Bereits Ende der vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts setzte, ausgelöst durch
die innerprotestantischen Streitigkeiten im Anschluss an das Augsburger Interim und den Leipziger Landtagsentwurf1 von 1548,
ein theologischer Differenzierungsprozess ein, der weitreichende
Auswirkungen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene hatte.
Er führte zu einer reichen Bekenntnisbildung, die die noch
bestehende Vielfalt innerhalb der sich allmählich bildenden großen
protestantischen Konfessionen – Luthertum und Calvinismus
– in gleichzeitiger Abgrenzung von dem sich im Tridentinum erneuernden und konsolidierenden Katholizismus deutlich werden lässt. Die in diesem Band gebotenen Stücke stellen entscheidende Meilensteine und
Schnittstellen auf dem Weg zu einer
theologisch-konfessionellen Lehrbildung dar, die im Zuge öffentlich
ausgetragener Kontroversen Konturen gewann und zugleich durch die
historischen Rahmenbedingungen politischer und gesellschaftlicher
Art entscheidend beeinflusst wurde. Wie sehr theologische Optionen und
politische Entscheidungen miteinander verquickt waren, zeigt sich allein
schon darin, dass die alte Forschung mit Blick auf den hier abgeschrittenen zeitlichen und geographischen Raum oft vom „Sturz des Kryptocalvinismus in Kursachsen“ gesprochen hat. Dass mit der
Qualifizierung als „kryptocalvinistisch“ wohl eher sorgsam und kritisch
umzugehen ist,2
dass sich die Ereignisse und Diskussionen auch keineswegs nur auf
Kursachsen beschränkten, sondern von weitreichenden, grenzüberschreitenden
Auswirkungen waren, soll die kommentierte Edition der
entscheidenden Texte jener zwischen 1570/71 und 1574
ausgetragenen Kontroversen deutlich machen. Sie erschließen sich freilich
nur dann in ihrer gesamten, über den theologischen Gehalt
hinausgehenden Tragweite, wenn man sie vor dem Hintergrund der historischen
Konstellationen in den Blick nimmt, in denen sich die verschiedensten Faktoren wie Steinchen in einem Mosaikbild zusammenfügen.Mit dem Ausgang des Schmalkaldischen Kriegs (1546/47), der für die im Schmalkaldischen Bund gegen den
Kaiser zusammengeschlossenen evangelischen Stände in einer
empfindlichen Niederlage geendet hatte, war es u.a. zu einer Neuordnung der
politischen und dynastischen Verhältnisse in Sachsen gekommen. Die Ernestiner hatten ihre
Kurwürde und auch den Kurkreis Wittenberg an die Albertiner verloren, und dies gab der alten
Rivalität zwischen den wettinischen Linien neuen Auftrieb. Diese
äußerte sich nicht zuletzt in konfessionspolitischen Entscheidungen. Die
Ernestiner, Nachfahren und Nachfolger Friedrichs des Weisen, beförderten in ihren
Gebieten ein Luthertum, das sich in die direkte Erbfolge der
Theologie des großen Wittenberger Reformators Martin Luther einordnete, und beanspruchten für
ihren Herrschaftsbereich, trotz des Verlustes des reformatorischen Zentrums
Wittenberg, weiterhin als
Ursprungsland der Reformation zu gelten. Dem verlieh die Gründung einer
Hohen Schule bzw. Universität in Jena 1548/58Nachdruck.3 Denn hier sammelten sich all diejenigen, die sich in
die direkte Nachfolge Martin
Luthers stellten und sich insofern als seine theologischen
Sachwalter betrachteten. Die Forschung hat diese, zu keiner Zeit fest zu
umgrenzende und die unterschiedlichsten Koalitionen eingehende Gruppierung als „Gnesiolutheraner“4 bezeichnet. Zu ihnen gehörten u.a. Matthias Flacius
Illyricus, Johannes
Wigand, Tilemann
Heshusius, Matthäus Judexund in HamburgJoachim Westphal. Dagegen
orientierten sich die Albertiner in ihrer Religionspolitik an der Theologie
und Lehre Melanchthons, der
seit dem Tod Luthers im Jahre
1546 als die überragende
Autorität an der Universität Wittenberg galt. Sie setzten auf
diese Weise den politischen Rivalen gegenüber auch einen
theologischen Kontrapunkt. Mit den Universitäten Wittenberg und Leipzig
entwickelte sich der albertinische Zweig zu einem Hauptrepräsentanten
dieser Richtung. Hier waren nicht nur Schüler des Praeceptors vertreten,
sondern all diejenigen, die sich überhaupt zu Melanchthons theologischen
Nachfolgern rechneten. Dazu gehörten an der Wittenberger
Universität Georg Major (bis zu seinem
Tod Decanus perpetuus der Fakultät), Paul Eber sowie als dessen Nachfolger seit 1570Friedrich Widebram, außerdem Paul Crell
(1569 Übergang in das Konsistorium in Meißenund erst ab 1574 wieder Professor in Wittenberg). 1569 bis 1574 rückte Christoph Pezel, der wegen seiner kurzen Studienzeit bei Melanchthon als einziger
kaum als dessen Schüler gelten kann, auf Crells Position nach. Hinzu kamen Johannes Bugenhagen d.J. zunächst an der
philosophischen Fakultät, ebenso Caspar Cruciger d.J. und Heinrich Moller. Cruciger trat 1569, Bugenhagen
und Moller1570 durch Erwerb der theologischen Doktorwürde in die theologische Fakultät ein. Zu den gemeinsam Promovierten
gehörte neben Pezel und Widebram auch der damals als
Superintendent in Braunschweig
tätige Melanchthonschüler Nikolaus
Selnecker.5 Schon an dieser
Zusammensetzung der Wittenberger theologischen Fakultät wird die
überwiegend „philippistische“ Ausrichtung deutlich, von der sich auch
Selnecker damals noch
nicht scharf abgrenzte. Dies geschah aber mit seiner 1571, nach dem Erscheinen des Wittenberger Katechismus publizierten
„Commonefactio“,6 auf die der Wittenberger
Professor Esrom Rudingersogleich mit seiner „Disputatio grammatica“
reagierte, die dazu auch das öffentliche Ausschreiben des Rektors der
Universität Wittenberg, Caspar
Cruciger, als Anhang enthielt.7 Dass
all diese Konstellationen zu Reibungen unter den Theologen in den beiden
sächsischen Landesteilen und darüber hinaus führen mussten – und dafür sind
die zuletzt genannten Schriften bereits aussagekräftige Beispiele –,
liegt klar auf der Hand.Hinzu kam, dass auch personelle Veränderungen im Kurfürstentum und vor allem
bei Hofe dem „Philippismus“, d.h. der typisch melanchthonischen Theologie
im Unterschied zu Positionen des Gnesioluthertums, den Weg ebneten. So
wurde z.B. im Jahre 1560Caspar Peucer, ein ehemaliger
Schüler Melanchthons und dessen Schwiegersohn, auf eine medizinische Professur
an die Leucorea berufen. Kurfürst August betraute ihn außerdem mit der Aufsicht über die
Lateinschulen und machte ihn 1570 zu seinem Leibarzt.
Sein Einfluss trug dazu bei, dass die Religionspolitik Augusts die philippistische
Richtung weiterhin begünstigte. Als Rat stand dem Kurfürsten Georg Cracow zur Seite, der ebenso wie
der Franzose Hubert Languet,
welcher eine Zeitlang als diplomatischer Agent in Diensten Augusts von Sachsen stand,
nicht nur die philippistischen Tendenzen förderte, sondern auch einer
Öffnung in die Richtung des durch Theodor Beza repräsentierten Genfer Calvinismus zumindest den Weg ebnete.8 Auch dies beobachtete man von ernestinischer Seite
und aus der Perspektive der herzoglichen Theologen mit Misstrauen.Die auf territorialer Ebene angesiedelten Spannungen sind aber auch im
größeren westeuropäischen Kontext der wachsenden Reibungen zwischen
Vertretern der allmählich in Parteiungen zerfallenden Wittenberger
Theologie und derjenigen Zürcher und Genfer Prägung zu sehen.
Ausschlaggebend war die Erstellung des Consensus Tigurinus im Jahre
1549, der ab Februar
1551 gedruckt verbreitet wurde und die Übereinkunft zwischen dem
Zürcher Theologen Heinrich
Bullinger und dem Genfer Reformator Johannes Calvinin der Abendmahlslehre publik machte9 . Wenn
man bis dahin noch geglaubt oder gehofft hatte, in Calvin, der 1539 im
Zusammenhang seines Wirkens in Straßburg immerhin die Confessio Augustana invariata und später auf
dem Religionsgespräch von Worms und Regensburg die dort vorgelegte CA
variata unterzeichnet hatte10 , einen Gesprächspartner zu
finden, so identifizierten die Zeitgenossen von nun an die
calvinische Lehre mit der zwinglischen, die doch Martin Luther bereits im Zuge seiner
großen Auseinandersetzung mit Huldrych Zwingli in seiner Schrift „Vom Abendmahl
Christi. Bekenntnis“ (1528)11 endgültig, unter
Bezugnahme auf exegetische und christologische Argumente, scharf
zurückgewiesen hatte. Dass zudem der Calvinismus in Frankreich, den Niederlanden und in England in
den vierziger und fünfziger Jahren zunehmend an Terrain gewann,
beobachtete man allseits mit Besorgnis, zumal auch der Führer der
niederländischen Flüchtlingsgemeinde in London, Johannes a
Lasco, im Jahre 1552 den Consensus
Tigurinus zusammen mit seiner „Brevis et dilucida tractatio de
sacramentis ecclesiae Christi“12 wieder abdrucken ließ. Diesen Entwicklungen
trat im selben Jahr der Hamburger
Superintendent Joachim Westphal
mit seiner Schrift „Farrago confuseanarum et inter se
dissidentium opinionum de coena Domini, ex sacramentariorum libris
congesta“13 entgegen, um auf diese Weise eindringlich vor all
jenen zu warnen, die Luthers
Akzentsetzung auf der heilsvermittelnden, realen Gegenwart Christi im
Abendmahl in Abrede stellten. Die daraufhin beginnende Kontroverse des sog.
Zweiten Abendmahlsstreits brachte eine Problematik zur
Sprache, deren theologische Tragweite man bis dahin kaum in
voller Schärfe wahrgenommen hatte, nämlich die de facto bestehende
lehrmäßige Distanz zwischen dem sich formierenden Luthertum und dem sich
konsolidierenden Calvinismus, verbunden mit der Sorge um ein
allmähliches Abrücken vom rechten, reformatorischen Verständnis
der Heiligen Schrift in einem der zentralen Punkte evangelischen Glaubens
und evangelischer Lehre, nämlich dem Abendmahlsverständnis.Von entscheidender Bedeutung für Anliegen und Inhalt der in unseren Bänden dokumentierten, seit 1570/71 ausgetragenen heftigen
Auseinandersetzungen, die zwar ihr Zentrum in den sächsischen
Landesteilen hatten, aber auch über die Landesgrenzen hinaus wirkten, war
die Tatsache, dass im Jahre 1560 in Leipzig unter
dem Titel „Corpus
Doctrinae Christianae“ eine Zusammenstellung ausschließlich von
Schriften Melanchthons
erschienen war,14
welche 1566 auf Betreiben Caspar Peucers für Kursachsen die verbindliche Lehr- und Bekenntnisgrundlage wurde. Dies aber bedeutete zunächst keineswegs, dass sich die kursächsischen Theologen von Luther und seiner Theologie
abgewandt hatten, obwohl dies als Kritikpunkt immer wieder vorgebracht
wurde. Im Gegenteil: Ihr Bestreben ging dahin, die Lehrautoritäten
Luther und Melanchthon in einer Weise aufeinander zu
beziehen, die in der Zusammenstellung von Bekenntnissen und Lehrschriften
des Corpus Doctrinae Philippicum, auch genannt Corpus Doctrinae Misnicum, die volle Kontinuität zur von Luther einst in Gang gesetzten Wittenberger Reformation gewährleisten sollte. Dies hatte schon auf dem
Religionsgespräch von Altenburg (1568/69) zu Reibungen mit den Jenaer Theologen
geführt.15 Aber
besonders seit dem Beginn der konfessionellen Einigungsbemühungen
des WürttembergersJakob Andreae im Jahre 156816 kam es immer wieder zu neuen
Zusammenstößen. Thema dieser Konflikte, die übrigens nicht nur die
Württemberger zu Gegnern der Kursachsen machte, sondern auch die
norddeutschen, niedersächsischen Theologen unter Führung des Braunschweiger Superintendenten Martin Chemnitz, war zumeist
die christologische Fragestellung der Communicatio Idiomatum gewesen.Auch Melanchthon hatte diese
bereits in der mittelalterlichen Theologie entwickelte Lehre von der
communicatio idiomatum aufgegriffen und mit ihr argumentiert.17 Sowohl die Württemberger Theologen mit Johannes Brenz, als auch die norddeutschen Gnesiolutheraner
mit Martin Chemnitz an ihrer
Spitze hatten jedoch seine Ansätze weiterentwickelt. Für Melanchthon ist charakteristisch, dass
er die Communicatio Idiomatum, d.h. die in der Christologie verankerte
Mitteilung göttlicher Eigenschaften, lediglich als eine dialektische
Redeweise verstanden wissen wollte, um damit auszusagen, dass der ganzen
Person Christi, in welcher Gottheit und Menschheit – nach der
Lehre des Konzils von Chalkedon 451 – unverwandelt,
ungetrennt, ungesondert und unvermischt zusammenkommen, die Eigenschaften
und Leistungen sowohl der menschlichen, als auch der göttlichen Natur
wahrhaftig zugeschrieben werden können. Das bedeutete für die theologische
Lehrbildung, dass die Aussagen: Christus – als Person (d.h. als Mensch und als Gott) – leidet und stirbt,
Christus – ebenfalls als Mensch und als Gott – ist allmächtig,
allgegenwärtig und allwissend, möglich sind. Die Württemberger gingen
insofern darüber hinaus, als sie darauf aufmerksam machten, dass schon mit
der Inkarnation Gottes in Christus die beiden Naturen – Gottheit undMenschheit – eine so enge Gemeinschaft
miteinander eingingen, dass auch die Menschheit Christi in den Genuss
göttlicher Eigenschaften komme. Freilich habe der irdische Jesus diese
Eigenschaften nicht in Anspruch genommen. Aber nach seiner
Himmelfahrt und Erhöhung zur Rechten Gottes sei er auch nach und in seiner
Menschheit allgegenwärtig. Die communicatio idiomatum war für sie
also keineswegs nur eine dialektische Redeweise, sondern ein positives
Faktum. Die niedersächsischen Theologen nuancierten hier. Wie die
Württemberger Lutheraner vertraten sie, dass die unio personalis
der beiden Naturen in Christus und seine Erhöhung zur Rechten eine
Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur bewirke.
Dies bedeutete für sie aber nicht, dass Christus nun auch nach
seiner Menschheit per se und generell allgegenwärtig sei. Vielmehr stellten
sie vor diese spekulativ-theoretisch abgeleitete Allgegenwart das biblische
Zeugnis. Das bedeutete einen Rekurs vor allem auf die Einsetzungsworte des
Abendmahls: „Das ist mein Leib“. Sie galten ihnen als
Hauptbegründung für eine reale Gegenwart bzw. Allgegenwart des
Leibes und Blutes Christi. Die Christologie hatte für sie lediglich den
Zweck einer zusätzlichen Begründung in den Auseinandersetzungen
um die in der Nachfolge Luthers gelehrte Realpräsenz im Abendmahl. Die
niedersächsischen Theologen vertraten daher folgende Lehre: Christus ist
dort auch mit seiner menschlichen Natur allgegenwärtig, wohin er
sich durch seine biblisch verbürgte Zusage gebunden hat; mit anderen Worten: er ist dort auch nach seiner Menschheit
gegenwärtig, wo er es sein will. Die vor allem von den
Schweizer Theologen, allen voran Theodor Beza, in der gegnerischen Polemik als „Ubiquitätslehre“
gebrandmarkte Lehre von der Omnipräsenz der Menschheit Christi18 wurde auf diese Weise im Kontext des
souveränen göttlichen Willens verankert. Diese von Martin Chemnitz formulierte Lehre der
„Multivolipräsenz“ wurde Gegenstand seiner Hauptschriften19 und
trat auch in den Äußerungen der hier edierten Schriften der Niedersachsen
hervor.Es waren zunächst nur diese Differenzen in der Christologie, die die kursächsischen Philippisten von den niedersächsischen und
württembergischen, sich in strikter Nachfolge Luthers verstehenden Theologen unterschied. Was
die Abendmahlslehre anging, so vertraten auch die Wittenberger und
Leipziger die reale Anwesenheit der ganzen Person Christi im
Abendmahl, den Einsetzungsworten gemäß. Im Jahre 1564 hatte sich sogar die gesamte Wittenberger Fakultät
in einem Gutachten gegen eine nur geistliche Nießung von Leib und Blut im
Abendmahl ausgesprochen, wie sie der im Jahr zuvor publizierte Heidelberger
Katechismus gelehrt hatte.20 Zugleich aber wurde
mit den Veröffentlichungen der 1570er Jahre in Kursachsen sehr deutlich,
dass man die aus der Wittenberger Reformation hervorgegangene Abendmahlslehre keineswegs ausschließlich von Martin Luther her verstand, sondern neben
seine Lehrautorität diejenige Philipp Melanchthons stellte und auch lehrmäßig geltend machte.
Dies führte vor dem Hintergrund der geschilderten theologischen
Lehrentwicklungen und politischen Konstellationen zu öffentlich
ausgetragenen Diskussionen, die für die Religionspolitik Kursachsens
und seine Stellung im Reich von großer Tragweite waren.Die Auseinandersetzungen brachen auf, als Anfang des Jahres 1571 ein von Christoph
Pezel erstellter und als Gemeinschaftswerk der Wittenberger
Theologen gekennzeichneter neuer Katechismus gedruckt erschien,21 der dem in der schulischen Grundunterweisung
weiterhin benutzten Katechismus Martin Luthers zur Seite treten und
den in den höheren Klassen gelehrten Katechismus des David Chytraeus22
ablösen sollte. Dieser sogenannte Wittenberger Katechismus war in
lateinischer Sprache gedruckt worden und löste sofort scharfe Kontroversen
aus. Denn hier wurde eine Abendmahlslehre vertreten und
durch eine spezifische Christologie untermauert, die in den Augen der
Vertreter der Theologie Martin
Luthers von der Lehre der Confessio Augustana abwich und deutliche
calvinistische Tendenzen aufwies. Dass dies angesichts des
Augsburger Religionsfriedens, der lediglich den Anhängern der Augsburger
Konfession reichsrechtlichen Schutz garantierte, und vor
dem Hintergrund des kursächsischen Bemühens um ein gutes Einvernehmen mit
dem Kaiser23 von reichspolitischer Brisanz
sein musste, ist im historischen Rückblick mehr als deutlich.Die unterdessen angefertigte deutsche Übersetzung des Wittenberger Katechismus wurde denn auch aufgrund einer kurfürstlichen
Intervention nie gedruckt und ist in unserer Ausgabe erstmals in
kritischer Edition zugänglich.24
Der Wittenberger Katechismus fand eine inhaltliche Präzisierung und
Ergänzung in den „Wittenberger Fragstück“.25 Denn
die hier erörterten Fragen der Himmelfahrt Christi und des Sitzens zur
Rechten Gottes sollten die im Wittenberger Katechismus vertretene
Abendmahlslehre und Christologie durch zusätzliche
Klärungen stützen. An der Frage des rechten Verständnisses von
Himmelfahrt und Erhöhung des Gottessohnes schien sich nämlich nun zu
entscheiden, ob tatsächlich – wie die lutherische Lehre ausführte – auf
Grund der Erhöhung der Menschheit Christi in die Allmacht Gottes eine reale
und deshalb heilsvermittelnde Anwesenheit seines Leibes und Blutes
in und unter den Abendmahlselementen anzunehmen sei oder ob sie aufgrund
eines lokalen Verständnisses der Himmelfahrt und durch die räumlich Bindung
der Menschheit des Gottessohns im Himmel bis zu seiner endzeitlichen
Wiederkunft auszuschließen sei, wie es ein Teil der Philippisten
in Wittenberg – darin übereinstimmend
mit dem Genfer Calvinismus – vertrat. Zugleich aber haben die
Fragstück als Kontroversschrift im Kontext der begonnenen großen Debatte um
die Abendmahlslehre und Christologie der Wittenberger Theologen
des Jahres 1571 zu gelten. Denn die Publikation
des Wittenberger Katechismus hatte eine Flut von Gegenschriften nach sich
gezogen. Zu den herausragenden gehörten – neben der bereits erwähnten
„Commonefactio“Selneckers – die auf den Braunschweiger Theologen Martin Chemnitz und den
damaligen Bischof von Samland, Joachim Mörlin, zurückgehende
„Treuhertzige
Warnung“26 sowie die „Warnung vor dem unreinen
Catechismo“27 von den vier Jenaer Professoren Johannes Wigand, Tilemann Heshusius, Johann Friedrich Coelestin und
Timotheus Kirchner.Die Wittenberger Theologen antworteten
zunächst mit ihrer umfangreichen „Grundfest“.28 Es handelte
sich dabei um ein Bekenntnis, das die gesamte Lehre der Wittenberger im
Sinne Melanchthons enthielt
und sie gegen die Gnesiolutheraner verteidigte, zugleich aber kräftig gegen
diese bzw. die Niedersächsischen
und die Württemberger Theologen
polemisierte. Die Niedersachsen reagierten denn auch sofort mit einem –
wohl unter der Federführung des Martin Chemnitz verfassten – Bekenntnis,29 das von den
vier Braunschweig-Lüneburgischen Fürstentümern, von Mecklenburg, den Hansestädten Hamburg, Lübeck und Rostock, der dortigen
Universität und weiteren acht Städten des Reichskreises getragen
wurde.30 In der Grundfest
wurde demgegenüber das Bemühen erkennbar, die Einheit der beiden großen Reformatoren auf theologischer Ebene unbedingt zu wahren, auch wenn
man dazu Methoden der Polemik anwandte und tatsächlich Tendenzen
hervortraten, die die Gegner mitunter nicht zu Unrecht als
calvinisierend einstufen konnten. Dennoch waren die kursächsischen
Theologen lehrmäßig gesehen keineswegs heimliche Calvinisten, obschon sie
durchaus in brieflichem Kontakt mit den Heidelberger und Schweizer Theologen standen. Denn selbst der Consensus
Dresdensis,31 der im Oktober 1571 erstellt wurde, verfolgte weiterhin
jene auf die eine Wittenberger Reformation zielende
integrative Linie und hob in diesem Sinne auf den Zusammenhalt der Wittenberger Reformatoren ab. Diese als Dresdener Konsens bekannte
und von den Wittenbergern mitverfasste Lehrformel stellte deshalb
lutherische und philippistische Wendungen nebeneinander, und zwar unter
bewusstem Verzicht auf die Spitzenaussagen der Lutherschen
Theologie. Sowohl die Wittenberger als auch die Leipziger
Theologen, die drei kursächsischen Konsistorien und alle
Superintendenten der kursächsischen Kirche fanden sich unter diesem
Bekenntnis zusammen. Es konnte und sollte nach all den bisherigen
Auseinandersetzungen vor allem gegenüber dem Kurfürsten als Bekenntnis der
Rechtgläubigkeit dienen. Diese Wirkung erzielte der Consensus Dresdensis allerdings nicht jenseits der Landesgrenzen. Im
Gegenteil: er wurde sogar von reformierter Seite als Lehrgrundlage
angeeignet32 , was schließlich auch die Württemberger
Theologen – unter ihnen federführend Jakob Andreae und Lucas
Osiander – herausforderte, sich mit einem eigenen Bekenntnis33 abzugrenzen. Die Ambiguität des Consensus Dresdensis, die man in
seiner Offenheit für eine lutherische und zugleich calvinistische
Interpretation zu erkennen glaubte, veranlasste den Württemberger
Hofprediger Lucas
Osiander mit seinem „Bericht vom Nachmahl“34 an die Öffentlichkeit zu
treten, um aller Welt die Augen für die im Consensus Dresdensis vermeintlich enthaltenen perfiden theologischen Schachzüge zu öffnen und
für eine klare Positionierung zugunsten der Lehre Luthers einzutreten.Die theologische Lage und der Verlauf des Streits spitzten sich im Zuge
politischer Veränderungen zwischen den beiden wettinischen Landesteilen
weiter zu. Zwar schien sich seit dem Jahre 1567
die Rivalität zwischen ernestinischem und albertinischem Sachsen
allmählich zu neutralisieren, aber in religionspolitischer Hinsicht wirkte
sich dies in keiner Weise aus. Denn der ernestinische Fürst Johann Friedrich der Mittlere, der
mit dem fränkischen Reichsritter Wilhelm von Grumbach heimlich paktiert und so vergeblich versucht
hatte, seine verlorengegangenen Kurlande und die Kurwürde wieder
zurückzugewinnen (Grumbachsche Händel), war 1566/67geächtet worden und musste bis zu seinem Tod im Jahre 1595 in österreichischer Gefangenschaft verweilen.
Das Land fiel deshalb zunächst an seinen Bruder Johann Wilhelm von Sachsen-Weimar, wurde
aber dann an seine minderjährigen Söhne zurückgegeben, so dass Kurfürst August im Jahre 1573 die vormundschaftliche Regierung über das
ernestinische Sachsen übernahm. Bis 1586 waren
deshalb alle sächsischen Landesteile unter der Regierung eines Herrschers
vereint. August führte sogleich den
Consensus Dresdensis auch in den ernestinischen Gebieten ein und
veranlasste die Vertreibung der dortigen streng lutherisch gesinnten
Theologen. Denn die Gnesiolutheraner weigerten sich, das neue, ihrer
Meinung nach zum Calvinismus tendierende Bekenntnis zu
unterschreiben. Der Regierungsantritt Kurfürst Augusts schien also zunächst die philippistische
Richtung zu stärken. Er selbst war fest davon überzeugt, dass
seine Theologen in der Nachfolge der
rechtmäßigen reformatorischen Lehre ständen, weit entfernt von allen
„sakramentiererischen“ Tendenzen.Aber schon das Jahr 1574 brachte den Umschwung. Auslöser
des Eklats war das Erscheinen einer anonymen Schrift, die unter dem Titel
„Exegesis perspicua et ferme integra controversiae de sacra
coena“35 bereits im September des Jahres 1573 in der Druckerei des Buchhändlers Vögelin in Leipzigaufgelegt wurde. Später erfuhr man, dass Joachim Curaeus, ein Arzt aus Schlesien, der bereits 1573 verstorben war, der Autor gewesen war.36 Die Schrift fand
große Verbreitung und stieß offensichtlich auf Interesse. Allerdings wurde sie eher unter dem Tisch gehandelt und nicht auf dem
offiziellen Wege über den Buchvertrieb. Schon allein das
machte sie suspekt. Die Heimlichkeit ihrer Verbreitung und ihr in der
religionspolitischen Situation des Landes durchaus prekärer Inhalt machten
sie zu einem hochexplosiven Stoff. Sie verwarf nämlich in ihrer Behandlung
der Abendmahlslehre die lutherisch verstandene „unio sacramentalis“
von Leib und Blut mit Brot und Wein, damit auch die von Luther gelehrte „manducatio oralis“ und „manducatio impiorum“ und untermauerte dies mit christologischen
Argumenten. Die gesamte Schrift stellte sich in der Lehre und auch in ihrer
Würdigung der durch die Calvinisten erduldeten Verfolgung – seit der
Bartholomäusnacht 1572 tobte
aufs Neue ein Religionskrieg in Frankreich – ganz auf deren Seite. Sie empfahl, man möge sich
eher Melanchthon als Martin Luther anschließen und
sich in der Abendmahlslehre auf neutrale Formulierungen einigen.
Dabei kam deutlich die calvinistische Christologie zum Ausdruck, und auch
in der Abendmahlslehre ergaben sich genügend Berührungspunkte, so dass die Schrift nach außen hin den Eindruck verbreiten
musste, dass sich in Kursachsen unter dem Deckmantel der durch Luther und Melanchthon getragenen Wittenberger
Reformation heimlich der Calvinismus eingeschlichen habe. Von
allen Seiten wurde man auf die Schrift aufmerksam.37
Der Kurfürst selbst ergriff jetzt rigide Maßnahmen gegen diesen vermeintlichen „Kryptocalvinismus“, zumal er befürchten musste, dass
dessen Duldung angesichts der Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens ernsthafte politische Probleme heraufbeschwören würde.
Er ließ die Häupter der Bewegung verhaften: seinen Leibarzt Caspar Peucer,38 außerdem seinen Hofprediger Dr. Christian Schütz, den Kirchenrat Dr. Johann Stössel und den Geheimrat Dr. Georg Cracow. Cracow und Stössel starben im Gefängnis. Schütz wurde 1589,
drei Jahre nach Caspar Peucer,
entlassen. Darüber hinaus wurde von einer Theologengruppe, bestehend aus
dem Wittenberger Professor und Meißner Konsistorialrat Paul Crell, den Hofpredigern
Martin Mirus und Georg Listhenius, dem Leipziger
Superintendenten Heinrich
Salmuth und dem Dresdener Prediger Petrus Glaser ein „Kurz Bekenntnis und
Artikel vom heiligen Abendmahl“ konzipiert und auf dem Landtag zu Torgau
den Wittenberger und Leipziger Theologen zur Unterschrift
vorgelegt. Diese Artikel, auch Torgische oder Torgauer Artikel genannt,39 waren in ihrer Reaktion im Grunde
weit weniger ‚radikal‘ als sie in der Literatur stets dargestellt wurden.
Man hielt nämlich weiterhin am Corpus Doctrinae Philippicum ebenso wie am
Consensus Dresdensis fest, welcher freilich durch die Torgauer Artikel
gegen die Aneignung in calvinistischen Kreisen seine angemessene
Auslegung erhalten sollte. Ausdrücklich betonte man die lehrmäßige
Einheit Luthers und Melanchthons. Die Abendmahlslehre trug die bekannten, in die CA variata eingegangenen
melanchthonischen Merkmale: man lehrte die reale Gegenwart
des Leibes und Blutes Christi gemäß den Einsetzungsworten mit Brot und Wein und verzichtete auf
christologische Begründungen. Die Omnipräsenz der Menschheit Christi wurde abgelehnt. Darüber hinaus wurden Verwerfungen formuliert, die die Häupter der Calvinisten – Johannes Calvin, Theodor Beza, Heinrich Bullinger, Petrus Martyr Vermigli und die Heidelberger
Theologen – namentlich benannten. Wer dem Bekenntnis nicht beitrat, musste
das Land verlassen oder wurde inhaftiert. Zu denen, die daraufhin im Exil
Zuflucht suchten, gehörten u.a. Christoph Pezel und Friedrich Widebram, die für die
Calvinisierung weiterer Territorien und Städte, insbesondere der Nassauischen Lande und später auch der Stadt Bremen, Bedeutung und Einfluss gewannen. Für das
Kurfürstentum Sachsen und den Kurfürsten selbst ging dieser sogenannte
„Sturz des Kryptocalvinismus“ – sofern man an der eher unzutreffenden Bezeichnung des Kryptocalvinimus festhalten will – mit
einer konfessionellen Neuorientierung einher. August wurde fortan zu einem
entschiedenen Förderer der lutherischen
Einigungsbemühungen, an dessen Spitze der Theologe Jakob Andreae stand, unterstützt von seinem
Landesherrn Herzog Ludwig von Württemberg. Dieses Ringen um
einen theologischen Konsens gipfelte in der Erstellung der
Konkordienformel von 1577und der Konzeption eines neuen Corpus Doctrinae, des Konkordienbuchs
von 1580, das freilich nicht alle Erben der
Wittenberger Reformation bekenntnismäßig einigen konnte und
weitere Diskussionen heraufbeschwor.