corpus Hermeticum, einer neuplatonischen Mixtur von Motiven der ägyptischen und griechischen Mythologie und Astrologie. Als solche bedurften sie einer deutenden Aktivität durch den Betrachter. Ein rein mechanischer Informationsabruf war nicht im Sinne Camillos, vielmehr wurde dem Besucher seines Theaters eine deutende, schöpferisch imaginierende Eigenaktivität abverlangt. Mit rhetorischen Kategorien gesprochen: Es kam Camillo nicht allein auf die ‚Dispositio‘, die Anordnung von Wissen, an, sondern eben so sehr auf die ‚Inventio‘, die ‚Findung‘ von Wissen.

Wie schon gesagt, kommt der schmale Band ohne Abbildungen aus, verweist aber an den Rändern immer wieder durch Piktogramme der Planeten, wie z.B. einer Sichel für Mond, „♂“ für Mars, „♀“ für Venus etc., auf die jeweiligen Planeten bzw. deren Einflussnahmen. Camillos L‘Idea del Theatro ist mit einem Frontispiz ausgestattet, das in seiner Einfachheit den hochkomplexen Inhalt kontrastiert. Man sieht ein Portal als Bühnenbildrahmung. Figuren, die als Orpheus und Persephone gedeutet werden können, schlüpfen in die Rolle von Karyatiden. Auf der Brüstung sitzen zwei Putti, die gerade dabei sind, den Vorhang aufzurollen, sie geben den Blick frei auf die Silhouette von Florenz. Titel und Name des Autors sind auf dem Vorhang aufgedruckt.

5. Kontext und Klassifizierung
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Camillo vermittelt mit seinem Theaterkonzept hochgradig verschlüsselte Zusammenhänge. Sein Vordringen in Bereiche, die dem Menschen von sich aus nicht offen stehen, hebt Lodovico Domenichi (1515-1564), der Verfasser des Widmungsschreibens der L‘Idea del Theatro, hervor (Widmung, unpag. [S. 2]): „[…] il quale con l’altezza de suoi pensieri arrivava dove huom per se non sale.“ Der Renaissancehistoriker Eugenio Garin stellt sich die Frage, ob nicht die gesamte L‘Idea del Theatro wie ein „manuale di pratiche cabalistiche o un rituale magico“ (Garin, S. 33) aufzufassen sei. Angesichts von Camillos späten religiösen Orientierungen, die von hebräischer Mystik, Magie und Eschatologie geprägt sind, stellt Barbara Keller-Dall´Asta die Vermutung an, ob das Gedächtnistheater nicht „Ergebnis einer – geradezu ‚nikodemischen‘ – Perfektion im Verbergen und Entbergen heterodoxer Affinitäten, eine Summe nicht offen präsentierbarer Symbolprozesse“ (Keller-Dall’Asta, S. 211) gewesen sei. Camillo will in seinem Theater alle Dimensionen der Welt durchmessen, wobei die Dinge unter einem Schleier verborgen bleiben. Das Spannungsfeld von Opazität und Transparenz durchzieht das gesamte Theatrum Camillos, was an dualistischen Formulierungen wie „con enigmi“ versus „far publicamente parole“, „cose invisibili“ versus „cose visibili“, „tacere“ versus „revelare“, „lingue degli angeli“ versus „nostra bassa lingua“ (S. 8ff.) abzulesen ist. Camillo begibt sich mit seinem Gedächtnistheater auf eine Gratwanderung zwischen Schweigegebot und Offenlegung. Einerseits soll das Arkanum der Sinndimension respektiert bleiben, andererseits muss Camillo etwas vorführen, wenn er seine L’Idea del theatro Substanz gewinnen soll. Camillo ist sich durchaus bewusst, dass er sich mit seiner Theateridee in die Tradition von Geheimnisverrätern stellen könnte und erinnert an die Maria Hebraica, die als angebliche Schwester des Moses über alchemo-kabbalistischen Kenntnisse verfügte und sich der Weitergabe göttlich geoffenbarten Wissens schuldig gemacht haben soll (S. 9). Ein wahrer Hüter jener heiligen Dinge, die er von Gott gezeigt bekam, sei jedoch Moses gewesen, den man „fedel ministro suo“ (S. 9) nennen würde. Nicht zuletzt, weil die höchsten, dem Mose zuteil gewordenen Offenbarungen in der Kabbala geheim gehalten würden, spielt diese mystische jüdische Tradition in Camillos L‘Idea del Theatro eine so tragende Rolle.

Camillos Gedächtnistheater vereinigt Elemente der Mnemotechnik und Enzyklopädistik mit Traditionen aus Hermetismus, Neuplatonismus und Kabbalistik. Zunächst ist Camillos Gebilde in Anlehnung an die Gedächtnismethoden antiker Redner ein System von Orten und Bildern mit dem Anspruch, dem Gedächtnis Zusammenhänge einzuprägen, so dass sie bei Bedarf abgerufen werden können. Wollte man Camillos L‘Idea del Theatro zu einer der Disziplinen der artes liberales zuordnen, müsste man in erster Linie die Rhetorik nennen. Das Gedächtnissystem des Theaters sollte dazu dienen, alle bei Cicero vorkommenden Vorstellungen zu memorieren; die Fächer unter den emblematischen Bildern enthielten im Wortlaut, aber auf „volgare“, passende Redepassagen aus den Werken Ciceros. Die ciceronianische Redekunst war fester Bestandteil der venezianischen Renaissance. Camillo verstand sich selbst als Redner und bewunderte Kardinal Pietro Bembo, den Führers der ‚Ciceroniani‘, dem er auch ein lateinischen Gedicht über sein Theater widmete. Standard der Mnemotechnik in der Antike und im Mittelalter war die Loci-Methode. In der anonymen Schrift Rhetorica ad Herennium aus dem 1. Jh. v. Chr. wird gesagt, dass die Mnemotechnik darin bestehe, Orte anzulegen und sie mit Bildern zu bestücken. Beides hat Camillo getan: Er hat sich einen Ort gesucht, nämlich ein Theatergebäude, hat ihn unterteilt in kleinere Orte und hat diese insgesamt 49 Orte mit realen Bildern verschiedenster Art ausgestattet. Camillo geht aber über die Nachahmung klassischer Memoria-Modelle hinaus, indem er die herkömmliche Gedächtniskunst in den Rahmen der von Marsilio Ficino (1433-1499) und Pico della Mirandola (1463-1494) verbreiteten Visionen des Hermetismus und der Mysterien der jüdischen Kabbala stellt. Camillos Theaterprojekt war in gewisser Weise unzeitgemäß, denn mit dem Buchdruck geriet die Gedächtniskunst außer Mode. Nur in der okkulten Tradition wurde die Gedächtniskunst erneut aufgegriffen und transformiert. Die Gedächtniskunst à la Camillo benutzt zwar weiter entsprechend der Regeln Orte und Bilder, doch das philosophische Fundament ist grundlegend verändert: Sie ist jetzt nicht mehr scholastisch, sondern neuplatonisch und hermetisch, wimmelt es doch in seinem Theater von hermetischen Gedanken.

Eine als Corpus Hermeticum bekannte Sammlung von Schriften war im fünfzehnten Jahrhundert wieder entdeckt und von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzt worden. Wie viele seiner Zeitgenossen war Ficino davon überzeugt, dass das Werk vom altägyptischen Weisen Hermes (oder Mercurius) Trismegistos stammte. Die Schriften propagierten die Tradition einer noch vor Platon zurückreichenden antiken Weisheit. Camillo bedient sich in großer Vielfalt hermetischer, neuplatonischer, aber auch kabbalistischer Versatzstücke. Sie sind es, die Camillos Theater auf „that mysterious occult side of the Renaissance“ (Yates, S. 158) stellen. So lassen sich die sieben Maßeinheiten bzw. Planeten auf die sieben Regenten ebenso wie die Trennung der Schöpfung in einen zunächst materiellen Teil und später geistigen Teil des Menschen, was übrigens nicht der Genesis entspricht (Yates, S. 145f.), auf den Corpus Hermeticum sowie auf die Schriften Ficinos und Picos della Mirandola zurückführen. Camillos Anlehnung an Ficino wird besonders im Sektor der Sonne deutlich, wo im so genannten Bankett-Rang das Bild einer Pyramide als Symbol der Trinität erscheint, wie es Ficino in seinem Text De sole beschrieben hat (Yates, S. 152). Camillos Theater trägt aber auch den Geist von Pico della Mirandola in sich, der sich sehr um die populäre Rezeption der jüdischen Kabbala in christianisierter Form verdient gemacht hat. Dass es starke kabbalistische Einflüsse in L‘Idea del Theatro gibt, ist offenkundig. Die zehn Sefiroth als göttliche Maßeinheiten in der überhimmlischen Welt, waren von Pico aus der Kabbala übernommen worden. Die Entsprechung der sieben planetarischen Maßeinheiten der himmlischen Welt mit den überhimmlischen Sefiroth verleiht dem Theater seine Ausdehnung bis in die Geheimnisse der göttlichen Weisheit im Salomonischen Tempel, wo sich die überhimmlische Welt manifestiert.

Das von Camillo errichtete Theater spiegelt die Gedankenwelt eines Marsilio Ficino und eines Pico della Mirandola. In dieser Welt nimmt der Mensch mit seinem nach dem Bilde Gottes geschaffenen Geistes die Mittelstellung ein. Er kann sich darin mit Einsicht bewegen und sie sich mit subtiler religiöser – hermetischer und kabbalistischer – Magie einverleiben, wodurch er eine göttliche Ebene erklimmt. Camillo kann sich mit seinem Theater in eine gottgleiche Vogelperspektive begeben: „Questa alta et incomparabile collocatione fa non solamente officio di conservarci le affidate cose, parole, et arte, che a man salva ad ogni nostro bisogno informati prima le potremo trovare; ma ci da anchor la vera sapienza, ne fonti di quella venendo noi in cognition delle cose dalle cagioni, et non da gli effetti. Ilche piu chiaramente esprimeremo con uno esempio. Se noi fossimo in un gran bosco, et havessimo desiderio di ben vederlo tutto, in quello stando, al desiderio nostro non potremmo sodisfare: percioche la vista intorno volgendo, da noi non se ne potrebbe veder, se non una picciola parte, impedendoci le piante circonvicine il veder delle lontane: ma se vicino a quello vi fosse una erta, la qual ci conducesse sopra un’alto colle, del bosco uscendo, dall'erta cominciaremo a veder in gran parte la forma di quello; poi sopra il colle ascesi, tutto intiero il potremmo raffigurare. Il bosco è questo nostro mondo inferiore, la erta sono i Cieli; et il colle il sopraceleste mondo. Et a voler bene intender queste cose inferiori, è necessario di ascendere alle superiori: et di alto in giu guardando, di queste potremo haver piu certa cognitione“. [Diese hohe und unvergleichliche Anordnung erfüllt nicht nur die Aufgabe, für uns die Dinge, Wörter und Künste zu bewahren, die wir ihm übergeben, so dass, wann immer wir sie brauchen, wir sie auf einmal finden können, sondern sie gibt uns auch die wahre Weisheit, aus deren Quellen wir zur Erkenntnis der Dinge ihrer Ursache, nicht nur ihren Wirkungen nach gelangen. Dies lässt sich vielleicht durch das folgende anschaulicher zum Ausdruck bringen: Wenn wir uns in einem riesigen Wald befinden würden und dessen ganze Ausdehnung sehen wollten, würde uns dies von einer Position innerhalb nicht gelingen, denn unsere Sichtweite wäre durch die uns unmittelbar umgebenden Bäume auf einen kleinen Teil begrenzt, was uns am Blick auf die fernere Ansicht hindern würde. Gäbe es aber in der Nähe dieses Waldes einen Hang, der zu einem hohen Hügel führte, dann könnten wir, wenn wir den Wald verlassen und den Hang hinaufsteigen, einen großen Teil von der Form des Waldes sehen, und vom Gipfel des Hügels aus könnten wir ihn dann ganz sehen. Der Wald ist unsere niedere Welt, der Hang ist der Himmel, der Hügel ist die überhimmlische Welt. Und um die Dinge der unteren Welt zu verstehen, muss man zu den höheren Dingen aufsteigen, von wo man dann, wenn man von oben herabblickt, eine sicherere Erkenntnis der niedrigen Dinge haben kann. (Camillo, L‘Idea del Theatro, S. 11f., Übers. bei Yates, S. 133)] Das Theater bietet also eine Ansicht der Welt und der Natur der Dinge, wie sie sich vom Gipfel, von den überhimmlischen Quellen der Weisheit, die sich noch jenseits der Sterne befinden, eröffnet. Gerade weil Camillo an die Göttlichkeit des Menschen glaubt, erhebt er den gewagten Anspruch, er könne das Universum durch einen Blick von oben, von den ersten Ursachen her, als ob er Gott wäre, in Erinnerung behalten. In dieser Atmosphäre gewinnt die Beziehung zwischen dem Menschen – dem Mikrokosmos – und der Welt – dem Makrokosmos – eine neue Bedeutung. Der Mikrokosmos kann den Makrokosmos durch seinen göttlichen ‚mens‘ nicht nur durchschauen, sondern auch vollständig in Erinnerung behalten.

6. Rezeption
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Das große Buch, das Camillo immer schreiben wollte und in dem er seine ambitionierten Entwürfe der Nachwelt hätte überliefern können, hat er nie geschrieben. Wie Hans-Ulrich Gumbrecht hervorgehoben hat, wehrte sich Camillo „gegen den Verlust des Körpers als Medium, den die überwiegend gedruckte Präsenz des Autors zur Folge hatte“ (Gumbrecht, S. 214f.). Obwohl Giulio Camillo zu Lebzeiten wohl nichts veröffentlichte, ist er im sechzehnten Jahrhundert alles andere als ein Unbekannter gewesen. Seine Theaterarchitektur, dessen mysteriöse Berühmtheit mit den Jahren noch zuzunehmen schien, schlug zahlreiche Zeitgenossen in Italien und Frankreich in seinen Bann: „Camillo faszinierte durch seinen mündlichen Auftritt. Die Drucklegung seiner Werke war nicht sein Interesse, sondern die Bezahlung von Diensten, die nur ein Alchemist, ein Zauberer der Rede oder ein Künstler der Performanzen vollbringen kann“ (Keller-Dall‘Asta, S. 205f.). Umso stärker war in der unmittelbaren Nachwelt das Bedürfnis ausgeprägt, Camillos Gedanken zum Theater auch anderen verfügbar zu machen. Allein im 16. Jahrhundert wurde die L‘Idea del Theatro 1550 separat und in den Jahren 1552, 1566, 1567, 1568, 1579, 1580 und 1584 im Rahmen der von ihm edierten gesammelten Werke gedruckt. 1552 schrieb Ludovico Dolce (1508-1568), ein viel gelesener Autor, das Vorwort zu einer Camillo-Gesamtausgabe, in dem er den frühen Tod dieses Genius beklagt, der wie Pico della Mirandola sein Werk nicht vollendet und auch die Frucht seines „eher göttlichen als menschlichen Verstandes“ nicht ganz ans Licht gebracht habe. Das Theater des Giulio Camillo wurde in einer 1588 gehaltenen Rede des Camillo-Vertrauten Girolamo Muzio (1596-1576) in eine Reihe gestellt mit den Gedankengebäuden von Mercurius Trismegistos, Pythagoras (um 570-510 v. Chr.), Platon (um 428-348 v. Chr.) und Pico della Mirandola. Auch zwei der berühmtesten italienischen Dichter des sechzehnten Jahrhunderts erwähnen Camillo anerkennend. In Ariosts Orlando furioso (1516) erscheint Giulio Camillo als der, „der einen sanfteren kürzeren Weg zu den Höhen des Helikon gezeigt hat“ (Canto XLVI, Stanza 12). Torquato Tasso (1544-1595) behandelt in seinem Dialog La Cavaletta overo de la poesia toscana von 1585 ziemlich ausführlich das Geheimnis, das Camillo dem König von Frankreich enthüllt hat, und stellt dabei fest, Camillo sei seit Dante der erste gewesen, der die Rhetorik in eine poetische Form ausgestaltet habe (Dialoghi [1958]). 1578 veröffentlichte Giovanni Matteo Toscano (1500-1576) in Paris Peplus Italiae, eine Sammlung lateinischer Gedichte auf berühmte Italiener, darunter auch auf Camillo, dessen wundervollem Theater selbst die Sieben Weltwunder Respekt zollen müssten. Camillos Ideen waren noch Jahrzehnte nach seinem Tod Stadtgespräch in Venedig. Noch in der um 1587 von Fabio Paolini gegründeten ‚Accademia degli Uranici‘ wurde über Camillos L‘Idea del Theatro diskutiert. Wie Camillo wollte auch Paolini die Rhetorik magisch untermauern. Paolini selber veröffentlichte einen umfangreichen Band mit dem Titel Hebdomades (1589), in dem die in der Akademie gehaltenen Gespräche wiedergegeben sind und worin er ausführlich aus der L´Idea del Theatro zitiert, darunter die Beschreibung der auf der Siebenzahl der Planeten gegründeten siebenstufigen Konstruktion. Für alle, die in der okkulten Renaissance-Tradition standen, übte Camillos Theater eine ungeheure Faszination aus: „Mit ihm sollte gezeigt werden können, wie der Mensch, das große Wunder, der, wie in Picos Rede von der Würde des Menschen beschrieben, mit Magie und Kabbalas die Kräfte des Kosmos bändigen konnte, als Redner magische Kräfte entwickeln könnte, wenn er aus einem die Proportionen der Weltharmonie organisch verbundenen Gedächtnis spricht“. (Yates, S. 157) Camillos Gedächtnistheater beeinflusste auch den von Paracelsus geprägten Gelehrten Jacques Gohory (1520-1576), der in seiner Abhandlung De Usu & Mytseriis Notarum liber (Paris 1550) ausführt, dass das L‘Idea del Theatro im Lullischen Geist den einmaligen und stets verfügbaren Zugriff auf alle ‚intellegibilia‘ lehre. Als Lehrer wirkte Camillo insbesondere auf Alessandro Citolini (1500-1582), einem vehementen Anhänger reformatorischer Ziele und geschickten Nikodemiten. Citolini eiferte Camillo mit seiner Wissenskompilation La Tipocosmia (Venedig 1561) nach, die ebenso wie L‘Idea del Theatro enzyklopädische und mnemotechnische Gesichtspunkte miteinander vereint.

Es ist erwiesen, dass Camillos Wissenskonzeption für Vincenzo Borghinis Programm der Ausarbeitung des Stanzino im Florentiner Palazzo Vecchio des Francesco I. de Medici und für Samuel Quicchelbergs Museumsschrift Inscriptiones Vel Titvli Theatri (München 1565) nicht ohne Einfluss blieb. Quiccheberg kannte den Text Camillos und erwähnte Camillo mehrmals in seinem Traktat, insbesondere um sich von ihm abzugrenzen. Die erste Nennung Camillos erfolgte im Zusammenhang der Erklärung des von Quiccheberg verwendeten Theaterbegriffes (S. 106). Die geeignete Hülle für seine ideale Sammlung fand Quiccheberg in den Räumlichkeiten der Sammlung Albrecht V. in München. Deutlich wird, dass er den Vierflügelbau des Marstalls mit Arkaden und Rundbögen dem Halbrund eines vitruvianischen Theaters, wie bei Camillo beschrieben, vorzog. Ein zweites Mal findet Camillo im Quicchelberg‘schen Traktat in den „Digressiones et Declarationes“ Erwähnung. Die Ordnung der Dinge sollte nicht der Struktur der sieben Planeten folgen: „Nec enim iam etiam licuit secundum VII Planetas singula distribuere, ut facere potuissent Vitruvium & Camillum imitando, cum ordo facilior secundum formas rerum debuerit exhiberi [...]“ (S. 110).

Camillo errichtete sein Gedächtnistheater zu einer Zeit, als in Venetien das Wiederaufleben des antiken Theaters in vollem Gange war. Ein Höhepunkt stellte die Eröffnung des Teatro Olimpico in Vicenza dar, das nach den Plänen Andrea Palladios (1508-1580) in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts errichtet wurde. Die Wiederentdeckung Vitruvs durch venezianische Architekten, allen voran Palladio, stellt ein Markenzeichen der venezianischen Renaissance dar. Camillo bewegte sich mit seiner Adaption des vitruvianischen Theaters also in einem überaus anregenden Umfeld von venezianischen Architekten. Es liegt nahe, dass sich Camillo bei seinem Gedächtnistheater, welches sowohl in seiner Architektur als auch in seiner Bilderwelt die göttlichen Weltproportionen magisch widerspiegeln sollte, von vitruvianischen Ideen inspirieren ließ.

Die ikonographische Tradition der Bilder in Camillos Gedächtnistheater wirkte fort auf die Stilbildung der Schule von Fontainebleau sowie auch auf Tizian (um 1488-1576), bei dem sich Camillo um Bilder für sein Theater bemühte. Ein von der Hand Tizians bebildertes Exemplar des Idea del Theatro, das dem spanischen Humanisten Diego Hurtado de Medoza gewidmet war, soll in die Obhut des spanischen Königs Philipp II. gelangt sein, d.h. in die Bibliothek des Escorial (Keller Dall‘Asta, S. 214).

Im 17., 18. und 19. Jahrhundert verblasst die Erinnerung an Camillo. Lange Zeit war er nur Kennern bekannt. Erst als die Wissenschaftsgeschichte in der Tradition der Ansätze Aby Warburgs begann, sich für die hermetisch-neoplatonische Literatur zu interessieren, rückte auch das Gedächtnistheater Camillos in den Fokus der Forschung. Frances Yates sieht in ihrem 1966 erschienenen Buch The Art of Memory in Camillos Ansatz ein Paradebeispiel für die Vielfalt der Literatur in der Renaissance. Darüber hinaus bilde die venezianische Theaterarchitektur und die Bilderkultur der Impresa den ästhetisch-intellektuellen Horizont, in dem Camillos Theateridee gedeihen konnte. Paolo Rossi misst in seinem Buch Clavis universalis von 1960 die Leistung Camillos an dessen Beitrag für ein pansophisches Modell, ein universales Wissensgebäude, wie es immer wieder – und bei Leibniz letztmals – entworfen wurde. Kontrovers wird bis heute die Frage diskutiert, ob die Wissensvermittlung des Camillo‘schen Theaters eher enzyklopädisch oder magisch geprägt ist. Frances Yates ist der Auffassung, dass für Camillo magische Wirkungen wesentlich waren: „Das Geheimnis […] des Theaters ist meines Erachtens, dass man die Grund legenden Planetenbilder als Talismane ansah oder doch glaubte, sie hätten deren Wunderkraft und deren Energie würde aus ihnen in die Hilfsbilder fließen.“ (Yates, S. 141f.) Andere Forscher widersprechen dieser Deutung energisch und betonen die enzyklopädische Ausrichtung, das Weltwissen in übersichtlicher Form darzustellen – als Ordnungssystem, Bibliothek oder Museum. Dann bleibt es aber ein Rätsel, warum Camillo ein universalwissenschaftliches Ablagesystem im Stile einer Suchmaschine avant la lettre so stark verschlüsselte. Giulio Camillos Wissensordnung wird auch von Künstlern und Interface-Designern der Gegenwart beachtet. Sie inspirierte den Komponisten John Fuller (The Theatre of Memory, 1981) sowie den Video-Artisten Bill Viola (The Theatre of Memory, Video. Installation, 1985). Die Faszination durch Camillo im ausgehenden 20. Jahrhundert beruht auf dem Interesse an neuen Formen visueller Medialität. Diesen Deutungen gemeinsam ist die Ansicht, dass es sich beim Computer um eine moderne Form des Gedächtnistheaters handelt. Darüber hinaus werden Gedächtnistheater als physische und virtuelle Installationen geschaffen. Das Kunstkammerprojekt (1992) der Malerin Barbara Fahrner zitiert aus Camillos Struktur kosmologischer Gemeinplätze und setzt sich das Ziel, in diesen ‚loci‘ auf großen Schautafeln Bild-Bewegungen zu vermitteln.

7. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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