1. Titel
2. Verfasser und Verleger
Über den Kompilator und Verleger ist nichts bekannt. Der Text Friedrich Schillers (1759-1805) ist keine für diesen Band geschriebene und autorisierte „Vorrede“, sondern wurde – wohl ohne seine Einwilligung – aus Verkaufstaktik einfach den einleitenden Seiten zum Verbrecher aus verlorener Ehre entnommen (gekürzt). Auch andere Texte sind – vermutlich nicht autorisierte – Raubdrucke.
3. Publikation
3.1. Erstdruck
Erschien 1799 in Gotha und Weimar.
Standorte des Erstdrucks
- Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. Crim 464e
- Deutsches Literaturarchiv Marbach, Sign. H(Schiller)
- Landesbibliothekenverbund Österreich und Südtirol, Sign. A 51401
3.2. Vorlagen
Die Grundlage für den Bayerschen Hiesel bildete eine 1772 in Augsburg anonym publizierte Biographie, eine andere Fassung von Heinrich August Kerndörffer findet sich in den Biographien berüchtigter Schwärmer, Jauner, Mörder, Mordbrenner und Straßenräuber aus dem 18. Jahrhundert (Hannover 1797). Publizistisch ähnlich weit verbreitet ist das Porträt des Erzscharlatans Cagliostro, Vorbild für Goethes Groß-Cophta oder Schillers Geisterseher. Die im Schauplatz der ausgearteten Menschheit vorgelegte Version folgt (ohne Vorreden) wörtlich der ersten deutschen Übersetzung von Giovanni Barberis Compendio della vita, e delle gesta di Giuseppe Balsamo denominato il Conto Cagliostro (Zürich 1791; Text in: Kiefer, S. 456–607). Wie diese Beispiele zeigen, würden sich wahrscheinlich für alle hier versammelten Verbrecherbiographien verschiedene Vorlagen finden lassen. In Einzelausgaben gibt es etwa (Nr. 2) die Vollständige Geschichte Mandrins, des französischen Conterbandiers wertvolles politisches Testament (Greifswald 1756); (Nr. 3) Des Berüchtigten Spitz-Buben in London Johann Sheppards, Lasterhafftes Leben und Schändliches Ende (1725); (Nr. 3+4) Geschichte zweyer berüchtigten Strassenräuber Johann Sheppard eines Engelländers und Ludwig Dominicus Cartouche, eines Franzosen (Frankfurt 1763); (Nr. 11) Leben und Abentheuer des berüchtigen Rebellen Jemelian Pugatschew, welcher sich in dem südlichen Russland für Peter III. ausgab. Nach dem Russischen Original des Hrn. F. S. G. W. D. B. in das Französische und aus diesem in das Deutsche übersetzt (London, i.e. Leipzig 1776); (2. Aufl., Bd. 2, Nr. 6) Theodor Ferdinand Kajetan Arnold: Schinderhannes Bueckler genannt der berüchtigte Räuberhauptmann (Erfurt 1802/03).
3.3. Weitere Ausgaben
Bd. 1: Schauplatz der ausgearteten Menschheit oder merkwürdige Lebensumstände der berüchtigsten Bösewichte und Betrüger der neuern Zeit. Mit einer Vorrede von Friedrich Schiller. Erstes Bändchen. Zweyte vermehrte Auflage. Gotha und Weimar 1809.
Bd. 2: Schauplatz der ausgearteten Menschheit oder merkwürdige Lebensumstände der berüchtigsten Bösewichte und Betrüger der neuern Zeit. Mit einer Vorrede von Friedrich Schiller. Zweytes Bändchen. Zweyte vermehrte Auflage. Gotha und Weimar 1809.
Bd. 1: Schauplatz der ausgearteten Menschheit oder merkwürdige Lebensumstände der berüchtigsten Bösewichte und Betrüger der neuern Zeit. Mit einer Vorrede von Friedrich Schiller. Erstes Bändchen. Dritte vermehrte Auflage. Gotha und Weimar 1816.
Bd. 2: Schauplatz der ausgearteten Menschheit oder merkwürdige Lebensumstände der berüchtigsten Bösewichte und Betrüger der neuern Zeit. Mit einer Vorrede von Friedrich Schiller. Zweytes Bändchen. Dritte vermehrte Auflage. Gotha und Weimar 1816.
3.3.1. Digitale Ausgaben der Ausgabe von 1799
- München: bsb digital. Vorlage: Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek, Sign. Crim. 464 e.
- Google ebooks 2010. Vorlage: Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek, Sign. Crim. 464 e.
4. Inhalt
Vorrede von Friedrich Schiller, S. I-VI. 1. Mathias Klostermayer, oder der sogenannte Bayrische Hiesel, Wildschütz und Räuber, S. 1-35. 2. Louis Mandrin, Räuber, Kontrebandier und Geldmünzer, S. 36-85. 3. Johann Sheppard, Dieb und Strassenräuber, S. 86-118. 4. Ludwig Dominikus Cartouche, Anführer einer großen Räuberbande, S. 119-153. 5. Cagliostro, Charletan, S. 154-193. 6. Schröpfer, Betrüger und Geisterbeschwörer, S. 194-202. 7. Price, Banknotenverfälscher [mit Kupferstich], S. 203-208. 8. Giovanni Graf von Cajetani, Goldmacher, S. 209-218. 9. De la Mothe, französischer Spion, S. 219-224. 10. Gordon, englischer Spion, S. 225-231. 11. Pugatschew, Rebell und Räuberhauptmann, S. 232-301.
2. Aufl. 1809 / 3. Aufl. 1816
Bd. 1: 1. Mathias Klostermayer, oder der sogenannte Bayrische Hiesel, Wildschütz und Räuber. 2. Louis Mandrin, Räuber, Kontrebandier und Geldmünzer. 3. Johann Sheppard, Dieb und Straßenräuber. 4. Ludwig Dominikus Cartouche, Anführer einer großen Räuberbande. 5. Cagliostro, Charletan. 6. Schröpfer, Betrüger und Geisterbeschwörer.
Bd. 2: 1. Price, Banknotenverfälscher. 2. Giovanni Graf von Cajetani, Goldmacher. 3. De la Mothe, französischer Spion. 4. Gordon, englischer Spion. 5. Pugatschew, Rebell und Räuberhauptmann. 6. Johannes Bükler, unter dem Namen Schinderhannes, Haupt einer Räuberbande.
Diese Textsammlung über berühmte Verbrecher, Betrüger, Scharlatane ist ein gutes Beispiel für die rasch steigende Popularität des Kriminalgenres. Der Kompilator oder Verleger fügt vorhandene Texte mit willkürlichen Kürzungen ohne Nennung der Verfasser oder Erstdrucke zusammen, um wirtschaftlichen Gewinn aus der noch jungen literarischen Mode zu schlagen. Die erste Geschichte bearbeiteten 1791 schon der Gymnasiallehrer Friedrich Eberhard Rambach (Kap. 1–11) und sein Schüler Ludwig Tieck (Kap. 12–23). Sie erschien in der von Tieck und Johann Gottfried Lucas Hagemeister herausgegebenen Sammlung Thaten und Feinheiten renomirter Kraft- und Kniffgenies (Bd. 2, Berlin 1791, vgl. Tieck); im gleichen Band steht das von Hagemeister bearbeitete Leben von Karl Price (Nr. 7 im Schauplatz der ausgearteten Menschheit).
5. Kontext und Klassifizierung
Durch einen sorgfältigen Abgleich solcher Buchvorlagen und verstreuter Zeitschriftenbeiträge mit dem Schauplatz der ausgearteten Menschheit könnte das literarische Feld der Kolportage- und Unterhaltungsliteratur sicherlich eingehender sondiert werden. Bereits die wenigen Nachweise verdeutlichen aber, dass es sich hier um ein marktgängiges Bucherzeugnis handelt, das durch rasch zusammengestohlene Texte dem Sensationsbedürfnis des Lesepublikums um 1800 Genüge leistet.
Die Wirkung auf das Publikum verdankt sich der starken Heroisierung großer Verbrecher, deren innere Motivation durch das biographische Erzählverfahren aufgedeckt wird. Carmen Pinilla Ballester entnimmt diese Strategie zu Recht schon den Titelstichworten: „Bereits in der Wortwahl des Titels ist die Programmatik der Sammlung, ihr theoretisches wie erzählerisches Konzept ablesbar. Dem Leser wird eine bühnenartige Perspektive auf das Erzählereignis suggeriert. Diese theatralische Ausrichtung des Geschehens, die noch an die Räumlichkeit des Schafotts erinnert, dient der Vorführung einer anthropologischen Wahrheit: Exemplarisch ist die Biographie des Verbrechers dort, wo sie als Ausartung auftritt und sichtbar gemacht wird. ‚Merkwürdig’ sind die ‚Lebensumstände’ der Kriminellen der ‚neuern Zeiten’ in eben dem doppelten Sinngehalt dieses Adjektivs. Einmal im Sinne von ‚denkwürdig’, als ein Faktum, das historische und historiographische Relevanz beanspruchen kann. Die Überlieferung der verbrecherischen Vita ist Denkmal und Denkzettel zugleich. Und darüber hinaus auch im Sinne von ‚eigenartig’ oder ‚seltsam’: Die Erzählbarkeit der kriminellen Laufbahn soll als eine Registratur normabweichender Verhalten und Verhältnisse fungieren.“ (Ballester, S. 23f.) Tatsächlich wird hier Menschenkunde am Extrem betrieben, um das große Publikum über die Bandbreite sozialer Abgründe und menschlicher Verirrungen zu belehren. Insofern ist die Vorrede Schillers passend gewählt. Denn Schiller setzt schon mit seinem ersten Satz auf den unterrichtenden Gehalt von Verhaltensabweichungen des Menschen, auf „die Annalen seiner Verirrungen“ (S. I), und betont im weiteren Verlauf der Vorrede die Notwendigkeit eines den Helden kühl beurteilenden Publikums: „wir müssen mit ihm bekannt werden, ehe er handelt; wir müssen ihn seine Handlungen nicht nur vollbringen, sondern auch wollen sehen.“ (S. IV) In seiner Vorrede zu einer Neuausgabe der Rechtsfälle von Pitaval (Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von Schiller. 4 Bde. Jena 1792–1795) fügt Schiller 1792 hinzu, dass die „guten Schriftstellern zu edleren Zwecken“ viel von Unterhaltungsautoren lernen können (dazu Košenina 2005b). Der Schauplatz der ausgearteten Menschheit stellt dafür reichlich Material zur Verfügung.
6. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
- Carmen Pinilla Ballester: Erzählte Hinrichtungen. Zum literarischen Diskurs über Verbrechen und Strafe um 1800. Frankfurt/Main, Berlin, Bern [u.a.] 1992, S. 21-50
- Manfred Franke (Hg.): Schinderhannes. Kriminalgeschichte voller Abentheuer und Wunder und doch streng der Wahrheit getreu, 1802. Wiederaufgefunden im Jahre 1977 und herausgegeben. Berlin 1977
- Klaus H. Kiefer (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991
- Alexander Košenina: Recht – gefällig. Frühneuzeitliche Verbrechensdarstellung zwischen Dokumentation und Unterhaltung, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 15 (2005), S. 28-47
- Alexander Košenina:"Tiefere Blicke in das Menschenherz": Schiller und Pitaval, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 55 (2005), S. 383-395
- Pitaval: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von Schiller. 4 Bde. Jena 1792–1795
- Friedrich Eberhard Rambach: Thaten und Feinheiten renomirter Kraft- und Kniffgenies. München [u.a.]: Saur, 1990-1994 (=Bibliothek der deutschen Literatur), 128 Mikrofiches
- Ludwig Tieck: Matthias Klostermayr oder der Bayersche Hiesel. Hg. von Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz. Frankfurt/Main, Leipzig 2005
- Marianne Willems: Der Verbrecher als Mensch. Zur Herkunft anthropologischer Deutungsmuster der Kriminalgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung 14 (2002), S. 23-48