Conrad Borchling publizierte im Jahr 1912 die
Beschreibung einer damals im Privatbesitz von L. H. Müller in Kalbe
an der Milde befindlichen Handschrift. Seit mehreren Jahren galt diese
Handschrift als verschollen, wie man beispielsweise dem Eintrag im
Marburger
Handschriftencensus entnehmen konnte. Die Handschrift befindet sich
allerdings unter der Signatur
Cod.
Guelf. 36 Noviss 12° in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel.
Im Jahr 1990 verkaufte Prof. Dr. Dr. Ludolf Müller, einem Enkel von L. H.
Müller, sie an der Herzog August Bibliothek. 2014 wurde die Handschrift neu
katalogisiert und dabei hat sich herausgestellt, dass die Handschrift weitaus
mehr Texte enthält als von Borchling angeführt. So befinden sich in dieser
niederdeutschen Sammelhandschrift unter anderem eine niederdeutsche Übersetzung
des Speculum artis bene moriendi des
Nikolaus von
Dinkelsbühl – es ist hierbei unklar, ob es sich um eine Neuübersetzung
des Textes handelt – , eine Andacht auf die Karwoche, ein Reimgedicht auf die
zehn Gebote, ein geistliches Lied, mehrere Exempla und Gebete, ein Gespräch
einer Einsiedlerin mit zwei Priestern, ein Text über das rechte Verhältnis eines
Christenmenschen zu Gott, eines Meisters Lehre, Gabriel und die Seele,
Autoritätensprüche, St. Bernards Worte wider die sieben Todsünden
(PS.-Bernardus) und Texte über Tugenden. Alles in allem handelt es sich also um
eine Sammlung von Texten.
Die Handschrift ist 14x10,5 cm groß und hat ein spätgotischer Koperteinband aus
unbeschriebenem Pergament mit Rückenversterkung aus Leder. Nachträglich ist mit
Langstich einen Lederumschlag aus dickem braunem Leder mit einem
Haken-Klappenverschluss mit dem Lager auf der Fläche des Buchdeckels angebracht.
Dieser Einband ist bestempelt. Die Margen sind relativ groß und rubriziert sind
nur einzelne Buchstaben, im Allgemeinen die Großbuchstaben und erste Buchstabe
von wichtigen Wörtern wie ‚g‘ im ‚gheboden‘ auf 70r. Außerdem gibt es rote
Initialen und einige Rubrieken.
Wie schon bei Borchling vermerkt ist, befindet sich in dieser Handschrift eine
niederdeutsche Übersetzung von Andreas de Escobars Modus Confitendi (F.
61r-80r). Der einflussreiche Theologe und Schriftsteller Andreas de Escobar
(auch Andreas Dias, Andreas Didaci, Andreas Hispanus, Andreas von Randulph oder
Andreas von Lissabon genannt)
2 hatte als Schriftsteller eine
lange Nachwirkung mit dem Lumen confessorum, einem Text für die Beichte, der
hauptsächlich für Kleriker gedacht war. Sein Modus confitendi, ebenfalls eine
Beichtschrift, aber für Laien gedacht, war sehr gefragt. Dies zeigt schon die
Anzahl der Wiegendrucke: GW 1769 bis GW 1855, 86 insgesamt, da 1827 fehlt
3 . Damit rangiert dieses Werk
unter den am häufigsten gedruckten der Inkunabelzeit auf Platz 22 und zählt
damit zu den Bestsellern des 15. Jahrhunderts.
4 Es fällt dabei auf, dass die Sprache dieser
Wiegendrucke – und auch der Ausgaben des 16. Jahrhunderts – Latein ist. Einzig
die Ausgabe GW 1815 bietet eine spanische Übersetzung. Die wenigen
volkssprachlichen Übersetzungen des Textes sind sämtlich im Spanisch und
Portugiesisch
5 . Eine volkssprachliche Variante in einer germanischen
Sprache ist bis jetzt allein in der Wolfenbütteler Handschrift bekannt.
6 . Es existieren sonst keine Übersetzungen ins
Deutsche, weder handschriftlich noch im Druck, was bei so einem beliebten Text
erstaunlich ist.
Der Beichttext ist so aufgebaut, dass man nach einer Einleitung erst seine
sündhaften Gedanken, Worte und Werke beichtet. Danach werden die Sieben
Todsünden, die man unter Umständen begangen hat, gebeichtet und die Verstöße
gegen die Zehn Gebote. Außerdem beichtet man Fehler bezüglich der sieben
Sakramente, der sieben göttlichen Tugenden, der sieben Gaben und der zwölf
Früchte des heiligen Geistes. Die Übersetzung stimmt weitgehend mit der
lateinischen Vorlage überein, ab Seite 72v wird sie allerdings umfangreicher als
die Vorlage und im Vergleich mit lateinischen Fassungen fehlt alles nach den
zwölf Früchten des heligen Geistes, der Schluss.
In der Handschrift werden die Wörter
ich und
ick ständig durcheinander benutzt
und zwar sogar im gleichen Satz, wie zum Beispiel auf Seite 67v: „Ich hebbe
ghemaket ropen yn mynen torne vnde ick hebbe ghemaket twygdracht“. Dass der
Übersetzer oder Schreiber diese Wörter wahllos durcheinander benutzt, ist ein
Argument dafür, dass ihm beide geläufig sind, sonst hätte er sie nicht so oft
nebeneinander benutzt. Das deutet darauf hin, dass der Schreiber wahrscheinlich
nahe der ick/ich-Isoglosse (Uerdinger-Linie) gelebt hat.
Neben Mittelniederdeutsch befinden sich auch einige lateinische Wörter in dem
Text. Dies ist nicht unüblich in Übersetzungen, da oft deutsche Begriffe fehlen
oder nicht häufig benutzt wurden. Die Begriffe, die in der mittelniederdeutschen
Übersetzung benutzt werden, sind sämtlich im lateinischen Original zu
finden.
7 Einige diese Wörter sind: penitentiarius auf
61r;
ordinis sancti benedicti auf
61r; ypocrita und penitencie auf 65r; sentencien,
pollucien und promocien auf
66r; penitencie auf
68r; predicaten auf
69v;
interpreteert auf
71v; procurator auf
72r; predicate auf
73r; penetentie auf
77r; contemplerne auf
78v.
Bei dieser diplomatischen Edition von Andreas de Escobars
Modus Confitendi ist
folgendes beachtet worden: ‚u‘ ist der Vorlage folgend als ‚u‘ wiedergegeben und
‚v‘ als ‚v‘, sowie ‚y‘ als ‚y‘ und ‚ij‘ als ‚ij‘; Wörter, die mit einem Präfix
anfangen, sind für die bessere Verständlichkeit zusammen geschrieben, auch wenn
sie in der Handschrift getrennt geschrieben sind; Interpunktion ist als
Lesehilfe sparsam hinzugefügt worden; Großbuchstaben sind übernommen; bei
Schreibfehler des Schreibers ist das verbesserte Wort in die Ausgabe aufgenommen
und die Schreibweise, die man in der Handschrift findet, wird in der Fußnote
wiedergegeben; Abkürzungen sind stillschweigend aufgelöst; Auffälligkeiten
werden in den Fußnoten erläutert.
Janne van der Loop