Einleitung
1. Historische Einleitung
Der Text gibt sich zu erkennen als Erzeugnis einer raschen Reaktion auf den Erlass des Interims im Juni 1548. Noch war die Umsetzung nirgends erfolgt, noch waren keine Gewaltmaßnahmen ergriffen worden, um die Durchsetzung
zu erzwingen.
1 Noch war es möglich, trotz des im Interimstext enthaltenen Verbots,
2 öffentlich dagegen anzugehen, und so nutzte der sich hinter dem Pseudonym Theodorus Henetus verbergende Autor
Matthias Flacius Illyricus die Gelegenheit, um seinen Lesern wenigstens die wichtigsten Hinweise und
Verhaltensmaßregeln in die Hände zu geben für den Fall, dass ihnen in nächster Zukunft der unmittelbare Zugang zu evangelischem Gottesdienst, evangelischer Lehre und evangelischer Seelsorge genommen werden sollte. Noch war nicht absehbar, inwieweit die
jeweiligen Obrigkeiten sich dem Druck des Kaisers würden entziehen können oder wollen, gemäß den Bestimmungen des Interims die Errungenschaften der Reformation in großen Teilen wieder fallenzulassen und abzuschaffen. In dieser Lage bemühte sich der
Verfasser, einen Gegendruck von Seiten glaubensgewisser und bekenntnisfreudiger Untertanen aufzubauen; wenn aber alles Sträuben nichts helfen sollte, so wären – entsprechend dem allgemeinen Priestertum aller Getauften – notfalls die Haushaltsvorstände gefordert, dafür zu
sorgen, dass in ihren Familien die rechte Lehre im Schwange bleibe, wozu die deutsche Bibel und
Luthers Schriften, nicht zuletzt wohl die Katechismen, vorzüglich zu gebrauchen seien. Der
„kurze
Bericht“ ist konzipiert als Alarmruf und Vermächtnis zugleich, indem er den überlebensnotwendigen Grundbestand evangelischer Lehre für drohende Bedrückungszeiten teils selbst darbietet, teils benennt und darauf verweist.
Dem Verfasser waren die drei für den Interimsentwurf Verantwortlichen offenbar bekannt,
3 er verzichtete aber bewusst darauf, ihnen ausführlich cha
rakterliche und moralische Mängel zu attestieren, weil eine solche argumentatio ad personas allzu sehr hätte ablenken können vom Kern der Sache, der von Kaiser und Papst beabsichtigten
Unterdrückung und Ausrottung des evangelischen Bekenntnisses. Sich dazu herzugeben, war in den Augen des Verfassers gewiss verwerflich, aber eine argumentative Fokussierung auf die Persönlichkeiten der Handlanger und Helfershelfer hätte diese letztlich in ihrer Bedeutung
überschätzt. Eine gewisse Entsprechung findet dieser Sachverhalt in der Verfremdung des Verfassernamens: Mit dem Namen
Flacius war zur Zeit der Veröffentlichung keine besondere Autorität verbunden, die Argumente mussten
ohne Beglaubigung durch einen bekannten und geachteten Namen allein durch ihr sachliches Gewicht wirken. Zugleich bot die Pseudonymität aber auch einen gewissen Schutz für den Verfasser, und wechselnde Pseudonyme vermehrten virtuell die Zahl der Stimmen gegen das
Interim.
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2. Der Autor
Der Verfasser
5 des
„kurzen Berichts“ nennt sich „
Theodorus Henetus“. Dabei handelt es sich nicht eigentlich um ein Pseudonym, sondern lediglich um eine verfremdende
Übersetzung des Namens „Matthias Illyricus“.
6 Als Matija Vlačić, alias Franković, wurde er am 3. März 1520 im venezianischen
Albona7 auf der Halbinsel
Istrien an der illyrischen Adriaküste geboren. Der Vater,
Andreas Vlačić, verfügte über einigen Grundbesitz, die Mutter,
Jacoba, entstammte
der italienischen Patrizierfamilie der Luciani. Nach Elementarunterricht durch den früh verstorbenen Vater und nach dem Besuch der Schule an San Marco in
Venedig folgte er dem Rat eines Verwandten, des Franziskanerprovinzials
Baldo Lupetina, der den Ideen der Reformation aufgeschlossen gegenüberstand, und bezog die Universitäten in
Basel,
8 Tübingen9 und – ab 1541 –
Wittenberg. Dank
Luthers Seelsorge wurde
Flacius von schweren Anfechtungen befreit, die ihn jahrelang
gequält hatten, und die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden wurde und blieb zeitlebens der Zentralartikel seiner Theologie.
1543 überbrachte
Flacius einen Brief von
Luther an die Protestanten in
Venedig und ein Schreiben des Schmalkaldischen
Bundes an den Dogen, worin die Fürsten sich vergeblich für den von der Inquisition gefangengehaltenen
Lupetina einsetzten.
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1544 erhielt
Flacius eine Professur für Hebräisch an der Universität Wittenberg, und im Herbst 1545 heiratete er eine Tochter des Dabrunner Pfarrers
Michael Faustus.
11 1546 wurde
Flacius Magister. Als die Universität Wittenberg während des Schmalkaldischen Kriegs für einige Monate geschlossen und in ihrem Fortbestand gefährdet war, fand
Flacius Aufnahme in
Braunschweig bei
Nikolaus Medler12 und lehrte am dortigen Paedagogium. Als er es nicht vermochte, die Wittenberger Fakultät zu einer gemeinsamen Abwehr des Interims zu bewegen, wandte sich
Flacius 1548 als einer der
ersten öffentlich gegen das Interim. Möglicherweise war er durch das Schicksal seines Verwandten in höherem Grade als seine Kollegen sensibilisiert für die konkreten Gefahren, die aus dem Interim für Theologen und Gemeindeglieder erwachsen konnten. Jedenfalls
war er nicht willens, sich dem Interim widerstandslos zu fügen.
In den Jahren 1549 bis 1557 engagierte sich
Flacius intensiv in
Magdeburg und veröffentlichte zahlreiche Schriften in den theologischen
Auseinandersetzungen um die Bewahrung des authentischen Erbes
Martin Luthers und zum Erweis der Katholizität der Reformation. Bis 1561 wirkte
Flacius
an der neugegründeten Universität Jena,
13 die so zu einem Hort des unverfälschten Luthertums und Gegenpol zur Universität Wittenberg wurde, bis er und sein Kollege
Wigand14 am 10. Dezember 1561 ihrer Ämter enthoben wurden. In den Folgejahren lebten
Flacius und seine Familie in
Regensburg (1562–
1566),
Antwerpen (1566–1567),
Straßburg (1567–1573) und
Frankfurt am Main, wo er am 11. März 1575 starb.
3. Inhalt
Der Verfasser blickt, der gebotenen Kürze wegen, anlässlich der Veröffentlichung des Interims zurück auf die vorausgegangenen beiden Jahre und die Versuche der Gegner, das Evangelium in Deutschland zu unterdrücken. Zunächst habe man unter dem Vorwand
einer Strafaktion gegen ungehorsame Fürsten, die weder die Freiheit des Vaterlandes noch die christliche Religion in irgendeiner Weise betreffe, die wichtigsten weltlichen Verteidiger des evangelischen Bekenntnisses ausgeschaltet. Sodann habe man unter dem Vorwand, Missbräuche
und Irrtümer in der Kirche abstellen zu wollen und den Abwehrkrieg gegen die Ungläubigen zu organisieren, ein allgemeines Konzil einberufen, tatsächlich dort aber nur Anhänger und Schmeichler des Papstes zugelassen, die Evangelischen mit Waffengewalt von der Teilnahme
abgehalten und in deren Abwesenheit das Verdammungsurteil über ihre Lehre gefällt; dieses Teufelskonzil sei mit Recht gescheitert. Nun unternehme man mit dem Interim den dritten Versuch zur Unterdrückung des Evangeliums, unter dem Vorwand, die Einheit
in Fragen der Religion wiedergewinnen zu wollen. Weil die Zeit dränge, beschränkt sich der Verfasser für diesmal darauf, einen wichtigen Artikel des Interims genauer zu beleuchten, den Abschnitt „Von der Messe“. Unter bewusster Missachtung des Sinnzusammenhangs
im biblischen Text teile das Interim die Einsetzungsworte Jesu ´auf: „Nehmet und esset“ beziehe sich auf die heilsame Seelennahrung für alle Gläubigen, „solches tut zu meinem Gedächtnis“ hingegen setze einen Opferdienst der Apostel ein. Hier liege eine ähnliche Missdeutung vor wie in
bezug auf die Letzte Ölung am Totenbett, die ursprünglich eine Krankensalbung gewesen sei. Die Wirkung der Verfälschung des Sinnes der Abendmahlsworte ist nach Meinung des Verfassers eine zweifache: Zum einen isst und trinkt sich selbst zum Gericht, wer
unter solch falschen Voraussetzungen das Abendmahl empfängt, zum andern wird ein neues Opfer aufgerichtet und das wahre Opfer Christi am Kreuz missachtet. Der Verfasser ermahnt die Gläubigen, sich nicht von der einmal erkannten Wahrheit des Evangeliums abwendig machen
zu lassen. Die Widersacher scheuten die öffentliche Auseinandersetzung um die rechte Lehre. In
Regensburg 1541 hätten ihre Vertreter zugestanden, dass die reformatorische Botschaft in vielen Punkten richtig
sei, aber sie wollten ihr nicht Raum geben, weil sie unter allen Umständen ihre Macht festzuhalten trachteten. Darum errichteten sie nun das Interim als einen Abgott, der auf ihr Geheiß anstelle Christi verehrt und geküsst werden solle. Mehrfach betont der Verfasser, es sei jetzt nicht
Zeit zum Disputieren, sondern zum Bekennen, da den Gegnern nichts an Erkenntnis der Wahrheit liege. Er schärft jedem einzelnen in seiner Leserschaft seine Verantwortung für den Erhalt und die Ausbreitung der evangelischen Lehre ein; er warnt vor Verleugnung der Wahrheit
und Abgötterei; jeder stärke die ihm anvertrauten Personen im Glauben. Dazu empfiehlt er die Schriften
Luthers und anderer treuer Lehrer, vor allem aber die Heilige Schrift selbst. Der Verfasser bereitet seine Leserschaft auf eine drohende
Leidenszeit vor, tröstet aber auch: Konnte Gott das Konzil scheitern lassen, das mit so großem Aufwand vorbereitet worden war, so wird er auch das Interim zunichte machen können, das von drei Sophisten in einem Winkel erdacht wurde. Der Verfasser wendet sich im Gebet an
Gott um Hilfe gegen die Verfolger. Gott züchtige auch seine Kinder, aber doch nur für kurze Zeit, sein Zorn aber werde die Widersacher treffen. Der Verfasser verweist darauf, dass das Licht des Evangeliums sich immer weiter in Europa ausbreite und selbst unter den
Türken gepredigt werde, während die angeblichen obersten Repräsentanten der Christenheit es verfolgten, wie könne man da im Mutterland der Reformation die Wahrheit verleugnen? Der Text schließt mit einem Gebetswunsch um Hilfe gegen die
Widersacher des Evangeliums und um baldige Wiederkunft Christi. Den Abschluss bildet ein Ausdruck von Martyriumserwartung, ein Mischzitat aus
Sir 35,21 und
Gen 4,10.
4. Ausgaben
Nachgewiesen werden können mindestens drei
15 verschiedene Ausgaben:
A:
Ein kurtzer bericht || vom Jnterim / darauß man leicht || lich kan die leer vnd Geist desselbigen || Buchs erkennen / Durch Theodorum || Henetum allen fromen Christen || zu dieser zeit nuͤtzlich
vnnd || trstlich. || Esaias 8. || ¶ Beschliset einen Rath vnd werde nichts || draus. || ¶ Beredet euch vnd es bestehe nicht / denn || hie ist Emanuel wider welchen weder rath || noch huͤlff was gelten mag / wie Sa= || lomon sagt. || 1548. [11] Bl. 4°
(VD 16: F 1440)
Vorhanden:
Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: Dg 4501 â
Görlitz, Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften bei den Städtischen Sammlungen für Geschichte und Kultur: D theol 413
Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek: 5 an: 8 J GERM II, 6436
Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt: If 3603 (13); If 4390 (11)
Leipzig, Universitätsbibliothek: Kirchg. 1113/8
Lutherstadt Wittenberg, Bibliothek des Lutherhauses: Kn A 299/2105; SS 3193
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: 513 Theol. (7); Alv Ef 103 (6); G 672.4 Helmst. (2) [benutztes Exemplar]; H 407.4 Helmst. (9); H 92.4 Helmst. (5); S 206.4 Helmst. (10); S 210.4 Helmst. (14); S 320b.4 Helmst. (7); Yv 1595.8 Helmst.
B:
Ein kurtzer bericht || vom Jnterim / darauß man leicht || lich kan die leer vnnd Geist desselbigen || Buchs erkennen / Durcch [!] Theodorum || Henetum allen fromen Christen || zu dieser zeit nuͤtzlich
vnnd || trstlich. || Esaias 8. || ¶ Beschlisset einen Rath vnd werde nichts || draus. || ¶ Beredet euch vnd es bestehe nicht / denn || hie ist Emanuel wider welchen weder rath || noch huͤlff was gelten mag / wie Sa= || lomon sagt. || 1548.
[11] Bl. 4° (VD 16: F 1438)
Vorhanden:
Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: Dg 4500
Budapest, Országos Széchényi Könyvtár (Nationalbibliothek): Ant. 2379; Ant. 2538 (3)
Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek: Hist.eccl. E 261,2
Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt: AB 155 587 (9)
Kiel, Universitätsbibliothek: 1 in: Cb 4366
München, Bayerische Staatsbibliothek: 4 H.ref. 340 d
C:
Ein kurtzer bericht || vom Jnterim / darauß man leicht || lich kan die leer vnnd Geist desselbigen || Buchs erkennen / Durch Theodorum || Henetum allen frommen Christen || zu dieser zeit nuͤtzlich
vnnd || trstlich. || Esaias 8. || ¶ Beschlisset einen Rath vnd werde nichts || draus. || ¶ Beredet euch vnd es bestehe nicht / denn || hie ist Emanuel wider welchen weder Rath || noch huͤlff was gelten mag / wie Sa= || lomon sagt. || 1548. [12] Bl.
4° (VD 16: F 1437)
Vorhanden:
Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: Dg 4501
Gotha, Forschungsbibliothek: Theol. 4 447-448 (3)
Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek: 8 TH IREN 60/958; TH IREN 66/5 (15) RARA
Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek: 4 Bud.Theol. 179 (11); 4 Theol. XLI,7 (7); 8 MS 25 860 (24)
Wien, Österreichische Nationalbibliothek: 20.Dd.859
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: 231.96 Theol. (11); Alv U 146 (11); J 609.4 Helmst. (4); L 482.4 Helmst. (9); S 207.4 Helmst. (2); S 212.4 Helmst. (5)
Aus dem Vergleich der verwendeten Typen mit eindeutig identifizierten bzw. signierten Drucken schließt man auf die Magdeburger Offizin des
Michael Lotter16 als Herstellungsort aller drei Ausgaben.
A und
B sind weithin identisch im Satz, Ausgabe
C
weist mehrere Erweiterungen und eine Kürzung gegenüber
A und
B auf; das zunächst leer gebliebene zwölfte Blatt legte es nahe,
Ergänzungen vorzunehmen. Dass diese Ergänzungen eine große sprachliche und sachliche Nähe zum Text der
„gemeinen Protestation“17 aufweisen,
18 spricht dafür, die Entstehung der
„gemeinen Protestation“ in etwa gleichzeitig mit Ausgabe
C des „kurzen Berichts“ anzusetzen. Entgegen
der seit Preger
19 herrschenden Auffassung ist deshalb davon auszugehen, dass die Abfassung des
„kurzen Berichts“ früher erfolgte als die der
„ gemeinen
Protestation“.
20 Der Edition liegt Ausgabe
A zugrunde, die Textänderungen in
C sind im Apparat berücksichtigt.