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Pasquillus (1548)
bearbeitet von Johannes Hund
[Inhaltsverzeichnis]

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Einleitung

1. Historische Einleitung

Wohl noch im Jahre 15481 erschien eine anonyme Streitschrift ohne Angabe
des Druckortes und der Offizin auf dem Buchmarkt, die sich inhaltlich mit
(5)dem Augsburger Interim auseinandersetzte. Wie bereits aufgrund ihres Titels
zu vermuten, gehört diese Veröffentlichung zur Gattung des „Pasquillus“,
einer Form von Schmäh- und Streitschriften, die stets anonym veröffentlicht
wurden, um Zeitereignisse und Missstände zu kritisieren.2 Die Titelformulie-
rung spielt mit der doppelten Bedeutung des Wortes „indeclinabilis“: „ unde-
(10)klinierbar“ und „unbeugsam“. Der Druck enthält laut Titelangabe eine gram-
matikalische Analyse des nicht deklinierbaren lateinischen Temporaladverbs
„interim“, dessen eigentliche tiefere Bedeutung sich erst aufgrund des durch
den anonymen Autor postulierten etymologischen Zusammenhangs von „ in-
terim“ mit „interitus“, „Untergang“, erschließt. Die Funktion des Interims ist
(15)demnach als ein satanisch-unbeugsamer Zugriff auf die Seelen der Christen
zu bestimmen. Das Zitat, das den Titeltext abschließt, II Kor 6,14–16a,
präludiert die geschichtstheolo­gische Deutung der Gegenwart als Kampf
zwischen Christus und Belial, der Glaubenden und der Ungläubigen, die den
zweiten Teil der Schrift dominiert. Die Gegenwart wird damit als Entschei-
(20)dungszeit qualifiziert, in der sich die frommen Christen gegen das Interim als
Verführungswerk des Teufels vereinigen müssen.
Im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld dieses Druckes erschienen 1544 in Ba-
sel
ein zweibändiges Werk unter dem Titel „Pasquillorum tomi duo“3 und
1546 in Wittenberg der „Pasquillus Germanicus“.4 Vor allem die letztge-
(25)nannte Veröffentlichung dürfte sich für die Traditionsgeschichte des „ Pas-
quillus“ als einschlägig erweisen, da in diesem Druck ebenfalls eine ge-
schichtstheologische Deutung der Gegenwart vorliegt, die mit einem Kampf
der Kirche gegen den Antichrist und seine Diener rechnet.5

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2. Autor

Der „Pasquillus“ ist seiner Gattung gemäß anonym erschienen. Es gibt je-
doch einige Indizien, die auf Erasmus Alber6 als Autor hindeuten: 1536 trat
er als Autor einer lateinischen Schulgrammatik in Frageform in Erschei-
(5)nung7 und verfolgte mit einem Wörterbuch8 etymologische Interessen, wie
sie für den Autor des „Pasquillus“ von entscheidender Bedeutung sind. 1548
war Alber bereits nach Magdeburg in den Kreis der entschiedenen Gegner
des Augsburger Interims übergesiedelt. Hinzu kommen inhaltliche Parallelen
zwischen Albers „Dialogus“ und dem „Pasquillus“: die pseudo- etymologi-
(10)sche Herleitung der Vokabel „Interim“ aus dem lateinischen Wort „ interi-
tus“,9 die Erwähnung und Kritik der Übernahme fremdländischer Moden
durch die Deutschen10 und die radikal dualistische Geschichtssicht mit Chri-
stus und Belial als Hauptakteuren. Zwingend sind diese Gründe für eine
Autorschaft Albers allerdings nicht. Ein anderer Autor, wie etwa Matthias
(15)Flacius Illyricus
,11 käme durchaus in Betracht.

3. Inhalt

Der „Pasquillus“ beginnt mit einer pseudo-grammatikalischen Analyse des
Temporaladverbs „interim“, die in Form und Stil das im 16. Jahrhundert weit
verbreitete lateinische Elementarlehrbuch des Aelius Donatus imitiert. Doch
(20)wird die grammatikalische Analyse bereits in der Antwort auf die zweite
Frage „Quid est adverbium“ verlassen, wenn mit der Sachinformation geant-
wortet wird, das Interim sei ein mit dem Wort Gottes verbundenes Wort des
Satans, das die Seelen betrüge und der Stabilisierung des antichristlichen
Götzendienstes diene. Der „Pasquillus“ übt in seinem ersten Teil Kritik an
(25)der die kirchlichen Dogmen vernebelnden Intention des Interim, das den

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Menschen Gift statt Medizin und Götzendienst als Kultus anbiete. Letztlich
gehe es dem Interim darum, das teuflische Weltregiment aufzurichten und
die Menschen von Christus abzuführen. Deshalb kann man nach Sicht des
„Pasquillus“ nur dem Adverb „interim“ folgen, wenn man sich vom „verbum
(5)Dei“ lossagt. Etymologisch sei das Temporaladverb eng mit dem Verb „ in-
terimo“ verwandt. Denn das Interim werde Deutschland nicht befrieden, son-
dern dazu helfen, fromme Lehrer hinzurichten. Indem es Lügen mit Schrift-
worten und Kirchenväterzitaten vermische, treibe es sein satanisches Spiel.
Die grammatikalische Lektion wird mit der Begründung abgebrochen, dass
(10)der Versuch, dem Mainzer Suffraganbischof Michael Helding, einem Mit-
verfasser des Interims, den ganzen Donat beizubringen, ohnehin erfolglos
bleiben müsse. Der anonyme Autor setzt darum noch einmal an und spricht
in einem zweiten Teil den „frommen Leser“ in Predigtform – die Grammtik-
unterweisung ist an ihr Ende gekommen – direkt an, indem er das Interim in
(15)den Kampf des Teufels gegen die Kirche Christi einordnet. Seit jeher ver-
suche der Satan, durch Gewalt, Missdeutung der Schrift und Lüge, die Men-
schen von Gott abzuziehen. Doch je heftiger die diabolischen Anfeindungen
würden, desto gewisser werde die Zusage Gottes, die Seinen nicht allein zu
lassen. Das Interim sei eine direkte Gotteslästerung, da sich mit ihm Men-
(20)schen an die Stelle Christi und seiner Lehre gesetzt hätten. Das Gottesver-
hältnis der wahren Christen ist nicht durch einen interimistischen, sondern
durch einen immerwährenden Lobpreis Gottes geprägt. Darum warnt der
„Pasquillus“ vor der Annahme des Interims durch die evangelischen Stände,
gehe es bei dieser Frage doch um Leben und Tod. Der anonyme Autor be-
(25)fürchtet, dass auf das „interim“ ein noch viel schlimmeres „postea“ folgen
werde, in dessen Verlauf der Teufel die Lehre Christi fast ganz vernichten
werde. Die Autoren des Interims hätten sich schon jetzt über Gott gestellt,
indem sie seine Gebote aufhöben und Gehorsam für ihre Gebote verlangten.
Form und Inhalt des „Pasquillus“ suggerieren, dass so, wie jedem Latein-
(30)schüler ein Adverb bekannt sei, auch jedem urteilsfähigen Christen der dia-
bolische Charakter des Interims, der einer detaillierten Widerlegung nicht
bedürfe, klar erkennbar sei.

4. Ausgaben

Nachgewiesen werden kann folgende Ausgabe:
(35)A: PASQVILLVS, || CONTINENS ANALYSIN, SEV || EXPOSITIONEM
ADVERBII INTE- || rim, quae est pars Indeclinabilis, a Satana & eius ||
Squamis elaborata ad animarum || Interitum. || II. Corinth. VI. || Nolite
iugum ducere cum infidelibus. Quae enim || participatio iustitiae cum
iniquitate? Aut quae societas || luci ad tenebras? Quae autem conuentio

CHRISTI || ad Belial? Aut quae pars fideli cum infideli? Quis || autem
consensus templo DEI cum idolis? [4] Blatt 4° (VD 16 P 838).
Vorhanden:
Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: Dg 4550
(5)Budapest, Országos Széchényi Könyvtár (Nationalbibliothek): Ant. 2716 (4)
Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek: 7 an: 8 J
GERM II, 6436
Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt: AB 155 587 (16)
München, Bayerische Staatsbibliothek: 4 Polem. 3844,1
(10)Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: S 207.4° Helmst. (13) [ benutz-
tes Exemplar]

Kommentar
1  Vgl. die Selbstdatierung im „Pasquillus“, A 1v, unsere Ausgabe, Nr. 14: Pasquillus (1548), S.
735: „ANNO XLVIII.“
2  Zur Gattung „Pasquill“ oder „Pasquinade“, die Anfang des 16. Jahrhunderts entstand, vgl.
Gustav Bebermeyer, Art. Schmähschrift (Streitschrift), in: RDL 3 (19772), 665–678, bes. 669.
6  Zu seiner Biographie vgl. die Einleitung zu Nr. 11: Alber, Ein Dialogus (1548), 553f.
9  Vgl. Alber, „Dialogus“, A 4v, unsere Ausgabe, Nr. 11: Alber, Ein Dialogus (1548), S. 555 und
„Pasquillus“, A 1v, unsere Ausgabe, Nr. 14: Pasquillus (1548), S. 735.
10  Vgl. Alber, „Dialogus“, L 3v; P 4r–v, unsere Ausgabe, Nr. 11: Alber, Ein Dialogus (1548), S.
653f, 684f, und „Pasquillus“, A 3v, unsere Ausgabe, Nr. 14: Pasquillus (1548), S. 738.
11  So behauptet etwa ein späterer bibliothekarischer Eintrag auf dem Wolfenbütteler Exemplar S
204 Helmst. (13), A 1v, die Autorschaft des Flacius. Gegen diese Zuweisung könnte allerdings
sprechen, dass sich der anonyme Verfasser mit der Wendung „nos Germanos“, „Pasquillus“, A
4r, unsere Ausgabe, Nr. 14: Pasquillus (1548), 738, wie selbstverständlich unter die Deutschen
zählt, was für den gebürtigen Illyrer Flacius ungewöhnlich erschiene. Zu seiner Biographie vgl.
die Einleitung zu unsere Ausgabe, Nr. 3: Flacius, Ein kurzer Bericht vom Interim (1548), S. 92f,
und Nr. 15: Flacius, Wider das Interim (1548), S. 747.
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