Text

Von Grickel Interim (1548) - Einleitung
bearbeitet von Hans-Otto Schneider
[Inhaltsverzeichnis]

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Einleitung

1. Historische Einleitung

Das Schmählied1 „Von Grickel Interim“ entstammt der Anfangsphase des publizistischen Kampfes gegen das Augsburger Interim. Dazu nutzt der Verfasser hauptsächlich das Mittel der persönlichen Verunglimpfung der Kommissionsmitglieder, die den Entwurf für die einschlägigen Teile des Reichsabschieds erarbeitet haben, und unter diesen ist es vor allem der protestantische Vertreter, Johann Agricola, auf den der Spott des Verfassers besonders zielt, obschon dessen tatsächlicher Beitrag zur Ausgestaltung des Interims eher gering anzusetzen sein dürfte.2 Die Mitwirkung eines protestantischen Theologen an der kaiserlichen Initiative zur Unterdrückung der evangelischen Kirche im Reich wurde offenbar als empörender Verrat empfunden, während man von den altgläubigen Vertretern ohnehin nichts Gutes erwartete. Hinzu kam, dass Agricolas Rechtgläubigkeit nach dem antinomistischen Streit mit Luther grundsätzlich zweifelhaft erscheinen konnte.3

2. Der Autor

Für Erasmus Alber4 als Verfasser5 des Liedes „Von Grickel Interim“ spricht die weitgehende Übereinstimmung der hier zusammengestellten Invektiven gegen Johann Agricola6 mit denjenigen, die sich in dem – gleichfalls anonymen, aber mit guten Gründen Alber zuzuweisenden – „Dialogus vom Interim“7 gegen ihn finden; auch die – im Zusammenhang sachlich nicht motivierte, eher wie ein Ceterum censeo wirkende – Erwähnung Georg Witzels8 fügt sich ins Bild.

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Hinzu kommen die beiden Melodieangaben: Das Lied „Bock Emser, lieber Domine...“9 wird zumeist Erasmus Alber zugeschrieben, weil dieser daraus in seiner Fabel „Von einer Stadtmaus und einer Feldmaus“ zitiert und auch anderweitig sprachliche Übereinstimmungen festzustellen sind.10 „Martinus ist nit geschwiegen“ ist die Anfangszeile eines Liedes, das anlässlich von Luthers Tod erschien: „Ein Newes Lied Von dem heiligen Man Gottes vnserm lieben Vater Doctor Martin Luther in Gott verschieden. Anno 1546. Im Thon Bock Emser, lieber Domine“, auch dies wahrscheinlich von Alber verfasst.11 Gustav Kawerau teilt aus einer Leipziger Handschrift eine Titelfassung zu unserem Spottlied mit, aus der er auf die Urheberschaft Albers schließt: „Das Lied Bock Emser lieber dn̅ē etc. gemacht Anno 1520, ernewert vnd gedeut auff meister INTERIM, der sich sonst in seinem grossen Titel schreibt, Magister Joannes Albertus (olim Schneider) Agricola (vulgo Grickel) Eißleben (vulgo Sch...leben) generalis Visitator totius Marchiae et plus, si vellet“; die Handschrift ist am Schluss datiert: 12. August 1548.12 Demnach wäre das Lied ein Nebenprodukt der Arbeit am „Dialogus vom Interim“, und seine Verbreitung könnte die Anregung zu einem Schmählied nach gleicher Melodie auf den hessischen Hofprediger Johann Lening als Fürsprecher des Interims aus dem September 1548 gegeben haben: „Ach Lening, lieber Julie, was hastu nhun gethan! [...]“13

3. Inhalt

Das Lied umfasst 27 vierzeilige Strophen mit Kreuzreim, in denen im wesentlichen ein einziges Thema variiert wird: Vorrangiges Ziel des Spottes ist Johann Agricola, Hofprediger Kurfürst Joachims II. von Brandenburg und Generalsuperintendent der Mark, der – neben dem Naumburger Bischof Julius von Pflug14 und dem Mainzer Weihbischof Michael Helding15 – als einziger Vertreter der protestantischen Seite an der Abfassung des Entwurfs zum Augsburger Interim beteiligt war. Der Verfasser wirft ihm deshalb vor, er sei

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aus Geldgier vom Evangelium abgefallen, und zeichnet Agricola als Verräter, Lügner, Spötter, Dummkopf und Säufer, der sich in seinem Hochmut als Propagandist des Interims zum Reformator aufwerfen wolle. Im Unterschied zum „Dialogus vom Interim“, mit dem sich das vorliegende Schmählied in etlichen Punkten berührt, enthält es keinerlei unmittelbar gegen den Kaiser oder die weltliche Obrigkeit gerichtete Spitzen, das Interim wird lediglich als Manifestation eines päpstlichen Furzes dargestellt.16

4. Ausgaben

Nachgewiesen werden können folgende Ausgaben: A: Schöner Lie= || der zwey / Vorhin noch nie || im Truck ansgangen [!] / || Das Erste / von Grickel Jnterim / || Jm thon Martinus ist nit geschwi= || gen / box Emser lieber Domine. || Das Ander / von dem Landt= || graffen auß Hessen / wie er || es hat außgericht etc. [4] Blatt 8° (VD 16 A 1528) Vorhanden: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: 925.17 Theol. (27) [benutztes Exemplar] B: Schöner Lie= || der zwey / Das erste von || Grickel Jnterim / Jm thon Marti= || nus ist nit geschwigen / box Emser || lieber Domine. Das Ander || Jch habs gewagt du || schne magt. [4] Blatt 8° (VD 16 ZV 21016) Vorhanden: Rudolstadt, Historische Bibliothek: SB Nr. 138 (28) C: Zwey Schner Lieder / || Das Erste / Von Grieckel [!] Jnterim / || Jm thon / Martinus ist nicht || geschwigen / box Emser || lieber Domine. || Das Ander / Von dem Knig aus || Franckreich / Wol auff jhr || Lantzknecht alle. [4] Blatt 8° (VD 16 A 1529) Vorhanden: Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg: W 1154 Nr. 5 Eine unkommentierte Textedition des Liedes „Von Grickel Interim“ nach Druck A liegt vor in: Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Bd. 3, Leipzig 1870 (Nachdruck: Hildesheim 1990), 898f (Nr. 1053). Die Ausgaben A, B und C weisen alle denselben Titelholzschnitt auf: Johannes Agricola als gelehrter Esel in Talar und Birett, mit der Schreibfeder in der Hand an einem Pult sitzend, verfällt dem zweifelhaften Charme einer dreiköpfigen Chimäre mit Drachenleib; die drei Köpfe stellen einen Engel, den Papst und einen Türken dar.17 Die Drucke bieten allesamt an erster Stelle das Lied, zu dem auch der Titelholzschnitt gehört: „Herr Grickel, lieber Domine [...]“; der verbleibende freie Raum ist jeweils durch ein anderes Lied gefüllt.18 Da diese Lieder keinen Bezug zum Interim aufweisen, wurde auf ihre Aufnahme in unsere Ausgabe verzichtet. Druck A erhebt im Titel den Anspruch, Erstdruck des Liedes zu sein. Dagegen sprechen weder innere noch äußere Gründe. A weist zwei Marginalien auf, die in C in den fortlaufenden Text eingefügt und in B fallengelassen wurden. Gleichwohl steht B in der Gestaltung des Titelblatts und hinsichtlich

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der Textgestalt A deutlich näher als C, das die Titelformulierung stärker verändert und zudem etliche Detailabweichungen im Satz und einige Textveränderungen gegenüber A und B aufweist und deshalb als spätester Druck anzusehen ist.19 Alle drei bekannten Drucke dürften freilich in rascher Folge erschienen sein, wohl noch 1548.20 Einen vierstimmigen Satz des Liedes in neuzeitlicher Notenschrift nach Vorlage eines Manuskripts aus der Leipziger Ratsbibliothek bietet G[ustav] Kawerau in: Siona. Monatsschrift für Liturgie und Kirchenmusik, 21. Jahrgang (1896), 43f, unter der Überschrift „Herr Grickel, lieber Domine. Ein kirchenmusikalisches Kuriosum vom Jahre 1548.“

Kommentar
1  Vgl. Gustav Bebermeyer, Art. Schmähschrift (Streitschrift), in: RDL² 3 (1977, ND 2001), 665–679, bes. §1 und §4. Bebermeyer führt aus, ebd., 666: „[...] Die Schm[ähschrift] zielt vorrangig auf die Schädigung einer Person, eines Gegners, in dem man den Vorkämpfer mißlicher Zustände sieht. Immer wirkt also ein Engagement mit für oder gegen eine Sache, wenn auch je nach Zeit wie Charakter der Verf[asser] höchst persönliche Invektiven mit im Spiele sind.“
2  Vor allem die Übersetzung ins Deutsche war Agricolas Werk. Vgl. Joachim Mehlhausen, Art. Interim, in: TRE 16 (1987), 230–237.
3  Vgl. Kawerau, Agricola, 211–222. Schon 1527 war es zwischen Agricola und Melanchthon zu Unstimmigkeiten in der Frage der Gesetzespredigt gekommen, die zunächst beigelegt werden konnten. In den Jahren 1537 bis 1540 kam es dann zur Konfrontation mit Luther selbst, und auch dieser Streit wurde notdürftig geschlichtet, Luther behielt jedoch zeitlebens ein Misstrauen gegenüber Agricola zurück. Zum antinomistischen Streit ab 1556 vgl. unsere Ausgabe Bd. 4.
4  Zu seiner Vita vgl. die Einleitung zu unserer Ausgabe, Nr. 11: Ein Dialogus vom Interim (1548), 553f.
5Weller, Lieder, 295, schreibt es ohne nähere Begründung Caspar Aquila zu. Zu diesem vgl. Heinz Scheible, Art. Aquila, Caspar, in: RGG4 1 (1998), 666.
6  Vgl. allgemein Kawerau, Agricola; ferner Joachim Rogge, Art. Agricola, in: TRE 2 (1978), 110–118; Ernst Koch, Art. Agricola, Johann, in: RGG4 1 (1998) 191.
7  Vgl. unsere Ausgabe, Nr. 11: Ein Dialogus vom Interim (1548), 559–692.
8  Vgl. unten im Editionsteil des vorliegenden Stücks Anm. 15 und 16.
9  Vgl. Ein hüpsch liedlin von dem Bock von Leyptzig (VD 16 ZV 317). Zu Hieronymus Emser vgl. Kawerau, Emser, dort S. 132 auch Emsers Wappen mit dem Bock. Vgl. ferner Josef Steinruck, Art. Emser, in: TRE 9 (1982), 576–580; Hellmut Zschoch, Art. Emser, in: RGG4 2 (1999), 1271; Reske, Buchdrucker, 162f.
10  Vgl. Körner, Alber, 14f.
11  Das vermutet bereits Wackernagel III, 896. Wackernagel bietet unter Nr. 1052 auf den Seiten 896–898 das Lied mit 41 vierzeiligen Strophen. Körner, Alber, 90f, ist der gleichen Auffassung.
12  Vgl. Kawerau, Agricola, 300, Anm. 1.
13  „Ein liedt widder den abtringen propheten Leningen, Butzbach genanth, ein selmerder [Seelmörder] zu Milsungen und gantz Hessen landt“, nach der Handschrift im Staatsarchiv Marburg abgedruckt bei Herrmann, Das Interim in Hessen, 184f, und in UQHRG 3, 76f (Nr. 650a). Vgl. Uckeley, Selbstbiographie, 93–104.
14  Vgl. Herbert Immenkötter, Art. Pflug, in: TRE 26 (1996), 449–453; Michael Beyer, Art. Pflug, in: RGG4 6 (2003), 1249f.
15  Vgl. Bernd Christian Schneider, Art. Helding, in: RGG4 3 (2000), 1605.
16  Dieses Fehlen antikaiserlicher Polemik hat die Drucklegung des Liedes vermutlich weniger riskant erscheinen lassen als im Falle des „Dialogus“, der zunächst nur handschriftlich verbreitet wurde; vgl. die Einleitung zu unserer Ausgabe, Nr. 11: Ein Dialogus vom Interim (1548), 551–558.
17  Ähnliche Darstellungen des Interims als dreiköpfige Chimäre finden sich häufiger, vgl. die Abbildungen bei Olson, Flacius, 176–179, 183f. Einen Hinweis zur Deutung der Darstellung gibt die Beschriftung eines Holzschnitts, den Körner, Alber, 120, beschreibt: „[...] Drei Köpfe hat das Ungeheuer. Das Papsthaupt mit dreifacher Krone speit eine unreine Flammenglut aus, ‚die gantze bepstliche Grewel‘, das Haupt eines Engels mit Flügeln: ‚der Teuffel kumpt in einer gestalt eins Engels‘ [II Kor 11,14]; das dritte mit Turban und Halbmond: ‚verspottung des Abentmals vnd Ehestands‘ durchs Interim.“ Möglicherweise ist der Turbanträger auch speziell als Mameluck zu deuten, im 16. Jahrhundert Inbegriff des Glaubensabtrünnigen. Vgl. Art. Mameluck, in: DWb 12, 1518. Angeregt wurde die Darstellung womöglich durch einen Alptraum Melanchthons im Umfeld des Regensburger Religionsgespräches von 1541, der späterhin auf das Interim gedeutet wurde. Melanchthon träumte von einem furchterregenden Mischwesen aus mehreren Tierkomponenten mit Menschenantlitz und Drachenfüßen, das er als Hyäne bezeichnete; vgl.: Eine entschůldigung MAtthiae Flacij Jllyrici / an einen Pharherr. Jtem desselben / was da sey die Kirchen verlassen odder nicht verlassen. Jtem zween Trewme Philippi, [Magdeburg, Christian Rödinger d. Ä. 1549] (VD 16 F 1369); EPISTOLA APOLOGETICA MATthiae Flacij Jllyrici ad quendam Pastorem. ITEM DVO SOM/nia Philippi [Magdeburg, Michael Lotter 1549] (VD 16 F 1367); Etliche Trawm Philippi von gegenwertigen vnd vergangen verfelschung der wahren Religion sehr lustig vnd ntzlich zu lesen. Jtem ein Trawm des abtrnnigen Mamelucken Staphyli, in: CR 20, 685–692 (anscheinend nach VD 16 E 4084).
18A bietet unter der Überschrift „Das Ander New liedt“ auf den Seiten A 3r–4v zehn Strophen, die aufgrund ihres unterschiedlichen Baus kaum zum Singen geeignet erscheinen, beginnend mit den Worten: „Was wllen wir aber singen, wier singen ein neues gedicht, wol von dem Landtgraffen auß Hessen, wie ers hat außgericht“. Der vollständige Text ist abgedruckt in: Uhland, Volkslieder I [1. Halbband] 338–340 (Nr. 201), unter der Überschrift „Der Landgraf“. In derselben Sammlung, S. 321f (Nr. 190), ist auch das in Druck C an zweiter Position unter der Überschrift „Das Ander Lied“ auf den Seiten A 3v–4r abgedruckte Stück enthalten; es umfasst fünf Strophen und beginnt: „Woll auff, jhr Lantzknecht alle, seyt frlich, seyt guter ding. Wir loben Gott den Herren, darzu den Edlen Kning“. In B steht auf den Seiten A 3v unten und A 4r ein Liebeslied; auch hier lautet die Überschrift „Das ander liedt“. Die erste der drei Strophen beginnt: „Jch habs gewagt, du schne magt, in rechter lieb vnd trewen“. Der vollständige Text ist abgedruckt in: Bergmann, Ambraser Liederbuch, 11f (Nr. 14). Druck B füllt den verbliebenen Raum auf S. A 4r mit einem Zweizeiler: „Nichts liebers wil ich han auff diser welt / Dann ein schne frawen vnd bar gelt.“
19  Bei C fehlt anscheinend vom linken Rand des Titelholzschnittes unten ein Stück, was auf eine Beschädigung des Druckstockes schließen lässt, die bei A und B nicht zu erkennen ist. Dies könnte ein weiteres Indiz für die Reihenfolge der Drucke sein.
20  Die Online-Datenbank des VD 16 weist Druck A der Offizin von Christian Rödinger d. Ä. in Magdeburg zu; zu ihm vgl. Reske, Buchdrucker, 581, 1000. Die Drucke B und C entstammen höchstwahrscheinlich derselben Werkstatt.
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