Text

400310 Diederich von dem Werder an Fürst Ludwig
[Inhaltsverzeichnis]
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400310

Diederich von dem Werder an Fürst Ludwig


Diederich v. dem Werder (FG 31. Der Vielgekörnte) erhöht die Anzahl der Vergleiche für die menschliche Existenz im Sonett „vom Menschlichem leben“ auf hundert Substantive. Bevor er die Anzahl noch weiter anwachsen lasse, möchte er die Vergleiche zunächst mittels biblischer Quellen kommentieren. Unterhalb des Briefes finden sich sechs, möglicherweise von Werder korrigierte Zeilen für F. Ludwig.

Beschreibung der Quelle


Q HM Köthen: V S 544, Bl. 430rv [A: 430v]; eigenh. [Handschrift: [Bl. [430r]]

Anschrift


A Dem Nehrenden zu han[den]a Cöthen

Text


jch habe das gestrige Sonnet vom Menschlichem leben1 nuhn auf 100 solche allegorische nahmen2 gebracht. Eh ich sie aber weiter kommen lasse, wil ich mich || [474] bemühen alle nahmen durch Göttlichesb oder anderer weisen leute ansehen zu behaüpten, vndt also noten drunter zusetzen.3 Gott mit vns
Reinsdorff den 10. Mertz 1640.
  Des Nehrenden dienstwilligster

  Der Vielgekörnte

[...]gerc Schüler, wie er
[...]dasd distichon, vita quod est?
[...]bracht, es wehre gutt,
[...] [n]icht durch müßiggang verfaulen,
[sondern hiel]te ihn rechtschaffen mit an,
[daß er sein pf]undt nicht vergrabe.4

I

Zwei Sonette

Beschreibung der Quelle


Q  Sachse: Einhelligkeit III (1644) (s. 400104 K 5), Bl. [)( vi]v.

Text


Uber den Sündlichen
Menschen.


WAs bist du Mensch? Was ist in Adam doch dein Leben?
Asch’/ Arbeit/ Athem/ Spreü/ Luft/ Schatten/ Stro/ Heü/ Gras/
Laub/ Stoppeln/ Nebel/ Rauch/ Wind/ Mühe/ Sorge/ Has/
Zanck/ Aufruhr/ Schrecken/ Krieg/ List/ Hoffart/ wiederstreben/
Geitz/ Stoltz/ Trotz/ Galle/ Gift/ furcht/ zittern/ zagen/ beben/
Sünd’/ elend/ Mist/ rost/ wachs/ ein zorn- ein Thränenfas/
Ein irrweg/ ein Bedräng’/ ein strom und wasserblas’/
Ein schlam/ ein sturm/ ein wurm/ ein wandern/ wancken/ schweben/
Fleisch/ haut/ bein/ leimen/ milch/ leid/ neid/ streit/ schmauch und schmach/
Brunst/ feür/ schmertz/ schertz/ scham/ graam/ pein/ winseln/ weinen/ klage/
Grim/ mord/ spot/ tod/ noht/ koht/ schaum/ schand/ erd’/ angst/ weh’/ ach/
Qual/ unruh’/ unflat/ dampf/ schweis/ thorheit/ staub und plage/
Ein klang/ ein stanck/ ein Aas/ ein Tochtschnupp’ eines liechts/
Ein blick/ ein blitz/ ein schlaf/ ein traum/ ein dreck/ ja NJCHTS.


Uber den Wiedergeborenen
Menschen.1


WAs bist du Mensch? was ist in Christo nun dein leben?
Ziehr/ weisheit/ warheit/ zucht/ frucht/ freyheit/ freüde/ fried’/
Ehr/ hofnung/ heiligkeit/ gunst/ kraft/ ruh’/ hülffe/ güt’/ || [475]
Huld/ eintracht/ tugend/ preis/ fleis/ pflegen/ dienen/ geben/
Glück/ segen/ liebe/ lust/ lob/ loben/ leben/ weben/
Ruhm/ hoheit/ treüe/ trost/ ein Psalm/ ein Engellied/
Ein Gut Thurn [sic]/ Tempel/ Schlos/ ein Kind und Gnadenglied/
Ein Reich/ ein Paradis/ ein baum/ zweig/ spros und reben/
Stärck/ klarheit/ liecht/ schein/ flamm’/ hertz/ seele/ witz/ vertrag/
Geist/ keüschheit/ schirm und schild/ sieg/ singen/ jauchzen/ lachen/
Ein haus/ stein/ glantz/ stern/ schatz/ schutz/ dulden/ beten/ wachen/
Ein berg/ bund/ grund/ muth/ sinn/ fels/ horn/ hort/ leüchte/ tag/
Lohn/ thron/ kron/ sonne/ wonn’/ ein Chor voll himmelschalles/
Schmuck/ recht/ macht/ reichthum/ glaub’/ heil/ seligkeit/ ja ALLES.2

Textapparat und Kommentar


Textapparat
T
a Papierausriß. Konjektur in eckigen Klammern.
a Eingefügt für <der Schrift>
b Der Textverlust ist nicht mehr rekonstruierbar, da nicht nur der betroffene linke Seitenrand beschädigt ist, sondern der gesamte Brief auch noch auf ein anderes leeres Stück Papier geklebt wurde, so daß mehr Text verlorengegangen sein kann, als nur fehlende Buchstaben oder Silben. Die Konjekturen sind daher reine Vermutungen nach Maßgabe eines möglichen Sinns.
c Gebessert in das

Kommentar

K
1 S. Beil. I.
2 Diederich v. dem Werder (FG 31. Der Vielgekörnte) spricht von allegorisierenden Benennungen des Menschen. S. Beil. I.
3 D. h. mit Anmerkungen versehen. Diese Vorgehensweise erinnert an die Marginalien in der Sonettensammlung D. v. dem Werder: Krieg vnd Sieg (1631; s. 310800), die sowohl Erklärungen als auch Nachweise biblischer Quellen enthalten. F. Ludwig (Der Nährende) erwähnt in 400506 dieses Vorhaben Werders kurz und verspricht, seine Gedanken dazu zu einem späteren Zeitpunkt mitzuteilen. Vgl. auch Daniel Sachses Idee einer Verknüpfung zweier ganzer Sonettzyklen Werders mit der Thematik der Predigtsammlung Sachse: Einhelligkeit I‒III (1641, 1643/44). Vgl. 400320 K 6.
4 Der Bezug der angefügten Zeilen bleibt unklar, nicht zuletzt wegen der Textverstümmelung. Vielleicht handelt es sich um eine Formulierung, die von Werder für F. Ludwig korrigiert wurde oder um eine Empfehlung, einen talentierten Eleven und sein Distichon „vita quod est?“ betreffend. Dieses lateinische Zitat könnte nicht zuletzt in einem Zusammenhang mit Werders Aussagen über das menschliche Leben in den beigefügten Sonetten stehen.

1 Am Vortag von Diederich v. dem Werder (FG 31. Der Vielgekörnte) an F. Ludwig (Der Nährende) geschicktes oder von F. Ludwig an ihn zurückgesandtes Sonett („Uber den Sündigen Menschen“). In 400320 kündigte er ein zweites Sonett („Uber den Wiedergeborenen Menschen“) an. In 400502 sandte er beide (kritisch überarbeitete) Sonette F. Ludwig zu, der sich in 400506 dafür bedankte. Dünnhaupt: Handbuch, 4261 (Art. Werder, Nr. 20), verweist für die beiden Werderschen Sonette fälschlicherweise auf Sachse: Einhelligkeit II (1643), Bl. )( v. Sie erschienen aber erst in Sachse: Einhelligkeit III (1644), Bl. [)( vi]v. Vgl. zu diesem Predigten-Werk 400104 K 5 u. I. In Sachse: Einhelligkeit III (1644), Bl. [)( vi]v folgt auf die beiden Werder-Sonette ein weiteres ungezeichnetes mit dem Titel „Von der Sterbekunst“ (s. u.), das inhaltlich — im Sinne des Sterbens als Übergang zwischen Leben und Tod — als gedankliches Bindeglied zwischen dem „sündlichen“ und dem „wiedergeborenen“ Menschen gelesen werden könnte, jedoch setzt es formal die Versuche Werders, hundert (und mehr) Allegorien für das jeweilige Stadium des menschlichen Lebens zu benennen, nicht fort und bildet dazu einen gewollten Gegensatz:
|| [476] DAs sterben ist uns nah’/ und ungewis die stunde/
Wir gehen all alsdan zur marter/ oder freüd/
Die freud und marter wird auch währen allezeit/
Die freüd im Himmelsliecht’/ die qual im höllen grunde.
Weil wir dan sterben all hin/ nach dem alten bunde/
Da ein theil kommen mus ins eüsserst hertzeleid/
Das andre zu der Wonn’ und Freüd in ewigkeit/
Wan einst der letzte spruch wird gehn aus Christi munde.
O wie ist der dan klug/ der auf dem wege geht/
Der ihn kan von der qual’ ab/ und zur freüde leiten/
Und dessen Geist durch Gott/ im glauben fertig steht/
Zu tragen/ mit gedult/ bey diesen lebenszeiten
Angst/ trübsal/ armut/ not/ der kinder Gottes pfand/
Auf daß er lebe dort/ gekrönt/ im freüdenstand.
Die drei Sonette sind anonym erschienen. Das zuletzt zitierte dürfte nicht von Werder stammen und von Daniel Sachse verfaßt sein, ebenso wie die 16 paargereimten Verse „Erklärung Vorhergesetzter Abbildung der wahren Religion“ zum Kupfertitel der 2. Auflage von 1662 (s. 400104 K 5). Ein Einzeldruck der beiden vorigen Gedichte ist nicht bekannt. Im folgenden zitieren wir bei einem Verweis diese beiden Sonette allgemein mit dem Titel „Auf des Menschen Leben“. Zum Begehren nach einem andersgearteten, sehr kunstreichen Sonett s. 400320. Der 2. Teil der Evangelienharmonie Sachses enthält auf der Rückseite des Titelblatts zwei mit „L. F. Z. A.“ gezeichnete Sonette Fürst Ludwigs, „Vber die Bibel/ vnd wie sie zu erklären.“ bzw. „Auff die Einhelligkeit der vier Evangelisten“. Nach Autopsie der 2. Aufl. von 1662. In der 1. Aufl. des 2. Tl.s von 1643 findet man diese Gedichte ohne einen Hinweis auf den Verfasser (Bl. [6 )(]v) unmittelbar vor dem mit der 101. Predigt beginnenden Text
2 Beide Sonette besitzen im Abgesang abweichend von der gängigen Form keine Terzinen. Nach dem Reimschema des ersten Sonetts: abba abba cdcd ee, stellt sich der Abgesang als Kreuzreim mit folgendem Paarreim dar. Entgegen der üblichen Form besitzt das zweite Sonett ein zusätzliches, drittes Quatrain (Reimschema: abba abba cddc ee), jedoch mit anderen Reimen als die beiden vorausgehenden Quatrains, weshalb dieses auch als Teil des Abgesangs begriffen werden kann. Die Reihung der Epitheta nimmt jedoch dem Sonett den formal bestimmten inhaltlichen Grundaufbau der Zuordnung von Exposition in den Quatrains und sentenzenhaftem Ausklang in den paargereimten beiden Schlußversen, wenngleich den beiden Texten durch die Schlußworte immerhin eine prägnante Finalisierung gelingt, die beide Texte (und die menschliche Doppelnatur Fleisch-Geist, Sünde-Heil) miteinander durch die konträren Begriffe „Nichts“ und „Alles“ verknüpft.
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