Lukas Osiander d. Ä.: Bericht vom Nachtmahl - Einleitung
bearbeitet von Johannes Hund
[Inhaltsverzeichnis]

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Einleitung

1. Historische Einleitung

Der „Consensus Dresdensis“, von Kurfürst August in Auftrag gegeben, um
die kursächsische Position gegen die auswärtigen Vorwürfe, in Kursachsen
(5) werde insgeheim calvinistisch gelehrt, als „confessio bene lutherana“1 zu
verteidigen, brachte die Diskussion keineswegs, wie vom Kurfürsten ge-
wünscht, zu einem Ende, sondern eröffnete einen neuen Diskussionsgang
innerhalb der Debatte um die Wittenberger Abendmahlslehre und Christolo-
gie. Während der Generalsuperintendent des Fürstentums Braunschweig-
(10)Wolfenbüttel
, Nikolaus Selnecker, seine Kritik an den Wittenberger Theolo-
gen nach Erscheinen des „Consensus Dresdensis“ einstellte, den er konse-
quent im Sinne der Theologie Luthers interpretierte, reagierten die Theolo
gieprofessoren der ernestinischen Universität Jena mit einer Schrift, die dem
„Consensus Dresdensis“ Unaufrichtigkeit und ein Abweichen von der „ rei-
(15)nen Lehre“ Luthers vorwarf.2 Eine ähnliche Debatte um die Interpretation
des Dresdener Dokuments fand in der freien Reichsstadt Frankfurt am Main
statt, wo die dortige reformierte Flüchtlingsgemeinde den Konsens abdru-
cken ließ und sich zu ihm bekannte. Die Prediger der Stadt reagierten ihrer-
seits mit einer konsequent lutherischen Interpretation des „Consensus Dres-
(20)densis“
, die sie in ihrer „christlichen Prob“ in Teilen der Flüchtlingsgemein-
de zur Bedingung machten, falls diese ihre Religion weiterhin in der
Reichsstadt ausüben wollte. Auf diese Frankfurter Zumutung antwortete der
ehemalige Pfarrer der Flüchtlingsgemeinde, der kurpfälzische Hofprediger
Petrus Dathenus, indem er den „Consensus Dresdensis“ in seiner „ Besten-
(25)digen Antwort“ konsequent calvinistisch auslegte und die Berufung seiner
ehemaligen Gemeinde auf ihn als legitim darstellte.
Schon kurz nach dem Erscheinen des „Consensus Dresdensis“ waren so die
Rezepienten in ein calvinistisches und ein sich als lutherisch verstehendes

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Lager gespalten. Damit aber hatte sich das Dresdener Dokument als offen für
beide Interpretationen gezeigt. Diese Zweideutigkeit des „Consensus Dres-
densis“
darzustellen und damit die Unmöglichkeit aufzuweisen, sich mit ihm
von den Vorwürfen, man lehre insgeheim calvinistisch, zu befreien, war das
(5) Ziel, das Lukas Osiander mit seinem „Bericht vom heiligen Nachtmahl“
verfolgte. Seine Schrift kam kurz nach dem Erscheinen der Schrift des Petrus
Dathenus
im Jahre 1572 heraus. Sie zerfällt in zwei thematisch voneinander
zu unterscheidende Teile: An die kritische Würdigung des „Consensus Dres-
densis“
(A 2r–E 2v), die hier ediert vorliegt, schließt sich ein umfangreicher-
er Teil mit eigenem Titelblatt an, in dem eine theologische Auseinanderset-
(10)zung mit den „alten und neuen Zwinglianern“ stattfindet (E 4r–Y 4r), auf
dessen Abdruck wir in unserer Ausgabe verzichten.

2. Inhalt

Osiander nennt zu Beginn seiner Schrift die Gründe, die ihn zur Abfassung
(15)dieses Gutachtens genötigt hatten: Im Kirchenvolk sei der Eindruck vorherr-
schend, dass sich die kursächsischen Theologen mit dem „Consensus Dres-
densis“
deutlich gegen die calvinistische Christologie und Abendmahlslehre
erklärt und damit die Vorwürfe, sie lehrten heimlich calvinistisch, widerlegt
hätten. Er habe dagegen mit dieser Schrift auch den einfachen Leuten die
(20)Augen öffnen wollen, um einer „Verdunkelung“ und einem allmählichen
Untergang der reinen Lehre Luthers entgegenzuwirken.
Die vielen Streitschriften gegen den neuen Katechismus und die anderen
Wittenberger Drucke im letzten Jahr hätten immerhin erreicht, dass der Kur-
fürst seine Theologen zur Abfassung einer Schrift aufgefordert habe, in der
(25)die Anschuldigungen durch auswärtige Theologen entkräftet werden sollten.
Doch werde der daraufhin erstellte „Consensus Dresdensis“ seiner Aufgabe
nicht gerecht. Denn bei näherer Betrachtung zeige sich, dass an der Erstel-
lung dieses Dokuments zwei Gruppen beteiligt gewesen seien, von denen die
eine bei der Lehre Luthers habe bleiben wollen, die andere hingegen darum
(30)bemüht sei, auch calvinistische Lehren mit aufzunehmen.3
Die erste Gruppe des zur Erstellung des Konsenses einberufenen Dresdener
Konvents habe etwa die Abendmahlsdefinition aus dem Kleinen Katechis-
mus Luthers mit in den „Consensus“ hinein genommen, in der die Gegen-
wart von Leib und Blut Christi „unter“ Brot und Wein ausgesagt werde.
(35)Dagegen habe aber die zweite Gruppe viele Formulierungen eingebracht, in
denen von einer Gegenwart der Person Christi oder des Sohnes Gottes die
Rede sei. Diese Abschnitte seien nun aber allesamt auch im Sinne der calvi-

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nischen Abendmahlslehre interpretierbar. Daher stelle es auch für calvinis-
tische Theologen kein Problem dar, den „Consensus Dresdensis“ zu unter-
schreiben, würde doch in ihm die Lehre Luthers in Formulierungen gefasst,
die zumindest offen für die calvinistische Position seien. Die umstrittenen
(5)Fragen, ob der Leib und das Blut Christi mit dem Mund empfangen würden
und ob auch die Ungläubigen ihn empfingen, fänden im „Consensus“ gar
keine Erwähnung. Bei der Abgrenzung gegen die Calvinisten würden nur
solche Positionen verworfen, die heute kein Theologe mehr im Ernst vertre-
te. Die Autoren des „Consensus Dresdensis“ beriefen sich zwar auf den Klei-
(10)nen Katechismus Luthers, aber in ihren weiteren Ausführungen redeten sie
den Calvinisten das Wort. Damit sei der „Consensus Dresdensis“ sowohl
lutherisch als auch calvinistisch interpretierbar, und die Eindeutigkeit im
Bekennen faktisch aufgehoben.
Der Dresdener Konsens versuche den Eindruck zu erwecken, als habe der
(15)alte Luther seine Lehre von der Allgegenwart nicht nur der Gottheit, sondern
auch der Menschheit Christi widerrufen. Den einzigen Beleg, den die Auto-
ren des Konsenses dafür anführten, stelle ein apokryphes Lutherzitat dar,
eine Auslegung von I Kor 11,24.4 Wenn die Wittenberger Theologen bei ih-
rer These bleiben wollten, dass sich die Christologie Luthers vor seinem Tod
(20)geändert habe, müssten sie jedoch weitere und eindeutigere Zitate anführen,
die zweifelsfrei auf Luther zurückzuführen seien.
Seine kritische Würdigung des „Consensus Dresdensis“ abschließend wid-
met sich Osiander den Abgrenzungen des „Consensus Dresdensis“ gegen die
Vorstellung von der Allgegenwart der menschlichen Natur Christi. Den Kur-
(25)sachsen wirft er vor, sich damit explizit gegen Luther und Brenz zu richten.
Der „Consensus Dresdensis“ behaupte, ohne ihre Namen zu nennen, dass
diese beiden Theologen durch ihre Rede von der Allgegenwart Christi auch
nach seiner menschlichen Natur die wahre Menschheit Christi zerstörten und
so gegen ihre eigentliche Intention die Gegenwart seines wahren Leibes un-
(30)möglich machten. Mit dieser Verlagerung der Auseinandersetzung aber wer-
de der „Consensus Dresdensis“ seiner eigentlichen Aufgabe, sich von den
calvinistischen Irrlehren abzugrenzen, nicht mehr gerecht. Osiander endet
mit einer eindringlichen Warnung davor, dass sich calvinistische Pfarrer auf
der Grundlage des „Consensus Dresdensis“ auf legitimem Wege in Kursach-
(35)sen anstellen lassen könnten, um dort die Lehre zu unterwandern. Dass der
Konsens bereits von den Calvinisten als übereinstimmend mit ihrer Lehre
angenommen worden sei, beweise der durch Petrus Dathenus veranlasste
Druck, der in diesem Jahr veröffentlicht worden sei.

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3. Ausgaben

Nachgewiesen werden kann folgende Ausgabe:
A: Bericht / || Was von der kurtzen || Widerholung der Lehre im Arti= ||
ckel des heiligen Nachtmals Christi / Welche || in der Versamlung der
(5)Theologen zu Dres= || den / den 10. Octobris / Anno 71. gestellt || vnd publiciert / zuhalten || sey. || Jtem / || Warnung fFr dem Zwinglischen ||
Jrthumb / welcher sich je lenger je weiter aus= || breitet / vnd durch newe Schrifften / vnter || anderm Schein in die Kirche Gottes || wil
eingefFhret werden. || Lucas Osiander D. || Anno 1572.
[12] Bl. 4° (VD
(10)16 O 1183)
Vorhanden in:
Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: 1 an: Dm 3008; Dm 3012
(Titelblatt fehlt); 7 in: Dk 4
Dresden, Sächsische Landesbibliothek: Theol. ev. dogm. 223m, misc. 2
Gotha, Forschungsbibliothek: Th 243 (2); Theol. 4º 661/4 (5)
(15)Halle, Universitätsbibliothek: AB 153 450 (7); AB 154 584 (15); AB 47
13/a,2 (3)
München, Universitätsbibliothek: 4º Theol. 1164:3
Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Cat. XVI, 743 (n.2.)
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: 151.9 Theol. (3) [benutztes
(20)Exemplar]; 125.13 Quod. (2); 288 Theol. (9); 316.18 Theol. (2); J
632.4º Helmst. (3)

Kommentar
1 HAB: Cod. Guelf. 64.8 Extrav., 571: Brief des Dresdener Superintendenten Daniel Gresser an
seinen Schwiegersohn Nikolaus Selnecker vom 3. Oktober 1571.
3 Zur Vielfalt der Positionen zur Christologie und Abendmahlslehre innerhalb der Theologen Kursachsens, die den „Consensus Dresdensis“ als Kommissionswerk verfassten, vgl. die Einleitung zu Nr. 10: Consensus Dresdensis (1571), 797–799.
4 Vgl. die gründliche Untersuchung zur Diskussion über die Autorschaft in der Rezeption dieser
Stelle bei Mahlmann, Das neue Dogma, 220–223.
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