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Tagebuch des Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg: Einleitung zum Jahrgang 1626


Zitierlink: http://diglib.hab.de/edoc/ed000228/id/edoc_ed000228_fg_introduction_1626_sm/start.htm

I. Im Jahr 1626 marschierten die Heere von Kaiser Ferdinand II. und der Katholischen Liga unter den Feldherren Albrecht von Wallenstein und Graf Johann von Tilly in den überwiegend protestantischen Norden des Heiligen Römischen Reiches ein, um dort die Armeen des Niedersächsischen Kreises unter König Christian IV. von Dänemark und des mit ihm verbündeten Grafen Peter Ernst II. von Mansfeld zu schlagen. Am 25. April siegte Wallenstein an der strategisch wichtigen Dessauer Elbebrücke über Mansfeld, und in der Schlacht bei Lutter am Barenberge vom 27. August fügte Tilly dem dänischen König eine vernichtende Niederlage zu. Das Fürstentum Anhalt wurde auf Grund dieser Ereignisse nicht nur vorübergehend zum Kriegsschauplatz, sondern für lange Zeit auch zu einem stark frequentierten Durchzugsgebiet.

II. Christian II. verfolgte all jene Vorgänge über die regelmäßige Lektüre von „Avisen“ und „Zeitungen“ aus der Ferne. Er befand sich damals mit seiner Gemahlin Eleonora Sophia, einer geborenen Herzogin von Schleswig-Holstein-Sonderburg, auf einer im Vorjahr angetretenen Hochzeitsreise durch Frankreich und die Niederlande, deren Verlauf nicht durch autographe Tagebucheinträge überliefert ist.1 Diese setzen nach einer etwa zweieinhalbjährigen Unterbrechung erst mit dem 16. Mai 1626 wieder ein. Bis zum 28. Juni hielt sich der Fürst mit seiner jungen Familie, die am 21. April um den Sohn Berengar gewachsen war, größtenteils bei seiner verwitweten Großmutter Gräfin Magdalena von Bentheim, Steinfurt und Tecklenburg in Schüttorf auf. Von hier aus reiste er für einige Tage nach Amsterdam (27.31. 5.) und wurde auf dem Rückweg in Enschede durch spanische Soldaten überraschend gefangen genommen, die ihn auf Befehl ihres Oldenzaaler Kommandanten Baron Jean-Jacques de Moncley allerdings sofort wieder freilassen mussten (3. 6.). Anfang Juli verlegte der Anhaltiner seinen Wohnsitz ins niederländische Harderwijk, wo die fürstliche Familie ein durch den Köthener Onkel Ludwig angemietetes Haus bezog sowie intensive Kontakte zu einheimischen Adligen, Bürgern und Gelehrten pflegte. Außerdem besuchte er von dort aus in Den Haag (26.27. 7.), Arnheim (15.21. 9.) und Amersfoort (1.2. 10.) dreimal den im Reich geächteten Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz. Seine weiteren längeren „Harderwijker Reisen“ hatten erneut die Handelsmetropole Amsterdam (4.6. 9. und 31. 10.2. 11.) und die Residenzstadt Den Haag (27.29. 9.) zum Ziel.

III. Bei den Treffen Christians II. mit dem pfälzischen Kurfürstenpaar vermieden beide Seiten offenbar ganz bewusst jedes öffentliche Gespräch über Themen der aktuellen oder vergangenen Politik. Der über 200 Personen umfassende und alljährlich mit insgesamt 260.000 Gulden aus London finanzierte Exilhofstaat2 des seit 1621 in den Vereinigten Niederlanden lebenden böhmischen „Winterkönigs“ und seiner englischen Gemahlin Elisabeth sollte der Außenwelt vermutlich den Eindruck völliger Normalität vermitteln. Dementsprechend konnte oder wollte der anhaltische Gast zumeist nicht mehr als den üblichen Zeitvertreib aus gemeinsamen Konversationen, Mahlzeiten, Spazierfahrten, Ausflügen und Kartenspielen in sein Diarium notieren.3 Nur ein einziges Mal wurden unter vier Augen nicht näher qualifizierte ernsthafte Dinge („seria“) besprochen.4 Und obgleich alle Anwesenden den Wittelsbacher mündlich stets als legitimen König von Böhmen behandelten, registrierte Christian II. sehr wohl, dass dies in ihren schriftlichen Dokumenten allein die Vertreter Dänemarks, Schwedens, Savoyens, Venedigs und der Generalstaaten taten, während die englischen, französischen, lothringischen und württembergischen Gesandten lediglich die Anrede eines „Churfürsten Pfaltzgraffen“ verwendeten. Gewiss aus eigener leidvoller Erfahrung der Landlosigkeit seines zwischen 1621 und 1624 ebenso der Reichsacht unterworfenen Vaters kommentierte der Anhaltiner diese Beobachtung mit den Worten: „Ein Tittel ohne landt, ist wie ein vogel ohne federn, oder fisch sonder schupen, oder ein bloßer, vnbekleideter Mensch.“5

IV. Die in Harderwijk verbrachten Monate bieten darüber hinaus einen interessanten Einblick in das nicht immer ungetrübte Verhältnis des Fürsten und seiner Familie zur niederländischen reformierten Geistlichkeit, die wahrscheinlich viel selbstbewusster auftrat, weil sie deutlich weniger hierarchisch als die anhaltische Landeskirche organisiert war.6 Dass einer der drei örtlichen Pfarrer in seiner Morgenpredigt vom 6. August „die spitzen“ an den Kleidern des fürstlichen Frauenzimmers in aller Öffentlichkeit rügte, beantwortete der Anhaltiner noch mit einem stillschweigend demonstrativen Verzicht auf seinen gewohnten zweiten Kirchgang am Nachmittag.7 Doch als die Stadtprediger Johannes Rhodius und Otto van Heteren gegen Ende Dezember ihn selbst und seine Gemahlin Eleonora Sophia vor der versammelten Gemeinde wegen ihrer zu prächtigen Kleidung dem Teufel verfallen wähnten und beide mit Türken, Juden und Heiden verglichen, da sie mit ihrem Handeln Gott verleugneten, welchen sogar Esel und Ochsen mehr achten würden, empfand Christian II. hierdurch die Grenze des ehrenhaft Tolerierbaren klar überschritten. Empört schickte er darauf seinen Hausarzt Dr. Bartholomäus Backofen zu den Harderwijker Geistlichen, um sie wegen ihrer unerhörten Grobheit gebührend zurechtweisen und für die Zukunft zu angemesseneren Formen des Umgangs mit hochadligen Standespersonen auffordern zu lassen.8 Denn auch im Gottesdienst galt für ihn ohne jede Einschränkung das Prinzip, dass die weltliche Ordnung durch das „Evangelium“ nicht aufgehoben werde.9


Anmerkungen
1 Vgl. die auszugsweise Abschrift der Tagebucheinträge vom 1. Januar bis 3. November 1626 durch den fürstlichen Sekretär Sigismund Ladisla in LASA Dessau-Roßlau, Z 18 Abt. Bernburg, A 9b Nr. 14 Bd. XXIV, fol. 202r-233v.
2 Vgl. Tagebucheintrag vom 28. Juli.
3 Vgl. die Tagebucheinträge vom 26. und 27. Juli sowie 15., 17., 18., 19. und 21. September.
4 Tagebucheintrag vom 19. September.
5 Tagebucheintrag vom 20. Oktober.
6 Vgl. dazu den Tagebucheintrag vom 6. Juli: „Es hat keine superintendenten in Niederlandt, sondern die pfarrer seindt gleich.“
7 Tagebucheintrag vom 6. August.
8 Tagebucheintrag vom 28. Dezember.
9 Tagebucheintrag vom 30. Dezember.
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