Einleitung
1. Historische Einleitung
Die Veröffentlichung des „Wittenberger Katechismus“ zu
Jahresbeginn 1571stieß auf erheblichen Widerspruch im lutherischen Lager. Die Kritik
entzündete sich fast ausnahmslos an den
christologischen Aussagen über die Himmelfahrt und das Sitzen der
menschlichen Natur Christi zur Rechten Gottes. Die Kritiker verstanden die
Aussagen der Wittenberger so, dass eine Realpräsenz von Christi
Leib und Blut im Abendmahl unmöglich würde: Mit der passivischen
Übersetzung von Act 3,21 „oportet
Christum coeli capi“, der Schlüsselstelle für die gesamte
Diskussion, schien eine Verortung der Menschheit Christi exklusiv im Himmel
ausgesagt zu sein. Hinzu kam noch, dass der Genfer Theologe Theodor Beza diese passivische
Übersetzung in seinen Schriftkommentaren als exegetischen Beleg gegen die
Vorstellung von einer gleichzeitigen Präsenz der Menschheit Christi im
Himmel und in den irdischen Abendmahlsfeiern geltend gemacht
hatte.1 Die
Wittenberger Theologen gerieten so – bewusst oder unbewusst – in die Nähe
der Argumentation des wichtigsten calvinistischen Theologen jener
Zeit. Angesichts der Brisanz der Abendmahlsfrage für die
innerprotestantischen Lehrauseinandersetzungen und angesichts des
hohen theologischen Stellenwerts des Altarsakraments konnte die
Kritik in den Gegenschriften lutherischer Herkunft nur heftig
ausfallen.Nikolaus Selnecker, der
Generalsuperintendent von Braunschweig- Wolfenbüttel, setzte sich mit seiner
„Commonefactio“ als einer der ersten kritisch mit dem „Wittenberger
Katechismus“ auseinander.2 Doch nannte er seine Gegner nicht mit
Namen und beschränkte seine moderate Kritik auf die passivische
Übersetzung von Act 3,21. Dass sein
Ausgleichskurs nur bedingt erfolgreich war, zeigte die Veröffentlichung der
„Disputatio
grammatica“nach dem 3. Juni 1571. Dieser anonym
erschienene Druck, verfasst von dem Professor für griechische Literatur Esrom Rudinger, stellt eine direkte
Wittenberger Antwort auf die „Commonefactio“Selneckers dar und versteht
sich als Widerlegung der darin geäußerten Kritik an der theologisch
prekären Übersetzung von Act
3,21. Die „Disputatio grammatica“ und die
öffentliche Stellungnahme Caspar
Crucigers d.J., des Rektors der Universität Wittenberg, die als Anhang der „Disputatio
grammatica“ veröffentlicht und in der jede Kritik am
Wittenberger Katechismus zurückgewiesen wurde, zeigten unmissverständlich, dass aus den einstigen Kollegen nun theologische
Gegner geworden waren. 2. Die Autoren
2.1 Esrom Rudinger
Autor des anonym erschienenen Drucks ist der Physiker, Philologe und
PhilosophEsrom
Rudinger (1523–1590).3 1535 immatrikulierte er sich in Leipzig zum Studium der Artes, das er im
Sommersemester 1539 mit dem Grad eines
Baccalaureus abschloss. Im Wintersemester 1545 erlangte
Rudingerden Grad eines Magisters. Von Oktober 1546 bis
Ende September 1547übernahm er eine Dozententätigkeit an der Universität Leipzig. 1549 wurde er auf Empfehlung Melanchthons zum Rektor der Zwickauer Ratsschule ernannt und
blieb in diesem Amt bis September 1557. Der
andauernde Konflikt mit dem lutherischen Pfarrer von Zwickau, Johannes Petreius, führte dazu, dass RudingerZwickau verließ und ab 1557 als Professor für Physik an der Universität
Wittenberg tätig wurde. 1570 erging an ihn der Ruf zum
Professor für griechische Literatur. 1559 und
1570 übernahm Rudinger das Dekanat der philosophischen
Fakultät; 1562 wurde er Rektor der Universität. In
den Auseinandersetzungen um den Wittenberger Katechismus von 1571stand Rudinger auf Seiten der
theologischen Fakultät. Im Juni 1574 zum Torgauer Verhör bestellt, weigerte er sich, die anticalvinistischen Torgauer
Artikel zu unterschreiben und floh,4 einer Bestrafung
zuvorkommend, im September nach Berlin.5 Autor der öffentlichen Verlautbarung der Universität Wittenberg, die den Anhang der „Disputatio grammatica“ bildet, ist Caspar Cruciger d.J. (1525–1597), der an Ostern 1571 das Rektorat übernommen hatte.6 Der Sohn des Wittenberger Theologen Caspar Cruciger d.Ä. erhielt seine erste Bildung durch seinen Vater und Philipp Melanchthon. Am 22. Februar 1556 zum Magister Artium promoviert, begann er auf Vorschlag der Universität am 26. April 1557 seine Lehrtätigkeit in der Artistenfakultät. In dieser Stellung begann Cruciger, auch Vorlesungen über theologische Themen zu halten. Nach dem Tod Melanchthons erhielt er am 10. April 1561 dessen theologische Lektion, verbunden mit der Auflage, zu promovieren. Am 16. Mai 1561erreichte er den Grad eines Lizentiaten der Theologie. Am 14. Dezember 1569 in die theologische Fakultät aufgenommen, disputierte Cruciger am 4. März 1570 über eine Thesenreihe Georg Majors zum neuen Gehorsam, bevor er am 11. Mai 1570 zusammen mit Christoph Pezel, Heinrich Moller, Friedrich Widebram, Johannes Bugenhagen d.J. und Nikolaus Selneckerzum Doktor der Theologie promoviert wurde. An Ostern 1571 übernahm er das Rektorat der Universität Wittenberg. Als er sich im Juni 1574 weigerte, die Torgauer Artikel zu unterschreiben, wurde er zunächst nach Naumburgverbannt. Am 19. November 1576 wurde Cruciger dazu verpflichtet, Kursachsen auf immer zu verlassen und nichts gegen den Kurfürsten, seine Lande, seine Kirchen und Universitäten zu schreiben.7
3. Inhalt
Rudinger beginnt seine „Disputatio
grammatica“ mit der Feststellung, dass sein alter Freund Selnecker die Veröffentlichung
des Wittenberger Katechismus, der doch nur eine Zusammenstellung
von Aussagen der beiden Wittenberger Reformatoren
darstelle, zum Anlass genommen habe, sich nun wie die Gesinnungsgenossen
des Flacius auch in einer
Kampfschrift gegen seine alten Kollegen zu profilieren. Es habe sich
während der letzten Monate eine regelrechte Phalanx von „Flacianern“ und anderen
Theologen gebildet, die bislang nicht zu dieser Gruppe gerechnet werden
wollten, welche gegen den „Wittenberger Katechismus“
Stimmung mache. Selnecker habe
in seiner Kampfschrift, die er wohl zusammen mit seinem neuen Kollegen Martin Chemnitz verfasst
habe, vor allem die Definition der Himmelfahrt Christi kritisiert. Rudinger wirft Selnecker vor, in seinem Eintreten für die
Realpräsenz von Leib und Blut Christi im Abendmahl den
Artikel von der Himmelfahrt zu zerstören und Christus
seine wahre Menschheit zu rauben, da eine mit der göttlichen Eigenschaft
der Allgegenwart ausgestattete Menschheit weder fortan wahrhaft menschlich
noch tatsächlich räumlich in den Himmel aufgefahren sein könne. Selnecker verneine den
Charakter des Abendmahls als Zeichen für den Glauben, indem er versuche,
den abgöttischen papistischen Aberglauben von
der Anbetung des Brotes wieder zur Geltung zu bringen.An diese einleitenden Bemerkungen schließt sich eine auf die griechische
Grammatik rekurrierende Widerlegung der Behauptung Selneckers an, die einzig richtige
Übersetzung von Act 3,21 sei die
aktivische: „Christus musste den Himmel einnehmen“. Dagegen
stellt Rudinger fest, dass die
grammatikalische Konstruktion dieses Schriftverses keine
eindeutige Entscheidung darüber zulasse, ob die Form δέξασθαι aktivisch
oder passivisch zu übersetzen sei. „Christus musste den Himmel
einnehmen“ und „Der Himmel musste Christus einnehmen“ seien beides
grammatikalisch richtige Übersetzungen. Der altkirchliche Theologe Gregor von Nazianz habe Act 3,21 passivisch verstanden,
und auch Luther habe diese
Schriftstelle in seiner lateinischen Bibelübersetzung entsprechend
übertragen. Mit seiner Kritik an der lateinischen Wiedergabe des
Verses im Wittenberger Katechismus gebe sich Selnecker deshalb auch
als Gegner Luthers zu erkennen, der
die Doppeldeutigkeit von Act
3,21 akzeptiert habe. In der Zeit zwischen seiner Himmelfahrt und seiner leiblichen Wiederkunft
sei Christus seiner Menschheit nach den irdischen Augen entzogen und exklusiv am himmlischen Ort präsent. Von einer irdischen Gegenwart
Christi in seiner Menschheit hingegen spreche Lukas nicht. Doch sei
der Gottessohn während der Zeit seiner leiblichen Abwesenheit durch seinen
Heiligen Geist bei den Gläubigen bis zu seiner Wiederkunft auf Erden
gegenwärtig. Diese räumliche Abwesenheit betreffe exklusiv die Menschheit
Christi, für die die menschliche Eigenschaft der Lokalität an einem Ort gelte. Die Gottheit Christi
hingegen sei an keinen Ort gebunden, sondern erfülle allgegenwärtig alle
Orte im Himmel und auf Erden.Da auch Selnecker die räumliche
Auffahrt der Menschheit Christi in den Himmel nicht verleugne, sei es auch
ihm unmöglich, dessen Allgegenwart zu behaupten. Denn Christi menschliche
Natur sei seit ihrer Himmelfahrt eben dort zu suchen und nirgendwo
sonst. Spräche man Christus auch nach seiner Menschheit die Allgegenwart
zu, so verlöre sie ihre konstitutive Eigenschaft der räumlichen
Umschriebenheit und würde aufhören, eine wahre Menschheit zu
sein. Um Christus jedoch als Retter der Menschheit verehren zu können, sei die Unversehrtheit seiner Gottheit und Menschheit unbedingt vonnöten. Bekenne man sich aber zur wahren Menschheit
Christi, so ergebe sich zwangsläufig, dass diese nach der Himmelfahrt eben
dort und nicht mehr auf Erden zu suchen sei. Denn wie könne man die
Wiederkunft Christi seiner Menschheit nach erwarten, wenn man gleichzeitig
seine Präsenz auf Erden vertrete?Im Anschluss an die Disputation ist ein öffentliches Schreiben des
Rektors der Universität Wittenberg abgedruckt, das auf den 3. Juni 1571, das Pfingstfest,
datiert ist. Rektor war seinerzeit Caspar Cruciger d.J., Wittenberger Theologieprofessor und
Mitautor des Wittenberger Katechismus. Ziel des Schreibens ist
es, anlässlich des Pfingstfestes die Lehre von der Himmelfahrt,
der Verherrlichung und Erhöhung Christi in seiner Menschheit und von dessen
geistlicher Herrschaft zu entfalten. Wie Rudinger vertritt auch Cruciger die sichtbare, leibliche Auffahrt in den Himmel, durch die
Christus untrüglich vor Augen geführt habe, dass seine Herrschaft
keine irdische sei und er die Gläubigen durch seinen Geist regieren wolle.
Christus habe seiner Menschheit nach mit seiner Himmelfahrt alle irdischen
Schwächen, wie das Leiden und die Sterblichkeit, abgelegt und habe
himmlische Gaben, wie die Unsterblichkeit und die unvermittelte Schau des
göttlichen Wesens, erhalten. Auf diese Weise verherrlicht, regiere
der ganze Christus seine Kirche. Seine Menschheit sei aber durch diese
Verherrlichung weder aufgehoben noch abgelegt worden. Als Gott und Mensch
sei Christus das Haupt der Kirche und werde durch die Anbetung der Gemeinde
auf gleiche Weise geehrt wie der Vater.Obwohl die Gottheit und die Menschheit Christi in seiner Person
zusammen wirken, seien sie doch niemals miteinander vermischt. Weder die
Verherrlichung noch die Erhöhung der Menschheit Christi
entzögen ihr ihre wesentlichen Eigenschaften. Auch seien die
Eigenschaften des göttlichen Wesens nicht in Christi Menschheit ausgegossen
worden. So bleibe in Ewigkeit der Unterschied zwischen dem Schöpfer
und dem Geschöpf, zwischen Unendlichem und Endlichem, zwischen
dem göttlichen Wesen und dessen Eigenschaften und dem
menschlichen Wesen erhalten. Dennoch werde die Einigung der
Naturen in der Person Christi nicht aufgehoben. Den Gegnern des
Wittenberger Katechismus wirft Cruciger hingegen die Vermischung der Naturen
vor. Gegen ihre Angriffe ruft er den erhöhten Christus um Hilfe an und
bittet um die Gabe des Heiligen Geistes. 4. Ausgaben
Nachgewiesen werden können folgende Ausgaben:A: DISPVTATIO GRAM- || MATICA || DE INTERPRE= || TATIONE GRAECO= || RVM VERBORVM, || ACT. III. || Ἰησοῦν Χριστὸν ὃν δεῖ
οὐρανὸν δέξασθαι. || COMPLECTENS ἠθολογίαν RESPONSI- || onis,
qua Collegium Theologicum Academiae VVite= || bergensis uti posset
ad Chartam de his verbis superi= || oribus diebus editam, cui nomen
est || praescriptum || D. NICOLAI SEL= || NECCERI &c. || IOH.
I. || VENI ET VIDE. || VVITEBERGAE || ANNO M. D. LXXI.
[12] Bl. 4° (VD 16 S 5519)Vorhanden in:Erlangen, Universitätsbibliothek: an: 4º Thl.V, 67Gotha, Forschungsbibliothek: Th 2717 (13)Halle, Universitätsbibliothek: AB 154 093 (14)Jena, Universitätsbibliothek: 4º Bud. Theol. 224 (13); 4º Bud. Theol. 252
(25)München, Bayerische Staatsbibliothek: 8º Exeg.
1359oWeimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Aut.VII (10a)Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: 159 Quod. (7), 348.10 Theol.
(2), 420.6 Theol. (15), Alv U 120 (34).B: DISPVTATIO
GRAM- || MATICA || DE INTERPRE= || TATIONE GRAECO= || RVM VERBORVM,
|| ACT. III. || Ἰησοῦν Χριστὸν ὃν δεῖ οὐρανὸν δέξασθαι. ||
COMPLECTENS ἠθολογίαν RESPONSI- || onis, qua Collegium
Theologicum Academiae VVite= || bergensis uti posset ad Chartam de
his verbis superi= || oribus diebus editam, cui nomen est ||
praescriptum || D. NICOLAI SEL= || NECCERI &c. || Aucta &
recognita. || IOH. I. || VENI ET VIDE. || VVITEBERGAE || Exprimebat
Iohannes Schwertel. || ANNO M. D. LXXI. [12] Bl. 4° (VD 16 ZV
14331)8 Vorhanden in:Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: Bs 10401Gotha, Forschungsbibliothek: Theol. 4º 247/4 (5)Halle, Universitätsbibliothek: If 4527 (2); If 4600
(11)[benutztes Exemplar]B enthält
umfangreiche Ergänzungen gegenüber A, die in der Debatte um die
Wittenberger Abendmahlslehre und Christologie rezipiert wurden. Grundlage dieser Edition ist darum die Ausgabe B.