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Hans Sachs "Die Wittenbergisch Nachtigall"
[Inhaltsverzeichnis]

Die Wittenbergisch Nachtigall – Hans Sachs‘ reformatorisches Frühwerk


Nach dem Wormser Reichstag 1521 ist der Bruch Luthers mit der alten Kirche endgültig besiegelt. In Nürnberg fallen die Ideen des bekannten Reformators schnell auf fruchtbaren Boden und personelle Strömungen und institutionelle Veränderungen in der Stadt führen zu einer immer stärker werdenden Hinwendung zu der Reformation. Die Sodalitas Martiniana, eine Gemeinschaft einflussreicher Bürger, zu der auch Albrecht Dürer, Anton Tucher, Hieronymus Ebner und Willibald Pirckheimer gehören, wird zur Keimzelle der Nürnberger Reformation und verbreitet erfolgreich Luthers Gedankengut. Im Einklang damit besetzt der Rat Predigerstellen mit prolutherischen Geistlichen wie zum Beispiel Andreas Osiander.
Durch das Wormser Edikt vom Mai 1521 ist Nürnberg jedoch gezwungen, einen heiklen Balanceakt zwischen der Forderung nach Reformen und ihrem politischen Zustand als freie, auf die Gunst und den Schutz von Kaiser und Papst angewiesene, Reichsstadt auszuführen. 1525 schließlich, wird die Reformation offiziell eingeführt und Nürnberg protestantisch. Regierung und Bevölkerung begrüßen diese Veränderung, wenngleich auch unterschiedlich motiviert, gleichermaßen, doch sind die Jahre vor 1525 noch äußerst spannungsgeladen und die Herstellung und Verbreitung von reformatorischen Schriften und Gedankengut mit Risiken und Gefahr verbunden. In dieser Zeit erhebt vor allem ein Nürnberger Bürger seine Stimme: Der Schuhmacher Hans Sachs avanciert nach dreijährigem literarischem Schweigen zum wichtigsten Sprachrohr der Sache Luthers und der Reformation. Sein Spruchgedicht Die Wittenbergisch Nachtigall erlangt in kürzester Zeit enormen Erfolg und trägt Luther einen dauerhaften Beinamen ein.


Hans Sachs' stille Jahre und der bahnbrechende Erfolg der Wittenbergisch Nachtigall


Häufig reagiert die Forschung ratlos auf die Tatsache, dass der außergewöhnlich produktive Hans Sachs nachweislich vom Sommer 1520 bis zum Sommer 1523 nichts verfasste und sich in dieser Zeit nie zu den historischen Veränderungen äußerte.
Aus seinen autobiographischen Skizzen ist jedoch bekannt, dass Sachs 1522 vierzig Traktate und Sermone von Luther zusammenbinden ließ und daher ohne jeden Zweifel mit den Grundwerken Luthers bestens vertraut war. Zudem ist fraglos davon auszugehen, dass er öffentliche Diskussionen verfolgte, die Predigten Osianders hörte und reformatorische Flugschriften las, die den Markt gerade in den Anfangsjahren der Reformation massenweise überfluteten.
Offenbar bedurfte Sachs zunächst dieser intensiven Phase der Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der Reformation und eines eigenen Klärungsprozesses, ehe er sich schließlich für die Unterstützung der Sache Luthers entschied. Diese Entscheidung traf er mit der Veröffentlichung der Wittenbergisch Nachtigall (WN) am 8. Juli 1523, in der er stark polemisierend gegen die alte Kirche vorgeht. Als Vorstufe der WN sieht die Forschung heute Sachs‘ Meisterlied Die nachtigal (ebenfalls 1523), welches jedoch von dem außergewöhnlichen Erfolg seines Nachfolgers überschattet wird und wahrscheinlich auch deshalb heute nur in einer Handschrift überliefert ist. Allein 1523 erscheinen sieben Auflagen der WN und Sachs erlangte deutschlandweite Berühmtheit als Dichter und Poet der reformatorischen Bewegung.


Wacht auf, es nahet gen den Tag!


Das Spruchgedicht ist durchgehend in Knittelversen gehalten und kann in drei Sinnabschnitte unterteilt werden: Die Entfaltung der Allegorie, die Auflösung der Allegorie unter Einbeziehung der Lehre Luthers, und den Aufruf an den reformierten Christen, auch im Angesicht von Gefahr standhaft zu bleiben. Die berühmten Eröffnungsverse übernahm Richard Wagner in seine Oper Die Meistersinger von Nürnberg (1868) (III. Aufzug 5. Szene):

Wacht auf, es nahet gen den Tag,
ich hör' singen im grünen Hag
ein' wonnigliche Nachtigal,
ihr' Stimm' durchdringet Berg und Tal;
die Nacht neigt sich zum Okzident,
der Tag geht auf von Orient,
die rotbrünstige Morgenröt'
her durch die trüben Wolken geht.


Eindrücklich wird hier die Antithetik von Tag und Nacht initiiert, auf die Sachs im Laufe des Gedichts wiederholt zur Illustration der Gegensätzlichkeit von lutherischer und altkirchlicher Glaubenslehre zurückgreift.
Geblendet vom trügerischen Mondschein haben die Schafe Hirten und Weide verlassen, um dem Löwen in die Wildnis zu folgen. Dieser stellt ihnen jedoch Fallen und zerreißt viele anschließend. Außerdem werden sie von Wölfen und Schlangen zusätzlich gepeinigt. Mit dem Gesang der Nachtigall erwachen die Schafe aus ihrer Verblendung, was den Löwen erzürnt. Doch trotz der Hilfe seiner zahlreichen Verbündeten (waltesel, schwein, pöck, katz, schnecken, frösch und wiltgens) gelingt es ihm nicht, die Nachtigall zum Schweigen bringen. Sie verkündet weiterhin den nahenden Tagesanbruch und schließlich kehren viele der Schafe wieder auß dyser wilde / Zuo irer weyd und hirten milde zurück.


Auflösung der Allegorie und Kernpunkte der Kritik


Sachs beginnt die Allegorie im zweiten Teil der WN folgendermaßen einleitend zu entschlüsseln:

Nun das ir klerer mugt verstan
Wer die lieplich nachtigall sey
Die uns den hellen tag auß schrey
Ist doctor Martinus Lutther
Zuo Wittenberg Augustiner
Der uns auffweckt von der nacht
Darein der monschein uns hat bracht


Daran anschließend, löst er schrittweise jedes Element der Allegorie weiter auf. Der monschein ist die menschen lere der Sophisten, der Löwe ist der babst, die mortstrick sind des Babstes netz, die wolff sind die Gehilfen des Babstes (Bischoff probst pfarrer und aptey / All prelaten und selsorger). Hieran entzündet sich schnell der Zorn des Dichters über bestehende Missstände in der Kirche. In knappen Verweisen deutet er die Falschheit der altkirchlichen Praktiken an und listet diese schlagwortartig auf:


Mit münich nonnen pfaffen werden
Mit kutten tragen kopff bescheren
Tag unde nacht in kirchen plern
Metten prim tertz vesper complet
Mit wachen vasten langen bet
Mit gertenhauen creutzweyß ligen
Mit knien neygen pucken pigen
Mit glockenleuten orgelschlagen
Mit heyltum kertzen fannen tragen
Mit reuchern und mit glockentauffen
Mit lampenschüren gnad verkauffen
Mit kirchenwachs saltzwasser weyen
Unnd des geleichen auch die leyen




Mit opffern und den liechtlin prinnen
Mit walfart und den heyling dienen
Den abent vasten den tag feyren
Unnd beychten nach der alten leyren
Mit Bruoderschafft und Rosenkrentzen
Mit ablas lesen kirchenschwentzen
Mit pacem küssen heyltumschauen
Mit mess stifften und kirchenbauen
Mit großem kost die altar zyeren
Tafel auff die welschen monyeren
Samata meßgwandt kelich gulden
Mit monstrantzen und sylbern bilden
In closter schaffen rent und zynst
Dyß alles heyst der Babst gotzdinst



Sachs geht auch auf den Zölibat ein und merkt dazu an: Unzal hat der babst solcher pot / Der doch keyns hat gepotenn got. Wie er in der WN darstellt, wurde das reine Evangelium also durch rein menschliche Traditionen und Gebote immer weiter verdrängt und schließlich erstickt. Was bei dem Dichter allerdings die größte Empörung hervorruft ist die Fixierung der katholischen Kirche auf Geld. Diese beutet ihre Anhänger aus und zwingt sie, hohe Abgaben für Taufen, Beichte, Firmung, Messen, Sakramente, Hochzeiten, Bestattungen usw. zu bezahlen. Daran anschließend stellt Sachs auch den Ablasshandel, welcher das ausschlaggebende Element für Luthers Kritik war, an den Pranger: Auch gebens brieff für schuld und peyn / Da legt man in zuo gulden ein / Der schalckstrick sein so mancherley / Das heyst mir römisch schinterey. Die Kritik des Dichters gipfelt in dem Vorwurf:

Mit solcher fabel und abweyß
Hant sy uns gefürt auff das eyß
Das wir das wort gotes verließen
Unnd nur theten was sy uns hießen


Die Hauptanliegen der WN sind demnach also die Enthüllung kirchlicher Methoden zur Unterdrückung und bewussten Täuschung ihrer Anhänger sowie deren Ausbeutungsverfahren und generelle Falschheit.
Wie bereits festgestellt, sind in der WN Luther mit der Nachtigall und der Papst mit dem Löwen gleichzusetzen. Auch die anderen Tiere innerhalb der Allegorie verkörpern Akteure des religiösen Disputs:

Das wilde schwein: Johannes Eck
Der bock: Hieronymus Emser
Die katz: Thomas Murner
Der waltesel: Augustin von Alveldt
Der schneck: Johann Cochlaeus

Diese Personen werden durch ihre Tiermaskierung nicht nur dehumanisiert, sondern ihnen wird das negativ assoziierte Charakterreservoir übertragen, welches den jeweiligen Tiergestalten durch ihre traditionelle Darstellung in anderen Genres anhaftet. Besonders ist, dass Sachs die Nachtigall erstmals mit Luther verband und ihn dabei mit mittelalterlichen Konzeptionen dieses Tieres konnotieren konnte. In Fabeln und Schwankerzählungen wird die Nachtigall als überlegene Sängerin und Vermittlerin von Weisheit skizziert und in Legenden tritt sie oftmals als verfolgter, aber nicht fassbarer Vogel auf.


Die Lehre Luthers


Im dritten Teil des Gedichts gibt Sachs konträr zu seinen negativen Ausführungen zu der altkirchlichen Glaubenslehre ein kurtzer anzeig der leere doctor Martini Luthers. Der angeborenen Sündhaftigkeit des Menschen kann nicht durch gute Taten und die strikte Einhaltung menschlicher Gebote Einhalt geboten werden, da der Mensch bereits durch den Opfertod Christi bey gott gnat erworben hat. Uneigennützige Werke der Barmherzigkeit müssen also allein aus dem Glauben und der Nächstenliebe resultieren, da sie nicht zur Erlangung von Seligkeit führen, welche dem Menschen bereits durch seinen Glauben an Gott zuteilwird. Gute Werke kommen demnach nicht aus dem Zwang, sondern der Liebe zu Gott. Diese Lehre Luthers wendet sich durch ihre Betonung der Rolle guter Werke gezielt gegen die Vermittlungsfunktion der Kirche und ihr Ablasswesen, insbesondere da Luther auch schreibt, es sey keyn sundt / Dann was uns hab verboten got. Sachs legt demnach auch besonderen Wert darauf, den Menschen die Angst vor ewigen Höllenqualen zu nehmen, indem er die Täuschung mit Ablassbriefen durch die Kirche aufzudecken bestrebt ist. Auf diese Vorwürfe hin ist Leo der Babst erwacht, der, durch den drohenden Verlust von Macht und Einnahmen beunruhigt, Luther verfolgen ließ. Doch dieser blyb bestendig in sein sachen / Unnd gar keyn wort nit wyderryfft. Mit einem Appell an die Leser, trotz Vertreibung, Hass, Gefangenschaft und Gewalt durch altkirchliche Gegner standhaft zu bleiben, schließt das Gedicht.


Holzschnitt und Vorrede



Bemerkenswert ist der von einem unbekannten Künstler angefertigte Titelholzschnitt, der nicht nur als visuelle Kaufanregung fungiert, sondern zudem durch seine auffallende Bildsprache besticht, welche die Thematik der WN eindrücklich vermittelt.
Die Nachtigall auf dem Baum kreiert eine bilaterale Szenerie, welche durch die Zuwendung der Nachtigall an die Sonne bereits eine Wertung enthält. Diese wird zudem von den Schlangen, welche an Schafen saugen sowie die große Anzahl der Tiere, die den Baum der Nachtigall grimmig belagern, verstärkt. Hinzu kommt die Ergänzung zur Überschrift: Die man yetz höret uberall, welche auf die Unaufhaltsamkeit der Reformationsbewegung und ihr kontinuierliches Voranschreiten hindeutet.
Auf den Holzschnitt folgend lenkt zudem die Prosavorrede (häufiger Bestandteil vieler Flugschriften) den Fokus auf die Antithetik von menschenleer etlicher Sophisten und des durch Luther wiedergegebenen wort gottes (welches vor durch menschen leer verdunckelt war). Hier wird ausführlich dargestellt, dass der wahre Glaube an Gott lange Zeit durch kirchengemachte Gesetze, Bestimmungen und Gebote verdeckt wurde und dabei die eigentlich für den Glauben zentrale Nächstenliebe und Barmherzigkeit außer Acht ließ. Erst Martin Luther habe das Evangelium wieder von diesen Fesseln befreit und rein verkündet und er, Hans Sachs, wolle es nun in diesem Sinne an seine Mitmenschen weitergeben.
Sachs demonstriert in der WN seinen unverwechselbaren Stil, der sich aus der Vermischung von christlichen Glaubensregeln und antirömischer Papstkritik entfaltet und dem gemeinen man den Zugang zum theologischen Diskurs der Zeit ermöglicht. Dieser Stil zeigt sich auch in späteren Werken seiner frühen Reformationsdichtung, wie beispielsweise den vier Dialogen immer wieder. Aufgrund der starken Polemik des Textes kann man davon ausgehen, dass es nicht die primäre Funktion des Gedichtes war, katholische Anhänger zum evangelischen Glauben zu bekehren, sondern die bereits von Luther reformierten Christen in ihrem Glauben zu stärken, sie zu ermutigen und ihnen die Auseinandersetzung mit den reformatorischen Geschehnissen zu ermöglichen.

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