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A Weighing and Considerin of the Interim, Preface (1548)
bearbeitet von Hans-Otto Schneider
[Inhaltsverzeichnis]

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Einleitung

1. Historische Einleitung

Während der Fortbestand des Protestantismus im Reich nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1547 ernstlich gefährdet schien, hatte das Jahr 1547 für die reformatorisch gesinnten Kreise in England mit dem Tode Heinrichs VIII. und dem Beginn der Herrschaft des jungen Königs Edward VI. eine Wendung gebracht, die für die Zukunft hoffnungsvoll stimmen konnte. Zwar hatte Heinrich VIII. aus dynastischen Gründen die Kirche Englands von Rom gelöst, aber eine echte Hinwendung zu den reformatorischen Bewegungen und entstehenden Kirchentümern des europäischen Festlandes hatte er niemals vollzogen, trotz gelegentlicher Annäherungsversuche von beiden Seiten. Insbesondere seit 1539 hatten die Pressionen gegenüber den Anhängern Luthers wieder zugenommen. Mit der Thronbesteigung Edwards VI. gewannen nun reformatorisch gesinnte Kreise Einfluss auf die Politik und auf die anglikanische Staatskirche. So stellte Thomas Cranmer, der Erzbischof von Canterbury, verheiratet mit einer Nichte des Nürnberger Reformators Andreas Osiander,1 1547 das „Book of Common Prayer“ zusammen, auf Jahrhunderte die maßgebliche Agende der anglikanischen Kirche.2 Wäre der Protestantismus im Reich tatsächlich mit dem Interim weitgehend widerstandslos in sich zusammengebrochen, so hätte das offenbar auch die Position der reformatorisch gesinnten Kreise in England empfindlich geschwächt. In dieser Situation mussten Gerüchte irritierend wirken, Philipp Melanchthon, der bedeutendste reformatorische Theologe neben und nach Luther, habe seine Lehre widerrufen und sich von Luther losgesagt. Wie konnte es zu solchen Gerüchten kommen?3 Melanchthon hatte mit Datum vom 28. April 1548 einen Brief an den kursächsischen Rat Christoph von Carlowitz geschrieben, der sich in Augsburg auf dem Reichstag aufhielt; darin hatte Melanchthon Formulierungen gewählt, die von großer innerer, zwischenmenschlicher Distanz gegenüber Luther zeugten und den eigenen Anteil am Reformationswerk kleinredeten. Zweck des Schreibens war es vermutlich, den Zorn des Kaisers gegenüber Melanchthon möglichst zu besänftigen. Melanchthon brachte langgehegte Vorbehalte gegen Luthers Führungsstil und seinen Umgang mit Gegnern und Freunden zur Sprache; darüber konnte leicht übersehen werden, dass er gleichwohl an der Wahrheit des Evangeliums festhielt und sich in den Grundpositionen reformatorischer Erkenntnis trotz allem mit Luther einig

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wusste. Und in der Tat wurde dies von Freund und Feind übersehen, als Carlowitz den Brief in zahlreichen Abschriften auf dem Reichstag und darüber hinaus verbreitete. Bartholomäus Sastrow, Mitglied der pommerschen Gesandtschaft, schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „Diß kleinmutig des Herrn Melanchthonis Schreiben ... hatt Carleuitz strax, alß ers bekommen, spargiert und menniglich communiciert. Es ist mit großem Verwundern, doch nicht einerlei Gemuts [aufgenommen worden], dan die Confessionisten habens mit Schrecken und Hertzenleidt, die Catholischen aber mit unaussprechlichen Freuden gelesen. Herr Gott, wie haben sie sich damit geschleppt, daruber gefrolocket und triumphiert, jren Lust und grossen Gefallen yderman in gantzem Teutschen Lande nicht genuchtsam entdecken noch ausreden konnen! Die drei geistlichen Churfursten haben es sampt dem Interims Buch dem Pabst zugeschicket und seines Bedenckens, so er jnen auch wieder zugeschrieben, erholt.“4 Es lag kaum in der Absicht Melanchthons, dass sein Schreiben so weiten Kreisen bekannt werden sollte; seinen Zweck hätte es erfüllen können, wenn es nur dem Kaiser und vielleicht dem einen oder anderen kaiserlichen Rat vorgelegt worden wäre. Stattdessen wurde der Inhalt des Briefes anscheinend selbst in England bekannt, denn nur so ist das Aufkommen des Gerüchts über einen angeblichen Widerruf Melanchthons plausibel erklärbar. Mit der Veröffentlichung des Gutachtens5 verband Rogers nicht zuletzt die Absicht, dieses Gerücht wirksam zu entkräften. Daneben konnte das Gutachten aber trotz der unterschiedlichen Ausgangslage im Reich und in England auch inhaltlich von Interesse sein, denn die Frage, inwieweit Zugeständnisse gegenüber den Altgläubigen theologisch vertretbar seien, war in beiden Fällen virulent, und im Grundsatz musste die Antwort ähnlich ausfallen, auch wenn unterschiedliche Machtkonstellationen eine unterschiedliche Kompromisslinie zur Folge haben konnten. Der reformatorischen Bewegung in England war freilich zunächst nur eine kurze Zeit der freien Entfaltung unter Edward VI. beschieden; nach seinem frühen Tod kam 1553 – nachdem im Jahr zuvor der Passauer Vertrag die Protestanten im Reich vom Interim befreit hatte – seine Halbschwester Maria,6 genannt „die Katholische“, zur Regentschaft, deren gewaltsame Verfolgung der Protestanten ihr den Beinamen „Bloody Mary“ eintrug.

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2. Der Autor

John Rogers7 wurde um 1505 in Deritend8 geboren. 1525 oder 1526 erwarb er in Cambridge den Grad eines Baccalaureus Artium. 1532 wurde er Pfarrer (Rector) an der Kirche Holy Trinity the Less in London. 1534 trat er als Kaplan in den Dienst der Company of Merchant Adventurers in Antwerpen. Diese Gesellschaft trieb neben ihren offiziellen Geschäften auch einen unerlaubten Handel mit protestantischen Büchern. Spätestens in seiner Antwerpener Zeit wandte sich Rogers dem evangelischen Glauben zu, denn er verheiratete sich dort mit Adriana van der Weyden9 und veröffentlichte 1537 unter dem Pseudonym Thomas Matthews die erste vollständige Bibel in englischer Sprache; dabei griff er auf Teilübersetzungen von William Tyndal und Miles Coverdale zurück und versah sie mit Erklärungen. Am 25. November 1540, gleichzeitig mit dem Schotten John MacAlpine,10 immatrikulierte sich Rogers an der Universität Wittenberg.11 Auf Empfehlung Melanchthons12 wurde Rogers im Herbst 1544 als Pfarrer und Superattendent nach Meldorf in Dithmarschen berufen. Trotz schwieriger Arbeitsbedingungen erfreute er sich bald großer Beliebtheit in seiner Gemeinde. Dennoch zog er mit seiner Familie 1548 zurück nach England, als dort unter Edward VI. der Protestantismus einen Aufschwung nahm, und wirkte fortan in London.13 Rogers wurde Pfarrer (Vicar) an der Kirche St. Sepulchre-without-Newgate und Pfarrer (Rector) von St. Margaret Moyses, dann Präbendar an der Kathedrale St. Paul’s in London, wo ihm auch eine theologische Professur übertragen wurde, und Pfarrer (Rector) von Chigwell. Nach der Machtübernahme durch Maria I., die Katholische, wurde Rogers zunächst unter Hausarrest gestellt, dann eingekerkert und schließlich am 4. Februar 1555 auf der Hinrichtungsstätte Smithfield (London) als erster protestantischer Märtyrer unter Maria I. verbrannt. Er hinterließ seine Ehefrau mit elf Kindern. 1554 hatten die Dithmarscher einen Brief an den Hamburger Rat geschrieben, in dem sie

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diesen aufforderten, sich in England für Rogers’ Freilassung einzusetzen, sie seien auch gern bereit, ihn wieder als ihren Pastor aufzunehmen. Rogers übersetzte mehrere Schriften Melanchthons ins Englische und regte Übersetzungen an, anscheinend hat aber nur seine Übersetzung von Melanchthons Gutachten zum Interim die Verfolgung unter Maria Tudor überdauert.

3. Inhalt

Als Beleg für die Haltlosigkeit von Gerüchten, als habe der bedeutende reformatorische Theologe Melanchthon seine Lehre widerrufen, legt Rogers dessen Gutachten zum Interim in englischer Übersetzung vor. Das Gutachten ist zwar kurz gefasst, widerlegt aber die gewichtigsten Missbräuche und Irrtümer des Papsttums. Bei Gelegenheit will Melanchthon ausführlicher darauf eingehen. Hätte er tatsächlich widerrufen, so wäre das in der Tat ein schwerer Schlag für die Sache der Reformation gewesen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in England. Der ungenannte Korrespondent, der Rogers das Gutachten übersandt hat, hat aber weitere Schriften deutscher Theologen gegen das Interim in Aussicht gestellt. Die Papisten in England haben also keinerlei Grund zu frohlocken, denn das Interim wird in Deutschland nicht unwidersprochen hingenommen werden, sondern auf Widerstand und Gegenwehr treffen. Da nicht jeder informiert sei, was das Interim ist und was „Interim“ heißt, erläutert Rogers seinen Lesern, dass das Interim ein Buch ist, das auf Befehl des Kaisers Anfang Juni des laufenden Jahres 1548 veröffentlicht wurde, in dem den Orten,14 die sich der Reformation angeschlossen haben, die Rückkehr zur alten papistischen Ordnung befohlen wird. Das Wort „Interim“ heißt „inzwischen“, „für die Zwischenzeit“, nämlich für die Zeit zwischen dem Augsburger Reichstag und einem künftig abzuhaltenden Generalkonzil. Für diese Zwischenzeit werden den Protestanten lediglich Priesterehe und Kommunion unter beiderlei Gestalt zugestanden. Bis zum Generalkonzil hoffen die Gegner der Reformation, mächtig genug zu sein, um sie vollständig ausrotten zu können. Melanchthon zeigt in seiner Antwort auf das Interim, in welchen Punkten ein Christ Kompromisse mit der altgläubigen Partei eingehen könne und in welchen nicht. Daraus geht klar hervor, dass Melanchthon die Wahrheit, für die er seit langer Zeit eingetreten ist, weder in der Vergangenheit verleugnet hat noch künftig zu widerrufen gedenkt.

4. Ausgaben

Nachgewiesen werden kann eine Ausgabe: A: A way- || ing and conside- || ring of the || INTERIM by the || honourworthy and high- || ly learned PHILLIP || MELANCTHON. || Trāslated into Englyshe || by John Rogers. || 1548. [Im Kolophon: Imprinted at London in Flete- || strete at the signe of the Sunne || ouer against the conduite by Edwarde Whitchurche, || the vi. daie of Auguste, || the yere of our || lorde. || M. D. XLVIII. || Cum priuilegio ad impri- || mendum solum.][28] Bl. 8° Vorhanden: London, British Library: 1019.b.3.(3.) Da Rogers’ Übersetzung gegenüber dem Originaltext des Gutachtens keine zusätzlichen Informationen bietet und auch nicht selbst wiederum Gegenstand weiterreichender literarisch dokumentierbarer Auseinandersetzungen geworden ist, beschränkt sich unsere Ausgabe auf die Wiedergabe des Vorworts aus der Feder von John Rogers. Die wenigen erläuternden Randbemerkungen, die Rogers zum besseren Verständnis seiner mit den Verhältnissen im Reich nicht en detail vertrauten Leserschaft angebracht hat (in ihrer Lesbarkeit durch den knappen Schnitt des Exemplars leider stark eingeschränkt), sind bei der Edition des Gutachtens15 im Apparat berücksichtigt.

Kommentar
1  Zu Osiander vgl. unsere Ausgabe Nr. 8: Bedenken etlicher Prädikanten (1548), Einleitung, Abschnitt 2.4.
2  Unter Maria I. wurde er am 21. März 1556 in Oxford als Ketzer verbrannt; seine Witwe Margaret heiratete später den Drucker und Verleger Edward Whitchurch, der 1548 Rogers’ Übersetzung des Melanchthon-Gutachtens gedruckt hatte, dessen Vorrede hier ediert wird.
3  Vgl. zum folgenden Scheible, Carlowitz; zur differenzierten Interpretation des Briefes vgl. auch Wengert, Philoneikos.
4G. Chr. F. Mohnike (Hg.): Bartholomaei Sastrowen Herkommen ..., Band 2, 1824, 319f, zitiert nach Scheible, Carlowitz, 331. Scheible schreibt weiter (331f): „Flacius berichtet, der Brief sei in Augsburg ‚wie eine Monstranz‘ herumgereicht und auch dem Kaiser vorgelesen worden. Der habe darauf gesagt: ‚Den habt ihr; seht, daß ihr ihn haltet!‘“
5Rogers lag offenbar ein Druck der ersten Ausgabe vor, auf deren Titel Melanchthon explizit als Verfasser des Gutachtens genannt ist. Vgl. unsere Ausgabe Nr. 1: Philipp Melanchthon, Bedenken aufs Interim (1548), Einleitung, Abschnitt 4, S. 54–56, Drucke A-E. Dafür spricht auch der frühe Erscheinungstermin der englischen Übersetzung.
6  Aus Heinrichs VIII. erster Ehe mit Katharina von Aragon. Die Weigerung Papst Clemens’ VII., diese Ehe zu annullieren, veranlasste Heinrich VIII. zur Trennung von Rom.
7  Zum folgenden vgl. Meyer, Rogers; Beber, Rogers; Weng, Melanchthons Ausstrahlung, bes. 9–13. Für freundliche Hinweise und Unterstützung bei der Literaturbeschaffung sei Herrn Dr. Heinz Scheible, Heidelberg, und Herrn Dr. Dirk Meier, Wesselburen, herzlich gedankt.
8  Heute ein Teil Birminghams.
9  Der Name wurde später zu ‚Pratt‘ anglisiert, wegen lat. pratum = Wiese, Weide.
10  Zu ihm vgl. unten die Einleitung zu unserer Ausgabe Nr. 10: Theologorum Academiae Hafniensis Judicium de Interim, S. 486.
11  Nach einigen Darstellungen soll er sich allerdings schon seit 1538 in Wittenberg aufgehalten haben.
12  Vgl. Brief Melanchthons vom 18. September 1543 an den Pfarrer und Superattendenten Johannes Snegius (Schneck) in Heide/Dithmarschen, MBW Nr. 3318 (vgl. CR 5, 178, Nr. 2758). Schneck hatte M. Johannes Turstenius für die vakante Stelle haben wollen, dieser konnte aber dem Ruf nicht folgen, weil er Stipendiat des Kurfürsten gewesen war und damit die Verpflichtung hatte, einige Jahre im sächsischen Kirchendienst zu bleiben.
13  Möglicherweise fand er zunächst nach seiner Rückkehr Aufnahme bei dem Drucker Edward Whitchurch, denn das Vorwort zur Übersetzung des Interimsgutachtens ist datiert "At London in Edward whitchurch house by John Rogers 1. Augusti 1548", vgl. unten S. 87.
14  Im Text: ‚cities‘, was im frühneuzeitlichen Englisch auch so viel wie ‚Wohnplätze, Weiler‘ bezeichnen kann, nicht nur ‚(Groß)städte‘.
15  Melanchthon, Gutachten zum Interim (1548), unsere Ausgabe Nr. 1, S. 59–75.
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