Einleitung
1. Historische Einleitung
Im Jahr 1559 veröffentlichten die „Wittenberger Professoren“ umfangreiches
Aktenmaterial der Verhandlungen zwischen den Wittenberger Theologen
(5) und den
kurfürstlichen Räten in Kursachsen aus den Jahren 1547 bis 1549
über den Umgang mit
dem Augsburger Interim. Sie suchten mit dieser Publi-
kation den Vorwurf zu
entkräften, sie hätten sich damals durch die Anord-
nung zur Wiedereinführung
von altgläubigen Riten und Zeremonien gegen-
über der kaiserlichen
Religionspolitik zu konziliant gezeigt und seien von
(10) der wahren Lehre
abgewichen.1
Nikolaus Gallus reagierte umgehend auf
diese Veröffentlichung der Witten-
berger mit seiner „Antwort. Von dem bösen,
zornigen Buch der Professoren
zu Wittenberg“.2 Er argumentierte darin, dass die von den Wittenbergern in
der Interimszeit
vorgesehenen Veränderungen der kirchlichen Riten keine
(15) frei handhabbaren
Mitteldinge gewesen sein könnten. Da die Obrigkeit die
Durchführung der Änderungen
verpflichtend geboten habe, sei keine freie
Entscheidung möglich gewesen. Man habe
vielmehr dem Kaiser und dem
Papst nachgegeben. Eben durch dieses Nachgeben in der
Frage der Zeremo-
nien seien noch zahlreiche andere Lehrstreitigkeiten3 entstanden, in denen
(20) die Wittenberger von der Confessio Augustana
abgewichen und von der
wahren Lehre abgefallen seien.
An Weihnachten 1559 antwortete Matthias
Flacius ebenfalls auf die Akten-
publikation der Wittenberger. Er sah
sich von ihnen besonders angegriffen und
versuchte, sich selbst und seine
theologische Position in einer langen Schrift
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zu verteidigen und den
Wittenbergern Fehler bei der Veröffentlichung der
Dokumente aus der Interimszeit
detailliert nachzuweisen.4
Die hier edierte Schrift „Summa und kurzer Auszug aus den Actis Synodi-
cis“
der „Wittenberger Studenten“ ist eine Verteidigung der Wittenberger
(5) Position
gegenüber den Schriften von Gallus und Flacius. Ihre Argumenta-
tion
stützten die „Wittenberger Studenten“ dabei auf die Publikation ihrer
„Professoren“
aus dem Vorjahr, indem sie Teile aus den dort in Druck beför-
derten
Dokumenten zitierten. Da zunächst lediglich die Schrift von Gallus
erschienen war, planten die „Wittenberger
Studenten“ gegen ihn allein zu
(10) schreiben. Aufgrund der Veröffentlichung des
Flacius an Weihnachten 1559
fügten sie dann ihrer bereits im Druck befindlichen Schrift5 hastig einen
zweiten, gegen Flacius gerichteten Teil hinzu, in dem sie ihn persönlich
heftig
attackierten und als „Hyäne“ beschimpften.6 Nachdem dieser zweite
Teil in der „Fasnacht“, um den 27. Februar 1560,7 vollendet war, konnte die
(15) Schrift vollständig gedruckt werden und
erschien, nach Angabe der Verfas-
ser, im März 1560.8
Gallus gibt jedoch in seinem
„Gegenbericht“ an, dass
die vorliegende Schrift „vmb Ostern [14. April 15609 ] ausgangen“ sei.10
Diese widersprüchlichen Angaben lassen sich harmonisieren, wenn man
Ende März als die Fertigstellung der Drucklegung annimmt und die vage
(20) Angabe
von Gallus als den Zeitpunkt ansieht, an
dem ihm die Schrift be-
kannt wurde.
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Im Mai 1560 war die Schrift jedenfalls bereits so verbreitet, dass Simon
Musäus11 sie, während einer seiner theologischen Vorlesungen in Jena, als
aktuelles Beispiel für die Missachtung göttlicher
Gebote und Mahnungen
anführte, was unmittelbar einen Konflikt hervorrief, da sich
drei studentische
(5) Zuhörer, die erst vor kurzem von Wittenberg nach Jena
gewechselt waren,
durch diese Bemerkung beleidigt fühlten und demonstrativ den Raum
ver-
ließen. Aufgrund dieser Störung der Vorlesung wurden die drei wegen
Re-
spektlosigkeit gegenüber Musäus vom Stadtrichter verhaftet.12
2. Die Autoren
(10)
Es handelt sich um ein Kollektiv, dass mittels Kompilation von
Textbaustei-
nen aus den von den „Wittenberger Professoren“
veröffentlichten Dokumen-
ten die eigene Argumentation stützt. Wenn hier
dennoch von Autoren ge-
sprochen wird, liegt dies daran, dass besonders im
zweiten, gegen Flacius gerichteten
Teil der Schrift, fast gänzlich auf Kompilationen verzichtet wird.
(15) Genauer
definiert wird dieses Kollektiv lediglich durch den Hinweis auf die
„Wittenberger
Studenten“. Die Anzahl der beteiligten Personen und deren
Namen bleiben im
Dunkeln.13 Vermutlich handelt es sich bei der Bezeich-
nung „Wittenberger
Studenten“ um eine Parallele zu der Aktenpublikation
durch die „Wittenberger
Professoren“.
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3. Inhalt
Die „Wittenberger Studenten“ geben der hier edierten Schrift den Anschein
eines
Plädoyers. Erkennbar wird dies zum einen an verschiedenen juristi-
schen
Termini, zum anderen an der Bezeichnung ihrer Gegner als verschla-
(5)gene
Procuratoren, besonders des Flacius als
Procurator des Teufels. Zudem
versuchen sie ihre Schrift durch die Verwendung
zahlreicher Zitate aus den
veröffentlichten Akten ihrer Professoren als
faktengestützte Verteidigung zu
präsentieren. Die Schrift lässt sich grob in zwei
Teile gliedern. In einem
ersten Teil widerlegen die Autoren Nikolaus Gallus. Der zweite Teil stellt
(10) eine
Auseinandersetzung mit Flacius dar.
Ihre Verteidigung beginnen die Studenten mit dem Hinweis, es sei Karl V.
bei der Erstellung des Interims um den Frieden im
Reich bis zum endgülti-
gen Entscheid der verschiedenen theologischen
Streitfragen auf einem Kon-
zil gegangen. Daher habe der Kaiser den
Protestanten die Feier des Abend-
(15)mahls unter beiderlei Gestalt und die
Priesterehe zugestanden. Die reichs-
rechtliche Beschränkung des Interims auf
die Protestanten sei allein auf die
Verweigerungshaltung der Altgläubigen
zurückzuführen. Der sächsische
Kurfürst habe veranlasst, die im Interim gebotenen
Mitteldinge, d. h. die
Wiedereinführung altgläubiger Zeremonien, in einer ohnehin
seit dem Jahr
(20) 1544 geplanten neuen Kirchenordnung zu verfügen, um damit dem
Kaiser
seinen Gehorsam zu zeigen. Die Theologen des Kurfürsten hätten in
zahlrei-
chen Schriften eindeutiger als alle anderen die Mängel im Interim
aufgezeigt
und allen Änderungsversuchen, auch in Mitteldingen, widerraten. Nach
der
Zusicherung des Kurfürsten, dass die Lehre gänzlich unverändert bleiben
(25) solle, hätten die Theologen die Einführung altgläubiger Zeremonien
nicht
länger verweigern können. Vielmehr habe man damit gemäß der Bibel dem
Kaiser gegeben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Auf dem
Landtag zu
Leipzig im Dezember 1548 sei die neue Kirchenordnung vorge-
legt und von
Theologen und Landständen approbiert worden. Die letztendli-
(30)che
Konsequenz der Kritik des Flacius und Gallus an dem
kompromissberei-
ten Verhalten der kurfürstlichen Theologen sei, dass die
Theologen besser
Land und Leute hätten verlassen, lieber die vollständige
Zerrüttung der
Lehre hätten gestatten sollen, als Zugeständnise zu machen. Auf den
Vor-
wurf, es habe in Kursachsen Geheimverhandlungen gegeben, antworten
sie,
(35) dass alles öffentlich auf Landtagen verhandelt worden sei. Die Akten
der
Landtage lägen nun in der Publikation der „Wittenberger Professoren“ sogar
für jedermann zugänglich vor.
In ihrer Argumentation lehnen sich die „Wittenberger Studenten“ an die
Gliederung
der „Antwort“ von Gallus an. Sie zitieren
dessen beide Hauptar-
(40)gumente, um sie dann zu widerlegen: Erstens
behaupte Gallus, dass durch
die
kursächsischen Theologen nicht etwa nur Mitteldinge eingeführt worden
seien,
sondern die Lehre selbst sei grundlegend verändert worden. Denn in
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dem
gegebenen Kontext habe es sich auch bei den sonst eher frei zu gestal-
tenden
Zeremonien nicht um Mitteldinge gehandelt. Zweitens habe die
Einführung der
altgläubigen Zeremonien einen Angriff auf die wahre Lehre
dargestellt. Dagegen
machen die Autoren geltend, dass sich der Status der
(5) Adiaphora, d. h. der
freigelassenen Mitteldinge, auch in „casu confessionis“
nicht verändere. Die
Autoren bestreiten den Vorwurf, man sei dem Papst
entgegengekommen. Das Interim sei
nämlich von Kaiser Karl V. erlassen
worden.
Der Papst aber habe dagegen protestiert. Man sei also nicht dem
Papst, sondern dem
Kaiser – im Rahmen der wahren Lehre – gehorsam ge-
(10)wesen. Durch das von
den Gegnern kritisierte Entgegenkommen sei es den
kursächsischen Theologen jedoch
gelungen, einen weiteren Krieg zu verhin-
dern. Ihre Widersacher hätten durch
ihre Haltung und ihre Angriffe auf die
Wittenberger Theologen den gemeinen Mann
verwirrt. Überhaupt hätten die-
se heuchlerisch gehandelt, da sie ihre
Gemeinden verlassen und eben nicht
(15) so standhaft ihren Glauben bekannt
hätten, wie sie es in ihren Schriften von
anderen forderten. Im übrigen sei niemals
ein Zwang ausgeübt worden, viel-
mehr habe man die Theologen auf verschiedenen
Verhandlungstagen um
ihre Meinung befragt und dann eine Kirchenordnung erlassen,
die von den
Pfarrern und Superintendenten angenommen worden sei. Lediglich die
(20) Obrigkeit habe zur Einhaltung der beschlossenen Veränderungen Druck
an-
gewendet. Gallus verhalte
sich daher heuchlerisch. Schließlich habe er
selbst, als er wieder von Magdeburg nach Regensburg gezogen sei, das Tra-
gen des Chorrocks akzeptiert, da der
Rat der Stadt dies von ihm gefordert
habe.
(25)
Gallus nenne die Publikation der
Professoren ein böses, zorniges Buch. Doch
diese Einschätzung werde nur von so
streitsüchtigen Leuten wie ihm geteilt.
In den veröffentlichten Akten werde nämlich
– gegen Gallus und dessen
Mitstreiter
– der tatsächliche Hergang der Ereignisse 1548/49 und das wahre
Verhalten der
kursächsischen Theologen jedermann deutlich vor Augen
(30) gestellt. Die von Gallus und Flacius verbreiteten Lügen würden dadurch
offenkundig. Um von ihren falschen Behauptungen abzulenken, hätten sie
andere
Streitigkeiten entfacht.
Zunächst habe Flacius eine Kontroverse
über das erste Kapitel des Johannes-
evangeliums und die Lehre vom Sohn Gottes
begonnen. Da sich aber selbst
(35) Teile seiner bisherigen Anhängerschaft in
dieser Angelegenheit gegen ihn
gestellt hätten, habe er, genauso wie seine
Anhänger, versucht, die Sache zu
beschönigen und schnell in Vergessenheit geraten
zu lassen. Anschließend
sei es über den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium,
wie in der
Frage über die Notwendigkeit von guten Werken für die Seligkeit zu
einem
(40) Streit gekommen. Georg
Major habe stets betont, dass gute Werke keines-
wegs als Verdienst
oder als die entscheidende Ursache für die Gerechtigkeit
und Seligkeit eines
Menschen angesehen werden könnten. Mit der These, der
Mensch verhalte sich in der
Rechtfertigungsfrage untätig wie ein Block, ja
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sogar widerstrebend und
feindlich, postulierten die Gegner zwei entgegen
gesetzte Willen Gottes, da er
einen Teil der widerstrebenden Menschen
bekehre, die anderen aber nicht. Noch zu
Beginn der Kontroversen habe
Flacius diese irrige Ansicht abgelehnt.
Überdies würde in der Abendmahls-
(5)lehre von den Gegnern mittlerweile die
irrige Auffassung der „Ubiquität“
vertreten. Die Wittenberger Theologen hingegen
seien beständig bei der
wahren alten Lehre geblieben.
Die Autoren wenden sich dann der Widerlegung der „Gründlichen Verle-
gung des
langen Comments der Adiaphoristen“ des Flacius zu. Diese könn-
(10)ten sie nur kurz behandeln, so die
Autoren, da diese Schrift erschienen sei,
als die Drucklegung der eigenen Schrift
bereits in vollem Gang war.
Sie charakterisieren die Schrift des Flacius zunächst als ein Meisterstück der
juristischen Verstellungskunst
und bezeichnen Flacius als den Anführer
aller
Gegner Melanchthons. Denn
gegen diesen würden sich alle verbünden. Mit
(15) seinem Vorwurf, die
Aktenpublikation der Wittenberger Professoren enthalte
Fehler, zeige Flacius, dass er ein teuflischer Ankläger
sei, der den Gesamtzu-
sammenhang vernachlässige, in den die publizierten
Dokumente eingeordnet
werden müssten. Überdies gründeten er und seine Anhänger ihr
Urteil nur
auf die Zeugen einer Seite. Dies habe auch Justus Menius erfahren müssen.14
(20) Die Vorwürfe gegen Kurfürst
Moritz und Karl V. bewiesen, dass es Flacius
um eine „weltliche Theologie“
und „Kriegsadiaphora“15 gehe. Wenn er tat-
sächlich um die Religion besorgt wäre, dann solle
er sich nicht um das
kümmern, was Kurfürsten und Kaiser miteinander besprochen
hätten. Er sol-
le sich vielmehr auf das konzentrieren, was mit den Theologen
und Land-
(25)ständen verhandelt worden sei. Die Aktenpublikation der
„Wittenberger
Professoren“ belege klar, dass der Kurfürst niemals die Annahme des
Inte-
rims von seinen Landständen und Theologen gefordert habe. Doch Flacius
gehe es eben hauptsächlich um
die große Politik. Dass es ihm um Krieg zu
tun sei, lasse sich auch daran erkennen,
dass er sich und seine Anhänger in
(30) seiner neuen Schrift als die Kriegsleute
Christi bezeichne.
Besonderen Fleiß verwenden die Autoren im Weiteren auf die Verteidigung
Georgs III. von Anhalt.16 Dieser sei von Luther hoch geschätzt worden.
Luther habe auch in Fragen der Adiaphora
keineswegs so entschieden und
hart geurteilt, wie dies von Flacius und seinen Anhängern behauptet werde.
(35) Um dies zu belegen, führen sie Zitate aus zwei Briefen Luthers an.
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In einer anschließenden kurzen Replik – mehr sei in der Eile nicht möglich
gewesen
– bezichtigen die Autoren Flacius der
Willkür und der Lüge. Alles,
was dieser bislang geschrieben habe, sei erlogen oder
erfunden. Er führe
damit Spaltungen in der Kirche herauf. Flacius habe zwar in böser Absicht
(5) teils
gefälschte, teils gestohlene Briefe abdrucken lassen, doch sei seine
Auseinandersetzung mit der Aktenpublikation durch die „Wittenberger
Pro-
fessoren“ insoweit positiv zu bewerten, als man dadurch überhaupt auf
die
Akten aufmerksam werde. Man möge daher die Aktenpublikation der
„ Wit-
tenberger Professoren“ intensiv lesen. Dann würden die Lügen von Flacius
(10) und seinen Anhängern
offenbar.
Das Fazit der Wittenberger Studenten lautet: Es scheine zwar so, als ob unter
denen, die die Wahrheit besitzen, Uneinigkeit ausgebrochen sei und sie sich
damit
selbst desavouierten. Dies beweise jedoch nur, wie nötig eine einheitli-
che
Ordnung innerhalb des Luthertums sei. Dem aber stünden Flacius und
(15) seine Anhänger mit ihren
Streitereien entgegen und spielten sogar den Alt-
gläubigen damit in die
Hände.
Die Schrift schließt mit der Warnung, dass sich niemand von Flacius und
dessen Anhängern verführen lasse, denen
Gottes Gericht bevorstehe.
4. Ausgabe
(20)
Nachgewiesen werden kann eine Ausgabe:
A: Summa vnd kurtzer || Auszug aus den ACTIS SYNODI= || CIS / aller
Handlung der
Adiaphoren halben / || so von den Professoribus der
Vniuersitet Wit= || teberg negstuergangnes LIX. Jar || in Druck
verordnet. || Wider die vermeinten Scribenten / || Jllyricum vnd Gallum /
(25) so wider dieselben || ACTA zu schreiben sich vnter= ||
fangen.|| Durch
wolmeinende vnd jren || Praeceptoribus danckbare Studenten / || aus
den
ACTIS gezogen.|| Matth.10. || Zum Zeugnis wider sie. || Johan. || Kome
vnd
sihe. || 1560. || [64] Blatt 4° (VD 16 S 10193)
Vorhanden in:
(30)
Emden, Johannes a Lasco Bibliothek: Samml. Hardenberg
Theol 4° 0197 H
[benutztes Exemplar]
Gotha, Forschungsbibliothek: Th 713/154R; Theol.4
685-686(1)
München , Bayerische Staatsbibliothek: Res/4
H.ref. 806,14
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: 500.4
Theol.(12); Yv 141.8
(35) Helmst.(4)