2. Sz 36 und 44 1615


Cunrade, humani mens

Druck P: Casparis Cunradi Prosopographia melica, (Millenarius I
und II, Frankfurt a. M. 1615; Millenarius III, Hanau 1621); unser
Gedicht steht als Empfehlungsgedicht zu Millenarius III auf
Bl. A7 und 8. Titel und Nachschrift wie unten; nur Zeile 4 des
Titels und die ganze Nachschrift in Antiqua; der Text selbst in
Kursive.

Exemplare: Breslau 8 N 535 und Basel, Universitätsbiblio-
thek

Druck T: Caspar Cunrads Theatrum symbolicum, Centuria IX, Öls
[1624], S. 422–424, als Nr. I unter dem Titel ›MARTINUS OPI-
CIUS Bolislav. | Aulae Ducalis Lignic. Familiaris.‹ (Als Nr. II folgt
unsere Nr. 51: ›Nil Cunrade‹.) Kursive mit Zierlettern, besonders
am Ende der Zeilen. Datierung 1615; siehe Lesarten.

Exemplar: Breslau 317760

Die Abschrift in Hs R 2305b ist zur Zeit verloren. Eine zweite
Abschrift befindet sich in Hs Kl 175, 796. (Über die Hs siehe Szy-
rocki, Opitz, S. 197.) Die Überschrift lautet: ›In Symbolum | CAS-

[Seite 3]

PARIS CUNRADI | Dominus est Salus.‹ Datierung ist nicht vor-
handen; auch keine Nachschrift; wahrscheinlich schrieb Henel aus
T ab.

Unser Text folgt P, nur daß in einigen Kleinigkeiten Cunrads
Schreibweise der Opitzischen angeglichen wurde.

Die Datierung 1615 wird von Szyrocki S. 13 (und bei Sz 36) auf
Grund der Darlegungen von Krause 122–125 als die richtige nach-
gewiesen. Terminus ad quem ist der 9. November 1615, denn an
diesem Tage drückte Cunrad dem siebzehnjährigen Opitz seinen
Dank aus für dieses ihm gewidmete Hexametergedicht; siehe
Anm. 2 zu Nr. 6. Das Datum 1621 in P bezieht sich wahrscheinlich
auf eine Abschrift (mit der neuen Titelformulierung), die Opitz
nach seiner Rückkehr aus Dänemark für Cunrad anfertigte.

Das Gedicht mit seiner hochgeschraubten Sprache, dem wieder-
holten Gebrauch exaltierter Metaphern und des Oxymorons, mit
der kühnen Apotheose Cunrads als eines Erlösers und mit den
andern Überbietungen steht fest in der Tradition neulateinischer
Panegyrik; siehe Karl Otto Conrady, Lateinische Dichtungstradi-
tion und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts
167–176. Krauses
Besprechung 128–130 ist zwar in den Einzelheiten nicht falsch,
doch sieht sie das Gedicht zu sehr als Einzelphänomen und kommt
so zu einem unrichtigen Gesamturteil.

Caspar Cunrad, am 9. Oktober 1571 zu Breslau geboren, war
mit dem Juristen und Historiker Henel verwandt; von Nicolaus
Rhediger
war er unterstützt und wohlwollend gefördert worden.
(Cunrads Nachruf auf Rhediger Rei S. 740.) Am 16. Oktober 1591
wurde Cunrad auf der Universität Frankfurt aufgenommen. 1594
war er in Wittenberg und 1595 in Leipzig, wo er sich den Magister-
grad erwarb. Nach einigen Jahren als Erzieher in Breslau promo-
vierte er 1604 in Basel zum Doktor der Medizin und ließ sich in
seiner Vaterstadt als praktischer Arzt nieder. 1621 folgte er dem
verstorbenen Daniel Rindfleisch im Stadtphysikat. Daß er von
Ferdinand II. geadelt wurde ist nicht festzustellen, doch nennt
er sich selber »Poeta laureatus Caesareus« und als solcher krönte er
(im Auftrag des kaiserlichen Pfalzgrafen Jakob Chimarrhäus) am
8. Oktober 1608 in der Schule zu Brieg den Dichter geistlicher
Lieder Johann Heermann ebenfalls zum Laureatus.

Cunrad verfaßte natürlich die vielen üblichen Gelegenheits-
gedichte; ferner veröffentlichte er Horazparodien, Psalmenpara-

[Seite 4]

phrasen und vier Centurien lateinischer Epigramme. Für Gruters
Sammlung Delitiae poetarum Germanorum lieferte er Beiträge, die
in Teil 2 (1612) erschienen. In deutscher Sprache trat er freilich
nur einmal hervor: in der Gnomologia Latino-Germanica super lec-
tiones evangelicas,
Breslau 1611, einer von Cunrad veranlaßten
Anthologie lateinischer Epigramme von fünfzehn Autoren, über-
setzte er die Gedichte in Form von deutschen Vierzeilern. Über
seinen Wahlspruch ›Domini est salus‹ sammelte er von seinen Be-
kannten und Freunden dichterische Elaborate ein, die er in zehn
Centurien von 1608 bis 1632 veröffentlichte; diese Sammlung
wird nach dem Haupttitel gewöhnlich als Theatrum symbolicum
bezeichnet. Sein Hauptwerk jedoch war die schon erwähnte Pro-
sopographia melica,
eine Sammlung von 3000 Distichen, deren
jedes einen mehr oder weniger bedeutenden Zeitgenossen kurz
charakterisiert; Angabe des Berufes und der Lebensdaten folgt.
Das Werk ist noch heute für den Historiker wichtig. (Cunrads vier-
ter Sohn, Johann Heinrich, 1612–1685, setzte das Werk im Geiste
seines Vaters fort und brachte es auf 7000 Distichen, starb aber vor
der Veröffentlichung. Nachdem man sich entschlossen hatte, alle
Nicht-Schlesier zu streichen, gab Caspar Theophil Schindler die
Sammlung schließlich unter dem Titel Silesia togata, Liegnitz
1706, heraus.)

Cunrad war in erster Ehe mit Christina (1591–1625), der ein-
zigen und dichterisch begabten Tochter des Brieger Rektors
Melchior Tilesius, verheiratet. Aus dieser Ehe gingen acht Kinder
hervor, darunter Christian (1608–1671), Arzt und Dichter, der von
Opitz 1629 gekrönt wurde. Cunrads zweite Frau, Barbara Jobin,
die er am 13. Oktober 1626 heiratete, starb schon im Januar 1628.
Barbara Rumbaum wurde Cunrads dritte Gemahlin; sie schenkte
ihm einen Sohn und eine Tochter. Für die Hochzeit am 22. Januar
1630 schrieb Opitz das Gedicht ›Tertia, Pierides, Cunrado‹.

Als Friedrich V. im März 1619 in Breslau einzog, wurde er von
Cunrad mit zwei Druckschriften begrüßt. Mehrere Patrizier – u. a.
Henel, Sleupner und, als einer der aktivsten, Cunrad – die vorher
schon dem Calvinismus nahegetreten waren, baten den König um
Erlaubnis, eine reformierte Gemeinde zu gründen. Die Bitte wurde
gewährt und Bartholomäus Nigrinus zum Prediger bestellt, doch
erwuchsen der kleinen Gruppe nur Schwierigkeiten. (J. F. A. Gil-
lett, Crato von Crafftheim, II, 419ff.)

[Seite 5]

Cunrad starb am 15. November 1633 an der Pest. Freunde
brachten 1634 eine Arae exsequiales betitelte Leichenschrift her-
aus. Sie enthält keinen Beitrag von Opitz. Über sich selbst hat
Cunrad in der Prosopographia (I, 40) folgendes Distichon:

Iova tuae laudi, patriae decori, omnibus usui
Ut vivam, vitae est summa ea summa meae.

Den jungen Opitz muß Cunrad kurz nach dessen Aufnahme in
die Maria-Magdalenenschule kennengelernt haben. Opitz wandte
sich an ihn mit dem anspruchsvollen Gedicht ›Cunrade, humani
mens‹ in dem »jeder Satz, ja jedes einzelne Wort ... auf Fortissimo
eingestellt« ist (Krause 130). Seither genoß Opitz die Gunst und
damit wahrscheinlich auch die oft so nötige finanzielle Unter-
stützung des älteren, ungleich berühmteren Dichters.a Laut Cole-
rus
empfahl Cunrad im Frühjahr 1622 den jungen Bunzlauer
an den Fürsten Bethlen Gabor für die Schule in Weißenburg
(Palm 168). Weitere Beziehungen zwischen Opitz und Cunrad
lassen sich über die Jahre hinweg an Hand von Gelegenheits-
gedichten verfolgen: Silvarum libri III. allein enthält fünf an
Caspar Cunrad adressierte Gedichte und ein weiteres bezieht sich
auf Christians Dichterkrönung. Es ist zu vermuten, daß ein
Epicedium verlorengegangen ist.

b

CARMEN HEROICUM
CASPARIS CUNRADI V. C.
symbolo dictum,
ubi obiter de Proso 〈po〉 graphicis eius.

CUnrade, humani mens et sublimis imago
Numinis, in quo se virtus miratur et omne
c
[Seite 6]

Quodcunque est alti metas escendere mundi
Ausum, ac libratos tecum exsuperare triumphos
5 Coelorum; cui mirandum Natura volumen
Prodiga tota sui patet, et vis una malorum
Tollere morborum mendas mortalibus aegris;
Cui mens immensum sano lymphata furore,
Impendens se tota sibi, tot numinis oestro
10 Concita, divinos panxit scito ordine versus;
Cui cura imbelli iamdudum doctior orbis
Subiugat ingenii, recte hercle! atque ordine, fasces;
Cui nimium pressae modo relligionis ab aestu,
Instinctu divum horribili, ista locutio nata est
15 Sancta: SALUS DOMINI, quam nunc, licet impare sensu,
d Natio doctorum simili iunctim ore frequentant:
Docte heros, pueri faciles si suscipis ausus,
Et me Musaeas dignaris carpere laurus,
Cultores inter, tibi quos fama ardua fecit,
20 (Si te, quod novit mundi MENS, nullus adulor)
Infantes etiam non aspernabere versus,
Quamvis te laus mortalis ventosa favoris
Non capit aut hederae vis ambitiosa tumentis,
(Quando, quum cupis, ipse tibi tua propria laus es,
25 Et merito soli stat ab ordine conscia virtus)
Sed miranda SALUS divini Numinis, in qua
Stupratur mundi tibi gratia cassa superbi.
Haec mentem ignavo nimium subtraxit ab aevo
Ante tuam et supero coelorum miscuit orbi,
30 Qua tot mille viri (quorum tua docta libido
Audet inaccessos huic mundo prodere vultus,
Seculaque heroum per coelum arcessere totum)
Ludunt humana, et solem fulgore lacessunt.
Haec tibi tot vires herbarum cessit, ut aegro
35 Ultima spes esses, et dia medela iacenti.
Haec, quaecunque tenes virtutum nomina, (quae sint,
e f g h
[Seite 7]

Te livor docet innocuus) iunxisse volebat,
Exemplarque in te perfectae reddere vitae,
Invidiaeque tibi defendere tela profanae.
40 Haec te, qua flammis stellarum purior aether
Illustres animas anno confundit ab uno,
Conspicua tandem superorum sede reponet.
i Macte heros, orbem tibi devincire labora
Insueta virtute tua: Sciti omine porro
45 Ingenii divina tui vela aequoris alto
Pande, et arenoso iamdudum pulvere tristes
Illustres animas, quae te vel mille per annos
Lentae vindicias expectavere senectae,
Erue, queisque olim vita est concessa, renasci
50 Ex te ne prohibe: quin, si tibi vivere votum est,
Fac uti discusso doctus lentore resurgat
Orbis, et ipsorum clemens miserere nepotum;
Ad quos quum sensim defluxo tempore ventum
Ingenii flagrantis opus, lacrymabit et in se
55 Flebit Posteritas occasi secula mundi,
Subtractumque sibi tumidis lugebit ocellis.
Cernis, ut heroas paulatim secula summos
Te, rerum magna spes, metatore recensent,
Et te paulatim virtus sopita recantat.
60 Omnia si tollas aevi laudum orsa vetusti,
Et quidquid gens docta dedit, sibi gutture rursum
Barbaries intercipiat depulsa voraci:
Tanto maior eris, quanto minor incipit esse
Ipsa vetustorum non ignoratio vatum.
65 Quidquid tempus iners et edax mors deterret, in te
Surget, et auctorum series ducetur in omnes
A te vel solo: tu nil tibi maius habebis.
At tu summe Deum, cuius norma una salute
Nititur, et tales Pallas Cunradia nubes
j 70 Dissipat, ut tenebris excussis secula longum
Ignorata sibi tandem se noscere discant,
k l m
[Seite 8]

CUNRADUM hac ipsa servare salute memento,
Qua servare omnes potuit, sacra pectora, doctos.

Vratislaviae scripsit
M. April. Anno 1621.

MARTINUS OPICIUS
Bolislaviensis Sil.

n o

Fußnotenapparat

a Zum Beweis, daß Cunrad Opitz Geld geschickt habe, ist ein Satz aus
Opitz’ Brief vom 23. Januar 1623 aus Siebenbürgen an Cunrad zitiert
worden: »Monetam vestram novam hic quoque ... accipere cogimur.« (Rei
110,35) Moneta bezieht sich jedoch eher auf eine Münzsorte als auf über-
sandtes Geld. Jedenfalls ist dieser Satz kein zwingender Beweis für geld-
liche Unterstützung.
b am Rand: [A7a]
c Überschrift: Siehe die Einleitung.
d am Rand: [A7b]
e quam] qua T
f cassa] casta Hs Kl 175; wohl
Lesefehler
g tot mille viri: die in der Proso-
pographie Besungenen
h metela Dkf P
i am Rand: [A8a]
j am Rand: [A8b]
k lugebat T
l recentat Kl 175; vgl. Nr. 6.
10,5.
m Ad te Lesef. Kl 175
n Vratisl. M. Septemb. A. 1615.
T; letzte Zeile
o fehlen Kl 175
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