Gabriæ Græci Tetrasticha — Digitale Edition der Fabelgedichte des Ps.-Babrios — Einleitung

[Inhaltsverzeichnis]

Einleitung

Ignatii Diaconi Tetrasticha Græca in Fabulas Æsopias, quæ vulgo Gabriæ cuidam attribuuntur

Die Fabelvierzeiler des Ignatius Diaconus sind innerhalb der Tradition der griechischen Fabel gleichermaßen Konstante und Kuriosum. Von der Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beharrlich verachtet (Hausrath 1914; Marenghi 1957; dagegen van Dijk 1996), sind die kurzen, gedichtförmigen Adaptionen antiker Fabelstoffe doch – in wechselnder Zahl und Gruppierung – fester Bestandteil der Überlieferungsgeschichte des Genres. Durch die Aufnahme in die editio Aldina der Fabeln des Aesop (1505) wurden die Tetrasticha des Ignatius zum steten Begleiter dieser vielgedruckten und vielgelesenen griechischen Prosatexte. Die in der Aldina vorgenommene (bzw. aus ihrer Druckvorlage, dem Codex Vat. gr. 1379 [fol. 25r], in die Edition übernommene; vgl. Sicherl 1997, 352–356) Zuschreibung der Texte an einen fiktiven „Gabrias“ oder „Gabrios“ (wohl eine Verballhornung des Namens des griechisch-italischen Fabeldichters Babrios [2. Jh. n.Chr.], dessen eigene, in Choliamben verfasste Fabelgedichte in einiger Vollständigkeit allerdings erst 1842 in einer Handschrift vom Berg Athos [London, British Library, Add MS 22087] wiederentdeckt wurden; Crusius 1896; Luzzato/La Penna 1986, VI–CXV, bes. VI–XLIX; Holzberg 2019, 9-46) durchzieht die gesamte frühe gedruckte Überlieferung. Erst in der Phaedrus-Ausgabe des Altdorfer Juristen Konrad Rittershausen (Conradus Rittershusius) aus dem Jahr 1598 wurde die tendenziell suspekte Attribution (quæ vulgo Gabriæ cuidam attribuuntur) korrigiert (siehe auch Tyrwhitt 1776, 4f. Anm. 5 und 31f. Anm. 40) und durch die nur in einzelnen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Textzeugen erhaltene (Istanbul, Bibliothèque du Patriarcat Œcuménique, Panaghia 64, fol. 3v; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Vindob. phil. gr. 225, fol. 75v; Paris, Bibliothèque nationale de France, Paris. gr. 2991A, fol. 416r; Wolska-Conus 1970, 336–339), heute noch gültige Zuschreibung an den byzantinischen Würdenträger und Dichter Ignatius Diaconus (8./9. Jh. n.Chr.; Müller 1886, 3‒18; Wolska-Conus 1970, 329‒339; Albiani 1998) ersetzt.

Die im Corpus dieses „Pseudo-Babrios“ (i.e. Ignatius Diaconus) überlieferten Texte (von denen, vorwiegend aufgrund metrischer und stilistischer Erwägungen, 57 als „echt“ und weitere 32 als „unecht“ beurteilt wurden; vgl. Müller 1897, 258f.; van Dijk 2000 passim) folgen einem strengen Aufbau. Der rhetorisch zugespitzte Inhalt der Fabel wird in jeweils nur vier in iambischen Trimetern gebauten Versen präsentiert. Sprache und Metrik gehorchen dabei – für die byzantinische Literatur dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit (Hunger 1978, Bd. 2, 89–97) – strikt den Gesetzmäßigkeiten der antiken griechischen Prosodie (Müller 1886, 13; van Dijk 2000, xiif.). Zusammen mit den Fabelvierzeilern sind in zahlreichen Handschriften Prosaepimythien überliefert, die die bereits dichterisch zum Ausdruck gebrachte Moral im Sinne des „demonstrativen Charakters der Fabel“ (Grubmüller 1997, hier 555) noch einmal in klare Worte fassen. Ob Epimythien (oder auch Promythien) dieser Art, wie sie ähnlich auch im Babrios-Text zu finden sind, zum ursprünglichen Textbestand gerechnet werden dürfen, ist umstritten (Becker 2006).

Inhaltlich sind die Tetrasticha des Ignatius stark der antiken Fabeltradition verpflichtet (insbesondere dem aus der fiktionalen Vita Aesopi und den Prosafabeln des Aesop (6. Jh. v.Chr.) bestehenden Überlieferungskonvolut sowie den Mythiamben des Babrios; dazu Rodríguez Adrados/van Dijk 1999–2003, Bd. 2, 493–515; van Dijk 2000, xviii–xx; Auflistung der Similien bei Müller 1897, 260–263; van Dijk 1996, 176–178). Die tierischen Protagonisten legen dabei ostentativ menschliche Verhaltensweisen an den Tag, die dann – zumeist durch eine überraschende Wendung – ad absurdum geführt werden (beispielhaft dafür Ign. Diac. Tetr. I 19; I 23; I 30). Menschen und antike Gottheiten treten nur selten auf (ebd. I 12; I 24; I 26; I 52; I 54). Aufgrund der formalen Beschränkung auf immer vier Verse erscheint die Narration oft stark verkürzt; zuweilen sind die Gedichte ohne Kenntnis des zugrunde liegenden Fabelstoffs nur schwer verständlich (zum Beispiel I 1; I 33; I 53). Gleichzeitig fallen in den Tetrasticha des Ignatius immer wieder überraschende literarische Effekte auf (man beachte das Akrostichon in I 33; van Dijk 1996, 168). Insgesamt können die Texte somit, Gert-Jan van Dijk folgend, inhaltlich zwar als „stenographic fable reports“ bezeichnet werden; in ihrer pointierten, metrisch streng symmetrischen und sprachlich zuweilen verblüffenden Kurzform dürfen sie aber durchaus als „enigmatic miniatures“ gewürdigt werden (van Dijk 1996, 173).

Wie alle Fabeltexte, so hatten auch die Tetrasticha des Ignatius Diaconus ihren Sitz im Leben im schulischen Grammatik- bzw. Rhetorikunterricht (Marenghi 1957, 494–498). Die Beliebtheit des Genres in didaktischen Kontexten – sei es im sprachlichen Elementarunterricht, sei es zum Selbststudium des Lateinischen oder Griechischen – blieb bis in die Neuzeit hinein ungebrochen und sicherte so auch den Fabelvierzeilern des Ignatius ihren Platz in der gedruckten Überlieferung.

Den ersten wichtigen Schritt in dieser Entwicklung markierte die Aufnahme der Tetrasticha in die 1505 von Aldus Manutius in Venedig gedruckte Aesop-Ausgabe (ein kostspieliger Band von 152 Bl. im Folioformat; vgl. Staikos 2016, 208, Nr. 46; USTC 807828). Neben dem Aesop- und Ps.-Babrios-Text enthält das Kompendium unter anderem weiteres Aesop-Material aus Aulus Gellius’ Noctes Atticae und Auszüge – jeweils das antike Genre der (rhetorischen) Fabel betreffend – aus den Progymnasmata des Aphthonios von Antiochia, aus Philostrats Imagines sowie aus Priscians Hermogenes-Übersetzung, daneben aber auch mehrere Schriften zur griechischen Mythologie und Mythen-Allegorese (Palaiphatos, Herakleides Pontikos, Cornutus). Die um eine lateinische Übersetzung ergänzten Fabelgedichte des Ignatius Diaconus (unmittelbare Druckvorlage für den griechischen Text war der eigens für mehrere Drucke des Aldus Manutius angefertigte, vielfach korrigierte und sogar mit Umbruchmarkierungen versehene Codex Vat. gr. 1379 [hier fol. 25r30r]; Sicherl 1997, 354f.; Speranzi 2018, 49f.) sind in der Ausgabe in zwei unterschiedlichen Textfassungen enthalten: einmal mit räumlich voneinander getrenntem griechischem und lateinischem Text auf jeweils gegenüberliegenden Seiten und einmal mit je aufeinander folgenden Texten und Übersetzungen (zum komplizierten druckerischen Layout der Ausgabe Sicherl 1997, 352f.). Grund für den zweifachen Abdruck sei – neben frühneuzeitlichen usability-Erwägungen für Nutzer unterschiedlichen Niveaus (fol. o4r; vgl. Wilson 2016, 192f.) –, so Aldus an seine Leser, die nachträgliche Einarbeitung eines besseren Textzeugen gewesen (fol. D10v: Haec Gabrii trimetra cum Scazonte ultimo epigrammate nacti correctius exemplum, iterum imprimenda curavimus, ut perperam excusa ante hisce queas corrigere; Wilson 2016, 192f. und 298f.).

Solche philologischen Mühen wurden für den Erstdruck (und fast alle folgenden Drucke) im deutschen Sprachraum nicht mehr unternommen. Johann Froben (bzw. ein von ihm beauftragter humanistisch gebildeter Herausgeber) kompilierte vielmehr für die 1518 in Basel erschienene, handliche „Studienausgabe“ (enchiridium) der Fabeln des Aesop und weiterer Texte (vier Teilbände unterschiedlichen Umfangs im Oktavformat; VD16 A 415; GG 19; Sebastiani 2018, 276–278, Nr. 69) die beiden Textfassungen der Aldina und übernahm die dort beigegebene lateinische Übersetzung (Müller 1892, 423). Den zugrunde liegenden Druck hatte Froben vermutlich über seinen Schwiegervater, den Basler Buchhändler und Verleger Wolfgang Lachner, bezogen, der seinerseits ein florierendes Importgeschäft mit venezianischen Humanistenausgaben betrieb (Hieronymus 1985, 149). Der geschickte Verleger Froben (Reske 2015, 67f.; Sebastiani 2016) straffte für seine Ausgabe das Textprogramm der Aldina, ergänzte dafür aber weitere Schlüsseltexte des didaktischen Programms (so unter anderem die pseudohomerische Batrachomyomachie, Musaios’ Epyllion Hero und Leander sowie den Katzen-Mäuse-Krieg des Theodoros Prodromos). Zielpublikum waren nun die Partizipanten des neuen humanistischen Booms der griechischen Sprache: Nos certe quando GERMANIA nostra feliciter ubicumque graecatur, noluimus a studiosis Aesopicas fabulas diutius desyderari (Frobeniana 1518, 3; zur Textzusammenstellung auch Weaver 2012, 48–51). Die ähnlich aufgebaute, aber in einem Band zusammengefasste Ausgabe von 1524 (ebenfalls im Oktavformat; VD16 A 416; GG 159; Sebastiani 2018, 588f., Nr. 248) schaffte es dann – vermutlich im Büchergepäck, das Herzog August der Jüngere zu Braunschweig-Lüneburg nach 1603 von seinem Studienaufenthalt im deutschen Südwesten sowie der anschließenden Italienreise mitbrachte – bis nach Wolfenbüttel (es handelt sich um das Exemplar A: 295.5 Quod. (1)). Beide Basler Drucke fanden große Verbreitung (allein die Ausgabe von 1524 ist in über 20 Bibliotheken des deutschen Sprachraums nachweisbar) und wurden in den folgenden Jahrzehnten nicht nur bei Froben und seinen Nachfolgern (Officina Frobeniana, Officina Hervagiana, Nicolaus Brylinger und Erben) in Basel (1530, 1534, 1538, 1541, 1547, 1550, 1553, 1558, 1574, 1584 und öfter), sondern auch in Venedig (1542, 1549, 1561, 1587, 1593), Tübingen (1546), Paris (1549), Antwerpen (1567) und anderswo nachgedruckt (Auflistung einschlägiger Drucke bei Eleuteri 2014, 192–207).

Die "Fabelsammlung" Herzog Augusts des Jüngeren

Das philologisch-pädagogische Interesse des Humanismus garantierte für lange Zeit das Fortleben der antiken Fabel – sei es in Textausgaben, wie denen von Aldus Manutius oder Johann Froben, sei es in neu zusammengestellten lateinischen Anthologien, wie dem von Martin Dorpius herausgegebenen Aesopus Dorpii oder der Fabelsammlung des Joachim Camerarius (Elschenbroich 1990, Bd. 2, 35–52). Insofern ist es kaum verwunderlich, dass sich auch in der Sammlung Herzog Augusts des Jüngeren zu Braunschweig-Lüneburg (1579–1666) zahlreiche entsprechende Ausgaben finden; darunter mindestens vier, deren Erhalt oder Erwerb noch in die Jugend- oder Studienzeit Augusts (bis etwa 1603) datiert werden können (zu Augusts Bücherbeständen aus dieser Zeit von Katte 1978).

Was danach geschah

Dass die vielfach nachgedruckte Fabelsammlung Johann Frobens auch viel später noch genutzt wurde – und zwar zu dem von Frobens Korrektor (womöglich dem Schlettstädter Humanisten Beatus Rhenanus) in der Vorrede zur Ausgabe von 1524 eigens benannten Zweck: Talibus igitur qui domi suo ... aliquid Graecanicae eruditionis comparare volunt, muti magistri vice erit Latina versio. Vos nostram operam boni consulite ... (Frobeniana 1524, 3) –, zeigt ein weiteres, freilich mit den benannten Ausgaben bestandsgeschichtlich völlig unverbundenes Stück der Wolfenbütteler Sammlung. Die Übungshandschrift Cod. Guelf. 105.2 Gud. graec. (Köhler/Milchsack 1913, 72–74, Nr. 4295) legt sozusagen ein spätes Zeugnis von der Attraktivität des Genres der Fabel für Lehr- und Studienzwecke ab (und dies offensichtlich ganz besonders in ihrer auf nur vier Verse verdichteten Kurzform im Werk des Ignatius Diaconus). Die neuzeitliche Papierhandschrift im Oktavformat, die bei ihrer Aufnahme in die Wolfenbütteler Bibliothek aus dem Nachlass Ernst Theodor Langers (1743–1820) nachträglich in die Handschriftensammlung Marquard Gudes eingereiht wurde (Ebert 1827, 74, Nr. 363), enthält unter anderem die Abschrift einer gedruckten Fassung der Tetrasticha des Ignatius Diaconus (deutlich erkennbar an einigen typographischen Eigenheiten sowie an den Auslassungen in den Gedichten Nr. 28 und 29 [fol. 13v/14r], 32 [fol. 14v/15r] sowie 38 und 39 [fol. 17v/18r]; siehe auch Müller 1892, 420f.). Die enthaltene Textzusammenstellung liefert einen eindeutigen Anhaltspunkt, dass es sich beim zugrunde liegenden Text um einen Nachdruck der Froben’schen Ausgabe von 1524 handeln muss. Aus textlichen wie typographischen Gründen käme hierfür etwa die 1567 bei Christophe Plantin in Antwerpen gedruckte Edition in Frage (Eleuteri 2014, 176). Der Griechisch lernende Schreiber der Handschrift ist unbekannt; das als Evidenz herangezogene Widmungsgedicht am Schluss der Handschrift (fol. 65v; Köhler/Milchsack 1913, 73) könnte auch eine bloße Notiz sein, zumal es auf ein im Manuskript nicht enthaltenes Werk, nämlich die Epigrammata Melissi, Bezug zu nehmen scheint. Terminus post quem für die Beendigung der Handschrift wäre damit die Publikation eben dieser Epigrammata des Paulus Melissus (Paul Schad) im Jahr 1580.

Dank

Der poetische Begleiter der Fabeln des Aesop, Konstante und Kuriosum der antiken und byzantinischen Fabeltradition, dessen Spuren sich in vielfältiger Weise in den Beständen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel nachverfolgen lassen, soll hier in Form einer digitalen Edition vorgelegt werden. Grundlage dafür ist der von Herzog August erworbene Basler Druck von 1524, der für die intellektuelle wie maschinelle Erschließung aufbereitet und um kommentierende Anmerkungen ergänzt wurde. Mein Dank gilt zuallererst Torsten Schaßan, der die technische Beratung, Betreuung und Unterstützung übernommen hat. Ebenfalls danken möchte ich den Teams aus Restaurier- und Fotowerkstatt, die die Digitalisierung des über die Jahre brüchig gewordenen Originalbandes ermöglicht haben.

Wolfenbüttel, März 2023
Christine Rüth

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