Treuherzige Warnung (1571) - Einleitung
verfasst von Henning Jürgens/ Johannes Hund
[Inhaltsverzeichnis]

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Einleitung

1. Historische Einleitung

Das Erscheinen des „Wittenberger Katechismus“ zu Jahresbeginn 1571 rief
eine Flut von Gegenschriften hervor. Als erster auswärtiger Theologe übte
(5)der Superintendent von Halle, Sebastian Boëtius1 , ein Vertreter der ersten
Schülergeneration Luthers und Melanchthons, von der Kanzel herab Kritik
an dem soeben erschienenen Werk.2 Außerdem stellte er eine Liste der seiner
Meinung nach im Katechismus enthaltenen Irrlehren auf und ließ diese dem
Rat der Stadt zukommen. Damit hatte die theologische Kritik auch eine
(10)politische Dimension bekommen; der Rat musste reagieren. Er schickte ein
Exemplar des „Wittenberger Katechismus“ und der noch ungedruckten
Schrift des Boëtius an den Braunschweiger Superintendenten Martin
Chemnitz
mit der Bitte um Stellungnahme. Am 1. April 1571 antwortete
Chemnitz dem Rat der Stadt Halle mit einem Brief, in dem er eine
(15)ablehnende Position dem Katechismus gegenüber bezog. Die Anfrage an
Chemnitz belegt, wie groß die Autorität des Braunschweiger Theologen in
den lutherischen Gebieten war: Halle als Residenzstadt des Bistums
Magdeburg stand unter der Hoheit eines lutherischen Bischofs, doch wandte
sich der Rat an Chemnitz.
(20)Chemnitz' Stellungnahme verbreitete sich rasch handschriftlich. Gedruckt
wurde sie wenige Wochen später, im Mai 1571, unter dem Titel „Treuherzi-
ge Warnung“
in Königsberg. Den Druck veranlasste Joachim Mörlin. Mörlin
war mit Chemnitz seit langem befreundet und hatte mit ihm zusammen 14
Jahre lang in Braunschweig gewirkt. Seit 1567 versah er das Amt des
(25)Bischofs von Samland und war der führende Theologe des Herzogtums
Preußen. Indem er Chemnitz' Schrift den Pfarrern und Lehrern seines Bis-
tums empfahl und eine scharfe Warnung vor dem „Wittenberger Katechis-
mus“ aussprach, die auch einen Zensurbefehl an die preußischen Buchhän-
dler umfasste, verfolgte er weiter seine Linie der theologischen Positionie-
(30)rung Preußens in Übereinstimmung mit den norddeutschen Territorien. Eine
eigene Schrift zu verfassen, war Mörlin aufgrund seiner langen Krankheit
nicht mehr möglich. Er starb kurz nach Erscheinen der „Treuherzigen War-
nung“
. Als gewissermaßen gemeinsame Stellungnahme zweier der wichtigs-
ten Theologen Norddeutschlands wird der Text im Folgenden ediert.
(35)Die Schrift des Boëtius ging unter dem Titel „Index Cinglianorum quorun-
dam errorum“
erst später, jedoch noch vor September 1571, unter dem Na -
men der Pfarrerschaft von Halle in den Druck.


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2. Die Autoren

2.1. Joachim Mörlin

Joachim Mörlin (1514–1571) begann 1532 ein Studium in Wittenberg.
Nachdem er 1536 den Grad eines Magisters erworben hatte, wurde er 1539
(5)Luthers Kaplan. Im folgenden Jahr wurde Mörlin zum Doktor theol. pro-
moviert und ging als Superintendent nach Arnstadt. 1544 wurde er vom Rat
zum Prediger an St. Johannis in Göttingen berufen. Wegen seines öffentli-
chen Widerstands gegen das Augsburger Interim musste er Göttingen verlas-
sen und fand Aufnahme in Preußen. Er traf 1550 in Königsberg ein und
(10)erhielt die Stelle des Predigers am Dom. Nur wenig später brachen die Strei-
tigkeiten um die Rechtfertigungslehre Andreas Osianders aus. Anfangs nahm
Mörlin eine vermittelnde Rolle ein, doch seit dem Frühjahr 1551 trat er Osi-
ander
auf der Kanzel des Doms scharf entgegen und veröffentlichte Schriften
gegen ihn. Nachdem Mörlin auch Herzog Albrecht, der sich im Streit auf
(15)Osianders Seite gestellt hatte, öffentlich kritisiert und die Gemeinde zum
Ungehorsam gegen den Eingriff des Herzogs in Glaubensfragen aufgefordert
hatte, wurde er am 14. Februar 1553 entlassen und ging nach Braunschweig.
Er versuchte 1557 – vergeblich – zwischen Flacius und Melanchthon zu ver-
mitteln, nahm am Wormser Religionsgespräch teil, wo er die Flacianer und
(20)Weimarer Theologen unterstützte, stellte sich aber später in der Erbsünden-
frage gegen Flacius. Gegen den Frankfurter Rezess (1558) und die Beschlüs-
se des Naumburger Fürstentags1561 formulierte er auf dem Lüneburger
Städtekonvent
1561 die Position des norddeutschen Luthertums. Zudem
betrieb er die Verurteilung Albert Hardenbergs auf dem niedersächsischen
(25)Kreistag. 1567 wurde er, kurz vor dem Tod Herzog Albrechts, auf Wunsch
der Stände nach Preußen zurückberufen und im Herbst zum Bischof von
Samland ernannt. Gemeinsam mit Chemnitz erarbeitete er die neue Lehr-
grundlage der preußischen Kirche, das sog. Corpus doctrinae Prutenicum,3
auf die alle Prediger verpflichtet wurden. Kurz vor seinem Tod bezog er
(30)noch gegen die Lehre der Wittenberger Professoren Stellung. Er starb am 29.
Mai 1571 in Königsberg.4


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2.2. Martin Chemnitz

Martin Chemnitz (1522–1586) begann sein Studium 1543 in Frankfurt a.d.
Oder
. 1545 wechselte er nach Wittenberg und begann auf Anraten Melan-
chthons
mit dem Studium der Mathematik und Astrologie. Bei Martin Luther
(5)besuchte er nur wenige Vorlesungen. 1547 wechselte Chemnitz nach Kö-
nigsberg
, wo er zum Magister promoviert wurde. Am 5. April 1550 erhielt er
die Bibliothekarsstelle am Hof Albrechts von Preußen. Dies ermöglichte ihm
eine umfassende Lektüre theologischer Schriften von den Kirchenvätern bis
zu Luther. Im April 1553 kehrte Chemnitz nach Wittenberg zurück, wo er
(10)bald zum engsten Schülerkreis Melanchthons gehörte. Am 15. Januar 1554
wurde er Mitglied der philosophischen Fakultät und hielt ab Mai desselben
Jahres Vorlesungen über Melanchthons Loci theologici. 1554 wurde Chem-
nitz
Stellvertreter Mörlins als Stadtsuperintendent von Braunschweig. Durch
das Maulbronner Kolloquium von 1564 kam er in Kontakt mit der Christolo-
(15)gie des Johannes Brenz, die er mit der in Wittenberg vertretenen Lehre zu
vermitteln versuchte. Nach der Rückkehr Mörlins nach Preußen wurde
Chemnitz am 15. Oktober 1567 zu dessen Nachfolger als Stadtsuperinten-
dent ernannt und 1568 in Rostock zum Doktor der Theologie promoviert.
Am 28. Juli 1568 berief ihn Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg zur
(20)Durchführung der Reformation in seinem Territorium. 1570 veröffentlichte
Chemnitz mit „De duabus naturis in Christo“(VD 16 C 2162) sein
christologisches Hauptwerk.5

3. Inhalt

Die Schrift besteht aus zwei Teilen: der Vorrede Mörlins und dem Gutachten
(25)des Chemnitz. In der Vorrede betont Mörlin seine Verantwortung, als
Bischof von Samland den Verfälschungen der Abendmahlslehre entgegen-
treten und vor dem „Wittenberger Katechismus“ warnen zu müssen. Krank-
heitshalber könne er aber nicht selber tätig werden. Deshalb empfiehlt er den
ihm anvertrauten Theologen und Lehrern das nachfolgende Gutachten.
(30)Chemnitz' Stellungnahme ist nach Stil und Form ein Antwortbrief an den
Rat von Halle, den er dafür lobt, dass er seine Verantwortung als christliche
Obrigkeit wahrnehmen und die calvinistische Sakramentenlehre abwehren
wolle, ohne den neuen „Wittenberger Katechismus“ leichtfertig zu ver-
werfen. Chemnitz habe diesen deshalb genau untersucht. Er sei zu dem
(35)Ergebnis gekommen, dass der Katechismus die Lehre Zwinglis, Calvins und
anderer fördere, während die Positionen Luthers zu Christologie, Himmel-


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fahrt und Sitzen zur Rechten Gottes verworfen würden. Das sei offensicht-
lich im Artikel zur Himmelfahrt, in dem Act 3,21 in passivischer Überset-
zung als leibliches Umschlossensein Christi im Himmel verstanden werde.
Daraus folge, dass Christi Leib im Abendmahl nicht wesentlich gegenwärtig
(5)sein könne. Auch die Aussagen zur Communicatio Idiomatum seien so
gefasst, dass eine Gegenwart der menschlichen Natur im Abendmahl ausge-
schlossen sei. Im Abendmahlsartikel selbst lasse es der Katechismus an
Definitionen Luthers fehlen und könne sich auch nicht zu einer klaren Ver-
werfung der calvinistischen Lehre durchringen. Vielmehr ließen die Formu-
(10)lierungen des Katechismus die calvinistische Position durchaus zu, während
ihr widerstreitende Artikel ausgelassen würden. Es seien auch noch weitere
Stücke in dem Katechismus problematisch, doch habe Chemnitz sich in die-
sem Gutachten auf den Beweis konzentriert, dass der Katechismus calvini-
siere und diesen schädlichen Geist in den Schulen der Jugend einzuprägen
(15)versuche. Der Rat als christliche Obrigkeit werde wohl wissen, wie er damit
umzugehen habe.

4. Ausgaben

Der Text kann nur in einer Druckausgabe nachgewiesen werden, die der Edi-
tion zugrunde liegt:
(20)A:Treuhertzige War= || nung des Gottsgelerten frommen || Dieners Christi
/ zu Braunschweig / Do= || ctoris Martini Kemnitij. || Wider den Newen
Caluinischen || Catechismum / der Theologen zu || Wittenberg. ||
Gedruckt zu Knigsperg in || Preussen / Anno 1571.
[9] Blatt 4° (VD 16
C 2222)
(25)Vorhanden: BERLIN, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: 4 an: Dm 989 (benutztes
Exemplar)
COBURG, Landesbibliothek: Cas A 5666:4
HALLE, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt: Vg 1643,QK

Kommentar
1 Vgl. Henning Jürgens, Boethius, Sebastian, in: Biographien zum Forschungsprojekt „Contro-
versia et Confessio“, http://www.controversia-et-confessio.adwmainz.de; zuletzt besucht am
13.12.05, sowie Friedrich Wilhelm Bautz, Art. Boetius, Sebastian, in: BBKL 1 (1990), 669.
2 Vgl. hierzu Hund, Das Wort ward Fleisch, 223–227.
4 Vgl. Henning Jürgens, Mörlin, Joachim, in: Biographien zum Forschungsprojekt „Controversia
et Confessio“, http://www.controversia-et-confessio.adwmainz.de; zuletzt besucht am 13.12.05
sowie Martin Stupperich, Art. Joachim Mörlin, in: TRE 23 (1994), 193–196.
5 Zu weiteren biographischen Informationen vgl. Johannes Hund, Chemnitz, Martin, in: Biogra-
phien zum Forschungsprojekt „Controversia et Confessio“, http://www.controversia-et-
confessio.adwmainz.de
; zuletzt besucht am 13.12.05 sowie Theodor Mahlmann, Art. Martin
Chemnitz, in: TRE 7 (1981), 714–721.
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