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Erstellt im Projekt Welt und Wissen auf der Bühne. Die Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit
Auf der Basis der Paratexte des historia
als Erzählung wahrer, wirklich geschehener Ereignisse untersucht.1 Die Materialgrundlage bilden die
Titelkupfer, Drucktitelblätter, Dedikationen und Vorworte aller 21
deutschsprachigen Bände der seriellen Großchronik, die von 1633 bis 1738
erschienen ist.2 Unter anderem ist zu
analysieren, ob sich in der über hundertjährigen Publikationsgeschichte des
monumentalen Geschichtskompendiums ein Wandel in der Auffassung von Zeit,
Geschichte, Geschichtsschreibung und Erinnerung abzeichnet. Neben dem
programmatischen Selbstverständnis und dem theoretischen Anspruch der am
historia und historiographia als Kunst der
Geschichtsschreibung und ihre Tradition näher bestimmen. Es wird sich zeigen,
dass Geschichtsschreibung als Inbegriff der sprachlichen Vermittlung
historischer Erkenntnis
(historia und fabula, von Faktizität und Literarizität der ars historica – beleuchtet.
Für die Untersuchung der Vorstellungen von Zeit, Geschichte und Geschichtsschreibung wenden wir uns zunächst den Titelkupfern, dann Drucktitelblättern und schließlich den Widmungen und Vorworten zu.
Von den 21 Bänden des
Das unsignierte Titelkupfer des zuerst 1635 erschienenen ersten Bandes des
sensu stricto
wird hier verzichtet.
Die bekrönte Herrscherin Europa sitzt in herausgehobener Stellung auf einem
Thron; über dessen Baldachin befindet sich eine Weltkugel, auf deren Mitte
Europa zu sehen ist. Durch das der Krone aufgesetzte Kreuz wird die Herrschaft
religiös legitimiert. Vor Europa knien auf den Stufen eines Podestes drei in die
göttliche Weltordnung eingebundene Erdteile mit ihnen zugeordneten Tieren: links
Afrika mit einem Elefanten, rechts Amerika mit einem Papagei und Asien mit einem
Kamel. Über der Huldigungsszene erscheint, abgegrenzt durch Thronbaldachin und
Wolken, in der himmlischen Sphäre das überkonfessionell strahlende Auge Gottes,
das den europäischen Kontinent in der Mitte der Weltkugel illuminiert. Zwei
Hände aus Wolken halten eine Rute und einen Ölzweig, die göttliche Strafe und
Belohnung andeuten. Beide Attribute korrespondieren mit der Kriegsgöttin Bellona
rechts und der mit Ölzweig und Taube ausgestatteten allegorischen Friedensfigur
Pax links. Das Titelkupfer stellt das christliche Europa damit in den epochalen
Kontext von Krieg als Strafe und Frieden als Segen Gottes. Auf der rechten Seite
verweist die mit einer Kugel abgebildete Glücksgöttin Fortuna auf die ständige
Wandelbarkeit irdischen Geschehens. Das im Wind aufgeblähte Tuch bzw. Segel der
Fortuna spielt auf das Glück des Tüchtigen an, in diesem Bildzusammenhang nicht
auf die bedrohliche Macht des sich wandelnden Schicksals (
Berücksichtigt man weitere Titelkupfer, die von der Personifikation der Europa
bestimmt werden, so zeigt sich, dass die ‚alte Welt’ zum utopischen Hort von
Frieden und Gerechtigkeit stilisiert wird. Dieser Gedanke verbindet sich mit der
Vision der deutschen und europäischen Öffentlichkeit, in der man sich über
geschichtliche und politische Ereignisse kritisch austauscht (einen auf
Einhaltung christlicher und humanistischer Normen verpflichteten Raum, der
auf Frieden angelegt sein sollte und in dem er als kritischer Zeitgenosse
‚Öffentlichkeit’ herstellt
(
Der zweite Band des
Auf der mittleren Bildebene erkennt man links auf einem Felsplateau eine
Frauenfigur, die in der rechten Hand ein Blatt mit dem erläuternden Schriftzug
Historia
hält. Es wird ergänzt, die Allusion auf Magistra Vitae
(historia als magistra vitae
verkörpern. Der zugeschnittene Felssockel, auf dem die Frauenfigur ruht,
unterstreicht die Festigkeit und Standhaftigkeit (Magistra
steht ein durch sie unterwiesener Knabe,
der das von ihr gehaltene Blatt zu greifen und zu lesen scheint. Zu ihren Füßen
liegt ein Hund. Er könnte die Treue, mit der die historia zu schreiben ist, bedeuten.9
Auf der rechten Seite vom Werktitel sitzt eine nackte, bekrönte Frauenfigur auf
einer Erdkugel, in der linken Hand eine brennende Fackel haltend, das schöne
Haupt umgeben von einer leuchtenden Lichtquelle, in die – auf Ciceros
Lux
Veritatis
eingeschrieben ist (
Auf der unteren Bildebene lassen sich vor einer dunklen Erdhöhle qua Nennung
ihres Namens drei Gegner der Historiographie identifizieren: links die Lüge bzw.
Verstellung (Mendacium
) mit den ihr zugehörigen Masken, rechts
das schlafende Vergessen (Oblivio
), in der Mitte im Höhlendunkel
die Unwissenheit mit Eselsohren (Inscitia
).
Mendacium
und Inscitia
sind durch eine Kette
gefesselt. Die Gegenbilder der Geschichtsschreibung – Mendacium
,
Oblivio
und Inscitia
– werden umgeben von
weiteren Figuren, die durch ihre Attribute bzw. Körperhaltung diesen
Personifikationen zuzuordnen sind. Die Gestalten der Unwissenheit fallen durch
ihre Eselsohren, ihre dümmlich anmutende Physiognomie und den grobschlächtigen
Körperbau der Lächerlichkeit anheim. Der Schlaf der Oblivio
hat
eine Parallele zum Schlaf der Verstorbenen und entspricht dem Grab der
Vergessenheit, in das die Toten ohne Geschichtsschreibung fallen würden
(
Auf dem Titelkupfer geht es um die göttliche Legitimation, die Aufgabe und den
Nutzen der Historiographie. Im Kontrast zu oblivio ist
es die historia, die Personen, Ereignisse, Dinge, Ideen,
Weltanschauungen etc. vor der Vergessenheit bewahrt und die der auf diesem
Titelkupfer jedoch nicht erwähnten memoria den Stoff
liefert. Geschichtsschreibung soll einerseits von der veritas inspiriert sein, andererseits bezeichnet die Vermittlung von
Wahrheit das Ziel und die Zweckdienlichkeit der Historiographie.10 Betont wird in der Tradition eines
rhetorisch bestimmten Geschichtskonzepts die Lehrfunktion der historia. Als Licht der Wahrheit und Lehrmeisterin des Lebens soll sie
im Sinne Ciceros Nutzen für die menschliche Gemeinschaft stiften.
Das unsignierte Titelkupfer des 1639 erstmals herausgebrachten dritten Teils
des
Links des Wehrturms, aus dessen Schießscharten Geschützrohre ragen, schwebt auf
der Mittelebene eine nackte, bekrönte Frauenfigur, von einem Lichtkranz umgeben.
Durch das Schweben und den Lichtglanz erscheint sie in einem religiösen Bezug.
Die Personifikation der Nuda Veritas
, so die erläuternden Worte
zu ihren Füßen, hat in der rechten Hand ein aufgeschlagenes Buch mit der
Aufschrift Historia vitae
, möglicherweise zu ergänzen durch
magistra
. In der linken Hand hält sie ein Zepter, wie die
Krone Signum der Herrschaft. Diese Veritas-Figur
repräsentiert den Anspruch der historia, im Einvernehmen
mit Gottes Willen als magistra vitae zu herrschen und
somit in lebenspraktischer Hinsicht nützlich zu sein. Auf der rechten Seite des
Geschützturms steht auf der Erde eine bekleidete Frauenfigur, durch Schmuck und
modisches Gewand auffällig herausstaffiert. In der Rechten hält sie einen Wedel,
in der Linken einen Spiegel. Mit den beiden Accessoires dürfte auf die Eitelkeit
der Licentia
angespielt sein. Zu ihren Füßen ist der
Deutungshinweis zu lesen: Compta affectuum Licentia
. Es handelt
sich also um Licentia, Göttin der Zügellosigkeit, Willkür und Leichtfertigkeit,
und um die beherrschbare Zügellosigkeit der Affekte. Der Sinnspruch kann auf die
Nuda Veritas
bezogen werden: Die unverhüllte Wahrheit und
deren Wiedergabe soll durch die Bändigung der Leidenschaften erreicht werden.
Die Allegorie der Wahrheit findet ihre Bezugsszene auf der unteren Bildebene.
Unter der auf einem Podest vor dem Festungsturm stehenden Schrifttafel mit
Werktitel und Verlagsangabe ist im Vordergrund ein an einem Schreibtisch sitzend
arbeitender Historiograph zu sehen, ausgewiesen durch die auf einem Tuch über
ihm erscheinende Bezeichnung Historiographia
. Gegenstände dieses
Bildteils sind die Entstehung eines Geschichtswerkes und die Arbeit des
Historikers. Der mit einem Lorbeerkranz geschmückte Geschichtsschreiber hat ein
auf der Tischplatte liegendes aufgeschlagenes Buch vor sich. In der rechten Hand
hält er eine Schreibfeder, die linke Hand ruht auf einer Buchseite. Auf dem
Schreibtisch steht ein Tintenfass, Blätter, versiegelte Bögen, Briefe,
Briefumschläge und eine Papierrolle liegen verstreut herum. Von rechts kommend
überbringt eine männliche Figur ein neues versiegeltes Schriftstück, wohl ein
Bericht oder eine Nachricht, womit auf die Aktualität zu verarbeitender
Neuigkeiten abgehoben wird. Der Historiograph hat offenbar gerade eine Seite des
Buches beschrieben und blickt nun nachdenklich reflektierend auf das gereichte
Dokument des Boten, der gerade hinzutretend, zum Gruß seinen Hut vom Kopf hebt.
Die Szene veranschaulicht den Bedarf des Historikers an zugetragenen
informativen Quellen und die Erfordernis, sie kritisch-reflektiert im
Geschichtswerk zu verarbeiten. Links und rechts vom Geschichtsschreiber sind an
den Bildrändern zwei weitere Veritas-Personifikationen
zu sehen. Von links unten nähert sich – aus einer dunklen Höhle ans Licht
steigend – eine nackte weibliche Figur dem Historiographen. Ehedem gefesselt,
trägt sie noch den Rest einer Schelle am linken Unterschenkel. Ihre Unterarme
sind durch eine Kette gebunden. In Kopfhöhe der Frauenfigur, die sich umschauend
den Blick vom Historiographen abgewandt hat, ist der Satz Verum cùm
datebris delituit diu Emergit
zu lesen – die lange verborgene
Wahrheit gelangt nun endlich ans Tageslicht. Die Höhle ist auch hier, wie auf
dem Titelkupfer des zweiten Bandes des Simplicis Veritatis Studium
. Sie personifiziert folglich
das Bemühen um die einfache Wahrheit.
Der zuerst 1652 erschienene sechste Band des
Chronos wendet sich Bellona zu, in deren Richtung er auch in der Linken sein Stundenglas hält. Sein Blick ist allerdings nicht der Kriegsgöttin, sondern Pax zugewandt. Mit Körperhaltung, Gestik und Blick scheint angedeutet, dass die Zeit des Krieges abgelaufen und die Epoche des Friedens angebrochen ist. Durch die Nähe zur göttlichen Sphäre wird diese historische Entwicklung als ein durch Gottes Willen gestalteter Geschichtsverlauf dargestellt. In der Bildhierarchie Chronos übergeordnet erscheint Memoria oben in einem Thronsessel sitzend, eingerahmt von zwei Putten mit Fama-Posaunen, Zeichen des verkündeten Ruhmes. Die Memoria-Personifikation liest, den Oberkörper nach vorne gebeugt, in einem Buch. In der Rechten hält sie eine Schreibfeder für Notizen bereit.
Im vertikalen Bildaufbau ergibt sich eine fünfstufige Rangfolge. Auf der
untersten Stufe befindet sich in der Triumphalikonographie Victoria, darüber der
Kurztitel des Werkes, umgeben von Bellona und Pax. Auf der dritten Ebene
herrscht Chronos, über ihm Memoria mit den Fama-Putten. Der höchste Rang gebührt
allein Gott. Ausgehend unten vom konkreten historischen Gegenstandsbereich
gelangt der Blick zu dessen abstrakter begrifflicher Erfassung, dann zur
übergreifenden Reflexion und schließlich zum allmächtigen Lenker der
Weltgeschichte. Der Erkenntnisweg des Bildbetrachters bzw. Lesers steigt auf von
der Rezeption historischer Fakten über die zunehmend abstrahierende Reflexion
zum Göttlichen. Memoria meint in diesem Kontext einen reflektierenden Umgang mit
Geschichte und korreliert im dualen aristotelischen Erkenntnismodell mit der
oberen Stufe. Mit der geschichtstheoretischen Sinndimension wird dem Rezipienten
durch die Figur der Memoria vor Augen geführt, dass er durch Lektüre von
Geschichtswerken Memoria und schließlich die Erkenntnis Gottes – untrennbar mit
der Selbsterkenntnis verknüpft – zu erlangen vermag (
Das von Respectans. Prospicit. Fructus Historiae
Praeteritorum Memoria et Providentia Futurorum. Cic. Vergangnes Lehrt
Zukünfftiges.
(TE, 1. Aufl., Bd. 21, 1738, Titelkupfer) Damit schließt sich der Kreis der Geschichtschronik,
denn die Verbildlichung eines autoritativen Cicero-Zitats befindet sich bereits
auf demjenigen Band des
Auf die heilsgeschichtliche Perspektive und auf die änigmatische Janus-Figur des
Titelkupfers hebt die Vorrede an den Leser ab. Bei der Lektüre des Werkes werde
– so verspricht es die praefatio – […] das
Räthsel des auf dem Titul-Blat/ als Zweck aller Geschichte/ erscheinenden
Janus sich auflösen/ und/ wenn man die geschehene Dinge samt deren Folgen
reiflich überleget/ eine nicht ungegründete Vermuthung fassen lassen/ was
etwa unter GOttes Verfügung oder Zulassung inskünfftige zu hoffen oder zu
fürchten sey? der gebe allerseits das Beste in Klugheit derer Gerechten!
Amen!
(TE, 1. Aufl., Bd. 21, 1738, Vorrede
[unpag.]).
Der doppelgesichtige Janus, römischer Gott des Anfangs und des Endes aller Zeit,
wird mit dem Zweck aller Geschichte
in Verbindung gebracht. Das
nach vorne und hinten blickende Doppelgesicht kann in der Emblematik nicht nur
allegorisch auf Zwiespältigkeit verweisen, sondern auch die zurückblickende und
vorausschauende Klugheit bedeuten, die bezeichnenderweise im letzten Satz der
Vorrede genannt wird (Zweck aller Geschichte
zielt damit auf künftiges kluges
Handeln. Der Sinnspruch des Titelkupfers hebt darauf ab, dass die Vergangenheit
beschrieben wird, um die Zukunft erfolgreich bewältigen zu können. Der linke
Teil des zurückliegenden Podestes bezieht sich durch die Beschriftung auf die
Vergangenheit, der rechte Teil auf die Zukunft. Der Sinnspruch auf dem im
zentrierten Vordergrund stehenden Podestteil ist auch durch den weißen
Hintergrund herausgestellt. Als Frucht der historia und
als ihre Komponenten werden einerseits retrospektiv memoria, andererseits prospektiv providentia
angeführt. Historiographie hat zunächst die Funktion, die geschehene
Dinge samt deren Folgen
zu erzählen. Sie verfolgt in lehrhafter
Absicht darüber hinaus das hilfreiche Ziel, für die Zukunft darüber zu
orientieren, was zu hoffen oder zu fürchten sey
. Basierend auf
einem dem göttlichen Willen und der Providenz vertrauenden Geschichtsbild soll
künftiges Handeln vorhersehbar und beherrschbar werden.
Die plakativen Drucktitelblätter der 21 Bände des exemplum-Charakter und dienen
den auf dem theatrum mundi agierenden Schauspielern wie
den Zuschauern zur Erkenntnis der providentia dei sowie
zur moralischen doctrina im Sinne der Tugendinstruktion.
Diese Vorstellung einer Schau-Bühne verbindet sich mit einem anderen Begriff von
theatrum als Ort, an dem Gesammeltes in geordneter
Weise aufbewahrt und vor Augen gestellt wird. Da sich hier die
Theater-Metaphorik auf die Ordnung, Archivierung, Repräsentation und das Deuten
von Wissen bezieht, kann auch das Zusammengetragene selbst theatrum heißen.13 Darüber
hinaus wird im Buchtitel kein Zweifel daran gelassen, dass die europäische
Geschichte im Zentrum der Ausführungen steht (dazu
In den Texten der Drucktitelblätter tauchen weitere für das Geschichtsverständnis
des Kompendiums wichtige Begriffe immer wieder auf. Das Drucktitelblatt von Band 1 annonciert die Ausführlichkeit und
Wahrhaftigkeit in der Beschreibung:
(TE, 1. Aufl., Bd. 1, 1635, Drucktitelblatt) Damit wird die im Obertitel genannte Zentrierung auf
Europa relativiert. Erwähnung findet zwar durchaus ein universalhistorischer
Anspruch, doch soll insbesondere die europäische und deutsche Geschichte im
Vordergrund stehen. Der Hinweis auf die Darstellung Theatrum
Europaeum, Oder Außführliche/ vnd Warhafftige Beschreibung aller
vnd jederdenckwürdiger Geschichten/ so sich hin vnd wider in der Welt/
fürnämlich aber in Europa/ vnd Teutschen Landen/ so wol im Religion- als
Prophan-Wesen/ vom Jahr Christi 1617. biß auff das Jahr 1629. […] sich
begeben vnd zugetragen haben […].denckwürdiger
Geschichten
tangiert die vom Historiographen vorzunehmende electio des vorgefundenen Stoffes nach dem Kriterium der
Wichtigkeit. Nur denkwürdige, also bedeutsame geschichtliche Ereignisse sollen
beschrieben werden. Gegenstand sind die res gestae der
Kirchen- und Profangeschichte.
Das Drucktitelblatt der editio princeps des 1633
auf den Buchmarkt gelangten zweiten Bandes des Geschichtswerkes verzichtet noch
auf den Obertitel Chronick
(TE, 1. Aufl., Bd. 2, 1633, Drucktitelblatt; zur Gattung der Chronik in Mittelalter und Neuzeit
Auch der 1639 erstmals veröffentlichte dritte Band des Chronick
(TE, 1. Aufl., Bd. 3, 1639, Drucktitelblatt). Der Hinweis auf die Wahrhaftigkeit der Darstellung
wird hier nicht mehr – wie im ersten Band – begleitet von der Hervorhebung der
Ausführlichkeit, sondern von der Kürze der Beschreibung. Welt
bedeutet nun keineswegs nur das Deutsche Reich und Europa, da sich der
Kriegsschauplatz ausgedehnt hatte. Der dritte Band enthält, die Perspektive
ausweitend, eine […] kurtze vnd warhaffte Beschreibung aller vornehmen/
Denck- vnd Chronickwürdigen Geschichten/ so sich hin vnd wider in der
gantzen Welt/ in den beyden Ost- vnd West-Jndien/ sonderlich in Europa, in
Franckreich/ Hispanien/ Jtalien/ Groß-Britannien/ Dennemarck/ Schweden/
Polen/ Böhmen/ Hungarn/ Siebenbürgen/ Wallachey/ Moldaw/ auch theyls Türck-
vnd Barbarey/ etc. In Hoch- vnd Nieder-Teutschland/ allermeist aber im Reich
Teutscher Nation […] von Anno 1633. biß 1638. inclusivè in Kirchen/
Welt-Regiment vnd Kriegswesen/ allerseits begeben vnd zugetragen
(ebd.).
Eine weitere neue Komponente des Drucktitelblatts bezieht sich auf die Tätigkeit
und Arbeitsweise sowie auf das Selbstverständnis des Verfassers des dritten
Bandes, auf den Historiographen Heinrich Oraeus, der Theils auß eygener Erfahrung/ allermeistentheils aber auß
vberschickten glaubwürdigen Schrifften vnd Documenten mit grossem Fleiß vnd
sonderbahrer Trew gantz vnpartheyisch vnd ohne Affecten/ zusammen getragen/
vnd beschrieben […]
(ebd.).
Die Drucktitelblätter der folgenden Bände 4-21 bringen Wiederholungen und keine
neuen oder ergänzenden Aspekte zur Theorie der Geschichte und
Geschichtsschreibung – abgesehen von der tendenziellen Ausweitung der
Historiographie auf außereuropäische Erdteile. Insgesamt betrachtet weisen die
Drucktitelblätter hinsichtlich der Theorie zur historia
eine bemerkenswerte Konstanz in ihrer Entwicklung von den Dreißiger Jahren des
17. Jahrhunderts bis 1738 auf.
Auf den Kupfertitelblättern werden die Titeltexte der Drucktitelblätter in
Kurzform wiederholt. Für das geschichtstheoretische Selbstverständnis relevante
Begriffe – wie der Obertitel historische Chronik
, der Berichtszeitraum – sind anfänglich
in die Kupfertitelblätter, die auch die enthaltenen Kupferstiche, Verleger und
Erscheinungsort nennen, integriert. Die dort präsentierten textlichen
Kerninformationen wurden allerdings nach und nach kürzer, so dass mitunter nur
noch der Obertitel des Werkes und der jeweilige Werkteil als Titeltext Erwähnung
fanden. Das Kupfertitelblatt von Band 15 (TE, 1. Aufl., Bd. 15, 1707) erschien
ohne jeglichen Text.
In manchen Dedikationen und Vorreden gehen die Verfasser des
historia und historiographia
ein. In der Widmung des vorwortlosen ersten Bandes (TE, 1. Aufl., Bd. 1, 1635) –
gerichtet an den Bürgermeister und den Rat der Reichsstadt Frankfurt a.M. –
knüpft Matthaeus Merian an die Tradition der seit Menschengedenken entstandenen
Universal- und Partikulargeschichten an, die die Religions- und Profangeschichte
zum Gegenstand haben. Anfänglich als Weltgeschichte konzipiert, die ab ovo
erzählen sollte, beschränkt sich Merian auf die zeitgenössische europäische
Geschichte, für den ersten Band auf den Berichtszeitraum von 1618 bis 1629.
Historiographen hätten – so Merians Auffassung – Personen und Ereignisse der
Posterität und den Nachkömmlingen zur Gedächtnuß und sonderbarem
Nutzen beschrieben
(TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, Widmung, unpag. [S.
1]). Damit steht Merian in der Tradition der antiken bzw.
humanistischen Geschichtsphilosophie14. Memoria und utilitas
als Ziele der Historiographie werden demnach gleich genannt. Weitere Normen, die
er für sich und seine Autoren in Anspruch nimmt, sind Fleiß/ Candore und
Auffrichtigkeit
(unpag. [S.
2]). Mit candor dürfte hier ‚Klarheit’ gemeint
sein.15
Der zweite Band (TE, 1. Aufl., Bd. 3, 1633) ist Theatrum
begriffen
wird, einerseits auf die daß kein
gewisserer testis temporum, vita memoriae, vnd Lux veritatis seye/ quam
Historia
(unpag. [S.
2]). Das vollständige Zitat lautet bei Cicero: Historia vero
testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia
vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur?
–
Und die Geschichte vollends, die vom Gang der Zeiten Zeugnis gibt,
das Licht der Wahrheit, die lebendige Erinnerung, Lehrmeisterin des Lebens,
Künderin von alten Zeiten, durch welche Stimmen, wenn nicht die des Redners,
gelangt sie zur Unsterblichkeit?
(historia und historiographia auch S. 238-247). Die ebenso von Merian
unterzeichnete Vorrede nimmt wiederum Bezug auf den Doppelaspekt von Nutzen und
Belustigung und erwähnt die intendierten Leser: Gelehrte und den gemeinen
Mann
(TE, 3. Aufl., Bd. 2, 1646 Vorrede, unpag. [S.
2]). Merian versichert zum einen, die Erzehlung der Geschichten
an sich selbst auff den vesten Grundt der vnlaugbaren blossen Warheit/
welche die einige Substantz vnd Seel der Historien ist/ fundirt
zu
haben (unpag. [S.
1]). Zum anderen betont er die Authentizität der seinem Werk
beigefügten LandTafeln
, Contrafacturen
, Abrisse,
Festungs-, Schlachtpläne etc. (unpag. [S.
1]). Teils habe er die Originale selbst in Augenschein nehmen können,
teils habe er die Vorzeichnungen für die Kupferstiche von verlässlichen
Ingenieuren erhalten. Es fallen weitere Leitbegriffe, die in den Vorreden der
späteren Bände wiederholt werden. Ein rechtschaffener Historiker habe sich der
Partheylichkeit
und des eigenen Vrtheils
in
der moralischen Bewertung, erläuternden Kommentierung und Deutung der
dargestellten Ereignisse zu enthalten.16 Er solle die Dinge vielmehr so erzählen, wie sie sich
begeben vnnd zugetragen haben/ ohne einige Privat-Affection/ loben oder
schelten
(unpag. [S.
2]). Die Konzentration auf das faktische Geschehen und die
Ausschaltung von Gefühlen waren – wie in Ciceros Nam quis
nescit primam esse historiae legem, ne quid falsi dicere audeat? Deinde ne
quid veri non audeat? Ne quae suspicio gratiae sit in scribendo? Ne quae
simultatis?
– Wer wüßte denn nicht, daß die erste Regel der
Geschichtsschreibung gebietet, keine falsche Aussage zu wagen, die zweite,
keine wahre nicht zu wagen, damit beim Schreiber weder der Verdacht der
Sympathie noch der der Feindschaft aufkommt?
(
Eine ausführliche, von Matthaeus Merian signierte Widmung und eine längere
unsignierte Vorrede, nicht minder gehaltvoll für geschichtstheoretische Belange,
begleiten den dritten Band (11639). Ausgangspunkt der Widmung an Landgraf historia. Der Nutzen
der memoria als Gedächtnuß vergangener
Dingen
wird aus der Vorstellung abgeleitet, dass daraus die weise,
gütige und wunderbare Regierung Gottes erhellt werden könne (TE, 3. Aufl., Bd.
3, 1670, Widmung, unpag. [S.
1]).18 Diese Lehrfunktion,
die die historia für Zeitgenossen und Nachwelt
übernimmt, gilt in gleicher Weise für die letztlich vom Schöpfer gelenkte
Profangeschichte. Da der Mensch zum Vergessen neigt, ist es Aufgabe der
Historiographie, Vergangenes zu bewahren und damit an durch Gott bewirktes
Geschehen in Demut und Dankbarkeit zu erinnern. Denn, so lautet eine Maxime,
Vergessenheit macht Vermessenheit
: Das thut die
History/ da im Gegentheil: Oblivio securitatem parit, Vergessenheit macht
sichere liederliche Leut/ und solche undanckbare unerkentliche Leute fallen
hernach auffs neu in Gottes Zorn/ und ziehen ihnen selbst nur mehrere Straff
und Plagen vom Himmel über den Hals.
(unpag. [S.
3]) Obenan steht als Ziel das Erkennen der göttlichen
Providentz
nach dem Grundsatz Ludit humanis divina
potentia rebus.
(unpag. [S.
3]) Merian, der das historia und den
von ihr dargebotenen exempla könne man für gegenwärtiges
und künftiges kluges, von Vernunft geleitetes Verhalten lernen. Anknüpfungspunkt
dürfte Cicero sein, der in voller Beispiele
(plena
exemplorum
) (wo wir oder andere in der Sachen
verfehlet/ und entweder zu viel oder zu wenig gethan haben/ damit wir uns
klüglich und vernünfftig in die Sache schicken/ und entweder dem guten
folgen/ oder das schädliche vermeyden.
(TE, 3. Aufl., Bd. 3, 1670,
Widmung, unpag. [S.
3])
Somit diene Historiographie dazu, tugendhaft zu leben und die Laster zu meiden.
Die Lektüre der Geschichtsbücher schütze zudem davor, einst begangene
Verfehlungen zu wiederholen. Besonders angesprochen sind kirchliche und
weltliche Amtsträger, die in Kirchen/ Cantzleyen und Rahthäusern
kluges Handeln für die Tagespolitik erlernen sollen (unpag [S.
3]). Auch die Einsicht in eine Grunderfahrung menschlichen Daseins,
die inconstantia, sei der Geschichte zu entnehmen und
für die Gegenwart fruchtbar zu machen: Die Histori und Beschreibung
vergangener Geschichten stellet uns vor Augen die Unbeständigkeit und
Untergang aller Dinge/ wie gar nichts beharrlichs noch beständigs in der
gantzen Welt sey
(unpag. [S.
3]). In der Darstellung historischer Ereignisse setzt man auf die
Kraft, Evidenz und Wirkung der exempla. Die Sammlung
vergangener Beispiele soll dazu beitragen, Gegenwart und Zukunft angemessen zu
bewältigen. Zur kompilatorischen Arbeitsweise der Historiographen bemerkt
Merian, dass die verlässliche Wiedergabe der Zeitgeschichte zum Teil auf eigener
Erfahrung, zum Großteil aber auf zahlreichen mündlichen sowie schriftlichen
Berichten beruhe.
Der Vorrede An den unpartheyischen geneigten Leser
zufolge zielt
das eines jeden Standes
(TE, 3. Aufl., Bd. 3,
1670, Vorrede, unpag. [S.
1]). Sodann gerät ein Kernproblem anzustrebender unparteiischer
Geschichtsschreibung in den Blick. Bei der anfallenden Menge an Stoff sei es
unmöglich für den Autor bzw. Kompilator, alles aus eigener Erfahrung und
Augenzeugenschaft zu schöpfen. Man sei vielmehr auf die mannigfaltigen
Informationen auswärtiger Gewährsleute angewiesen, die in ihrer Disparität
jedoch partheyisch/ und nach den Humoren und eines jeden eygenen Affecten
gerichtet
seien (unpag. [S.
1]). Von Affekten beeinflusst, die schlechte Ratgeber abgeben, könne
die wahrheitsgetreue Darstellung leiden. Daraus resultiert ein Dilemma, soll
doch der Historiograph als vir bonus Priester der
Wahrheit (Sacerdos veritatis
) sein und die Dinge lediglich
wahrheitsgemäß erzählen (unpag. [S.
1]). Immerhin gehört der Wahrheitsanspruch zu den wichtigsten
Leges
(unpag. [S.
2]) der Geschichtsschreibung. Man beteuert, sich in dieser
historischen Chronik aller Menschlichen Möglichkeit nach der puren und
reinen Warheit zum allerhöchsten beflissen/ und von uns selbst eygenes
Willens nichts eingesetzt/ ohne was wir der Warheit ex lectione, relatione ?
collatione documentorum am ähnlichsten zu seyn befunden. Dann (Veritas est
anima Historiae) die Warheit ist die Seel der History und Beschreibung
vergangener Geschichten/ ohne dieselbige ist die History und Beschreibung
anderster nichts/ dann ein todtes übelriechendes Aas
(unpag. [S.
1]).
Es liegt in der Natur der Sache, dass auswärtige Berichte, selbst wenn sie sich
auf ein und denselben Sachverhalt beziehen, oft unzuverlässig und
widersprüchlich sind und nicht alle der Wahrheit entsprechen können. Sogar
Augenzeugen nehmen das gemeinsam Erlebte mitunter durchaus unterschiedlich wahr
und stellen es in differenter Weise dar (dazu TE, 3. Aufl., Bd. 4, 1692,
Vorrede, unpag. [S.
1]). Hinzu kommen die der Wahrheit abträgliche Standortgebundenheit
und Subjektivität des Augenzeugen (wie die Bienlein in Wälden/ Felden und Gärten
auff alle Blümlein fliehen/ und ihren süssen lieblichen Honig darauß saugen:
Also haben wir uns höchstes Fleisses angelegen seyn lassen/ alle Documenta,
so viel wir nur deren immermehr haben können […] daß wir dieselbigen
ängstlich unnd mühsamb durchkrochen/ und das jenige was am bekräfftigsten/
in unser Alvearium eingebracht
(TE, 3. Aufl., Bd. 3, 1670, Vorrede,
unpag. [S.
2]). Gerichtet habe man sich nach einem Grundsatz der Leges
Historiae
: Si videantur historiae discrepare, tentetur
conciliatio: si illa locum habere non potest, cogitetur: in rebus obscuris
sequi oportet id, quod est minimum.
(unpag. [S.
2]) Allerdings dürfte auch dieses Verfahren an Grenzen gestoßen sein.
Wenn der Historiograph trotz kritischer Prüfung nicht sicher war, welcher
Bericht die Wahrheit wiedergab, reproduzierte er mindestens zwei oder mehr
Quellen, um dem Leser die Beurteilung zu überlassen. Beispielsweise berichtete
sich hernachmahln/ aus Gegeneinanderhaltung dieser Nachrichten/
selbsten den wahrscheinlichsten Entwurff dieser Dinge in seinem Gemüthe
machen möge
(TE, 1. Aufl., Bd. 16, 1717, S.
1020).
Es wird mit Bedauern eingeräumt, trotz Wahrheitsanspruch möglicherweise nicht
immer die wahre, unparteiische und von Affekten freie Darstellung vorlegen zu
können.19 Zu entschuldigen sind
diese Verfehlungen mit einer anthropologischen Konstante, sei doch der Mensch
nicht perfekt und Irren menschlich. In der Vorrede des vierten Bandes wird in
Anbetracht des Dilemmas auf Cicero hingewiesen: Beruhet demnach auff dem
alten Ciceroniano: Quod errare, labi, decipi humanum sit, daß irren/ fallen/
und betrogen werden Menschlich sey.
(TE, 3. Aufl., Bd. 4, 1692,
Vorrede, unpag. [S.
2]).20 Immerhin wird die
Leserschaft ermuntert, der Wahrheit dienende Korrekturwünsche mitzuteilen, um
künftig in einer überarbeiteten Ausgabe Berücksichtigung zu finden. Man habe
sich in der objektiven, vorurteilslosen Darstellung, so wird beteuert,
kommentierender Werturteile und Interpretationen enthalten, es zudem
unterlassen, das Urteil des Lesers zu beeinflussen und es allein dem kritischen
Leser anheimgestellt, von seinem Urteilsvermögen, dem Judicium
,
Gebrauch zu machen (TE, 3. Aufl., Bd. 3, 1670, Vorrede, unpag. [S.
2]). Im Sinne der Ausgewogenheit sei auch darauf verzichtet worden,
Personen anzügig durchzulassen
oder mit unmässigem Lob
zubeschweren
(unpag. [S.
3]).
Der Vorspann zum Text des dritten Bandes bekräftigt nochmals den
Authentizitätsanspruch, dass alles aus glaubwürdigen eingeantworteten
Documenten, und eigener Erfahrung zusammen getragen
wurde (TE, 3.
Aufl., Bd. 3, 1670, S.
1). Eine Marginalie informiert plakativ: Historien Lesung und
Wissenschafft ist nöthig und hochnützlich.
(ebd.) An den lehrhaften Nutzen für alle Stände und insbesondere für
Herrscher und Amtsträger und die sich bei der Lektüre von Geschichtsbüchern
einstellende Klugheit, die in der Lebenspraxis anwendbar ist, erinnernd, führt
der Text dazu aus: Dann fürwar/ Historien fleissig lesen/ und
nachsinnlich betrachten/ das macht recht kluge/weise und verständige Leute
in allen Ständen und Aemptern/ also daß noch keiner mit Lob und Ruhm irgend
einem Dienst oder Ampt vorgewesen/ ohne rechtschaffene Erkäntnuß und
Betrachtung der Historien und vorgegangener Geschichten: dahero offenbar/
daß fast alle vornehme hohe Monarchen und glorwürdige Regenten/ auch
vornehme Amptträger in Göttlichen/ Geistlichen und Weltlichen oder
Prophan-Aemptern sich jederzeit der Chronicken/ Historien und alter
Geschichten Beschreibungen/ mit sonderlichem Lob und Ruhm bedienet/ und mit
tieffsinniger Betrachtung aller Ursachen/ Anlaß/ Anstalt/ Fürgang und
Außgang in Thun und Lassen darnach gerichtet/ daß also wol die Historia,
Sapientiae Metropolis, ein Hauptstadt der Weißheit mag genennet
werden
(ebd.).
In der von Matthaeus Merian unterzeichneten Widmung und in der von Johann Peter
Lotichius stammenden Vorrede des fünften Bandes (1647) kommt in der üblichen
Apologie der Historiographie und der Berufung auf die quellenkritische
Verfahrensweise eine in den vorherigen Paratexten nicht angesprochene Nuance zur
Relation von historia und fabula
hinzu. Merian plädiert zunächst für die Schilderung der Zeitgeschichte und eine
zeitnahe Beschreibung der res gestae, denn durch einen
großen zeitlichen Abstand des Historikers zu den erzählten Ereignissen bestehe
das Risiko, dass sich das Fehlerpotential im Hinblick auf die Wahrheit der
Darstellung erhöhe, weil etwa mit dem Sterben von Augenzeugen Fakten und
Umstände in Vergessenheit geraten könnten. Dagegen seien Zeitzeugen in der Lage,
noch aus ihrer frischen Erinnerung den Historiker zu informieren. Zeichne man
die Gegebenheiten erst in großer zeitlicher Distanz auf, dann laufe man Gefahr,
an statt Historien vnnd warhaffter Geschichten/ mehrentheils lauter
Figmenta vnnd Fabeln
zu produzieren (TE, 1. Aufl., Bd. 5, 1651,
Widmung, unpag. [S.
1]). Die res fictae waren ein Ärgernis für den
allein auf die res factae bedachten Historiographen
(dazu Mährlein
und
Fabulas
seien – so Merian – das Metier der Poeten, und Homer,
in Personalunion Dichter und Geschichtsschreiber, der den Trojanischen Krieg
mehrere hundert Jahre nach seiner Austragung aufzeichnete, habe man beschuldigt,
Mendacia
und Figmenta
hinterlassen zu haben
(TE, 1. Aufl., Bd. 5, 1651, Widmung, unpag. [S.
2]). Damit distanziert sich Merian von der Poesie und der poetischen
Darstellung historischer Ereignisse wie sie beispielsweise in Epen und Romanen
vorkommen.21 In seinen
Ausführungen dürfte er – wenn auch nicht expressis
verbis – auf die aristotelische Unterscheidung von Poesie und
Geschichte rekurrieren. In seiner daß es nicht Aufgabe des Dichters ist
mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen
könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit
Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich
nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in
Prosa mitteilt […]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine
das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte
(
Lotichius problematisiert in seiner Vorrede zunächst die grundsätzliche Frage, ob
man die eygentliche Warheit vnnd Beschaffenheit aller vnd jeder Dingen
Verrichtungen vnnd Stücken so accurat vnnd genaw erreichen vnd treffen
würde?
(TE, 1. Aufl., Bd. 5, 1651, Vorrede, unpag. [S.
1]) Zwar gründe vieles auf Erfahrung und Augenschein, doch seien die
überwältigende Flut an Berichten und die durchaus voneinander abweichenden
Informationen über ein und dieselben Gegebenheiten dubios. Der Historiker, der
nur die Wahrheit bona fide
wiederzugeben habe, dürfe nichts
Fiktives ergänzen. Er habe die eingehenden Berichte sincera mente
auf deren Glaubwürdigkeit hin zu prüfen, indem er nichts fingirt/ oder
hinzu thut/ welches cum ipsamet historiae anima, idest, veritate, streiten
solte.
(unpag. [S.
2]) Das Gebot nichts fingieren zu dürfen wird häufiger thematisiert,
so auch von Heinrich Oraeus, der die Geschichte eines Zauberers in Straßburg
erzählt und beteuert: Wir erdichten allhier nichts in odium Patrum,
sondern referiren purè wie es an uns kommen
(TE, 3. Aufl., Bd. 3,
1670, S.
34).
Auch factum nudè, vnd wie vns das
documentum, oder die darüber einkommene Relation solches dictirt/ erzehlet
haben […] so/ daß auß eigenem vnserm Gehirn/ darzu nicht das allergeringste
gesponnen/ noch auß habender passion ichtwas eingeschoben worden
(TE, 1. Aufl., Bd. 6, 1652, Vorrede, unpag. Zit. nach dem Exemplar der ULB
Münster 4° H3 903-6.). Schleder beruft sich auf die Autorität Ciceros und
verbürgt sich dafür, so viel möglich seyn wollen/ alles vnpartheyisch
vorgebracht/ vns erinnerende/ was der vortreffliche Redner Cicero, in seinem
zweiten Buch de Oratore schreibet/ Historiae supremam legem esse Veritatem,
das ist/ Man könne im Histori schreiben ein mehrers nicht thun/ als wenn man
mit der Warheit vmbgehet
(ebd.). Vor dem Problem stehend, eine kaum
überschaubare Menge an Quellen mit heterogenen und diffusen Nachrichten
verarbeiten zu müssen, zeigt er sich in Verlegenheit und hofft auf die Hilfe der
zu Korrekturen aufgerufenen Leser: […] daß bey einem so greulichen chaos
vieler vnterschiedener/ auch hochwichtiger Materien/ die Relationes
jederweilen dergestalt variiren/ daß man/ gleich einem/ der den Wolff bey
den Ohren hat/ nicht weiß/ was man thun oder lassen soll. Vnterwerffen vns
demnach redlicher wolmeynender Leute censur gar gerne/ vnd verbessern
hiernechst […] auff anderwärtliche bessere Nachricht/ alles was zu
verbessern gesucht wird.
(ebd.).
Die Zueignungsschrift des zunächst 1663 edierten siebten Bandes akzentuiert neben
der üblichen Tugendinstruktion die Handlungsorientierung für den Menschen, die
aus der Kenntnis der historia resultiert. Sie bietet
eine ethische Basis für das Zusammenleben in menschlicher Gemeinschaft und kommt
nicht zuletzt den Regenten und einer klugen Politik zugute: So hanget
(nechst der Barmhertzigkeit Gottes) die Wolfahrt deß Menschlichen Lebens
beynahe an nirgend anderm/ als an den Historien. Diese entzünden die Gemüter
zur Tugend; schrecken sie von Sünden und Untugenden ab; geben den
Tugendhafften das Leben nach ihrem Tod; tödten und begraben die
Untugendhafften in ihrem Leben; ehren die Ehrlichen bey den Nachkommenden;
schelten und schänden die Unehrlichen mit einer immerwährenden Schmach […]
zeigen/ wie man Gott dienen und förchten/ und sich in Auffrichtigkeit gegen
jederman verhalten soll […]. Die Kleinmütigen stärcken sie/ unterrichten die
Unwissenden/ und reitzen jederman zu allerhand tapffern und löblichen
Thaten
(TE, 2. Aufl., Bd. 7, 1685, Widmung, unpag. [S.
1]).
Die Vorrede des siebzehnten Bandes, erstmals 1718 publiziert und von Daniel
Schneider verfasst, sieht sich ebenfalls mit den Problemen des Auswählens aus
dem riesigen Quellenschatz und der erzählenden Wiedergabe der Quellen
konfrontiert. Angesichts der Misere bevorzuge es der Autor, Dokumente im
kompletten Wortlaut zu zitieren, damit der Leser aus denen eigenen Worten
vornehmster auff diesem Schau-Platz erscheinender Personen, sich einen desto
bessern Begriff von ihren Handlungen und Gemüths-Beschaffenheiten machen
möge
(TE, 1. Aufl., Bd. 17, 1718, „Vorbericht“, unpag. [S.
3]). Gebe man hingegen nur einen Auszug aus den Quellen, so kan
doch leicht etwas mit einschleichen, was mehr mit der Einsicht und Neigung
des Schreibers, als dem Sinne des ursprünglichen Autoris dieses oder jenen
Stückes übereinstimmt; und bald was, als nicht sonderlich trifftig, aussen
gelassen werden, das andern ein Punct von grosser Wichtigkeit zu seyn
scheinet, und in der That ist
(unpag. [S.
3]).
Damit ist eine grundsätzliche hermeneutische Schwierigkeit angeschnitten, der
sich ein Historiker zu stellen hat. Das hermeneutische Problem potenziert sich
in anderer Hinsicht, denn die Intention des damit alles umb so viel
leichter, verständlicher und angenehmer werde, dieweil es weit
vorträglicherer ist, alle Umbstände und Gelegenheiten, wie es vor, bey, mit
und nach den in brieffliche Urkunden verfasseten Sachen hergegangen,
ordentlich erzehlet finden, als wenn man dergleichen erst selbst aus denen
Urkunden zerstreuter zusammen suchen, oder wohl gar vieles, welches in diese
nicht gebracht worden, doch aber zu ihres Inhalts Sache gehörig ist,
muthmassen, auch etwa gar nicht erfahren soll
(unpag. [S.
3]).
Mit dieser Aufgabe dürfte der Historiker überfordert sein, kann er doch nicht
umhin, alle Umbstände und Gelegenheiten
deutend zu erklären und
beispielsweise Handlungsabläufe und deren psychologische Motivierung zu
interpretieren.
Bemerkenswert ist Schneiders ausdrückliche Trennung von historia und politica. Das
Weitere Widmungen und Vorreden sind im Hinblick auf unser Thema unergiebig oder wiederholen und variieren geschichtstheoretische Leitbegriffe, Überlegungen und Argumentationsketten. Sie bieten in dieser Hinsicht keine neuen Aufschlüsse und müssen daher hier nicht eigens vorgestellt werden (siehe Bde. 4, 8, 9, 11-16, 20, 21).
Das dem memoria als kulturelles Gedächtnis zu erlangen, sondern darüber hinaus
Entscheidungskompetenz für tugendhaftes Handeln im Hinblick auf prudentia. Das gilt gleichermaßen für die
individuell-private wie für die öffentlich-politische Sphäre. Die historia pragmatica verbindet sich mit der
Leitvorstellung historia docet, so dass die
teleologische Ausrichtung des Geschichtskonzepts unverkennbar ist.22 Es ist zudem ein wichtiges Anliegen
der Historiographie, das moralisch-rechtliche Urteilsvermögen, das iudicium, herauszubilden.
Eine prudentistische Sozialethik und Moralauffassung – in allen Bänden des
prudentia civilis nicht
nur dem homo politicus zu einem erfolgreichen
weltgewandten und moralisch richtigen Handeln verhelfen. Darin wird die Nähe zu
Positionen der prudentistischen Moralphilosophie der Epoche deutlich.23
Die durchgängige Fixierung auf einen heilsgeschichtlichen Deutungsrahmen der
erzählten Ereignisse und die Rückbindung historischen Geschehens auf den
providentiell vorgegebenen Sinn aller Geschichte widerspricht nicht den auch
vorkommenden Versuchen, naturwissenschaftliche Erklärungen für Phänomene – etwa
bei Naturkatastrophen und dem Auftauchen von Kometen – vorzuschlagen. Mit dem
allmählichen Aufkommen der neuen Erfahrungswissenschaften, verbunden mit einer
Neubewertung der Empirie, vollzog sich langsam und keineswegs widerspruchsfrei
eine Neueinschätzung der Erinnerungskultur, in der die Historiographie nicht
zuletzt auch als Archiv empirischer Daten legitimiert wurde. Gleichwohl hat
historia in den Paratexten des
Verfolgt man die Paratexte von 1633 bis 1738, so wird deutlich, dass Leitbegriffe
wie veritas, historia magistra
vitae, virtus, exemplum, iudicium, prudentia, historia, memoria, Aufrichtigkeit und Unparteilichkeit zwar immer wieder
auftauchen, doch zunehmend auf ausführlichere geschichtstheoretische Darlegungen
verzichtet wird. Gleichwohl zeigt sich eine bemerkenswerte Konstanz in den
Auffassungen zu historia und historiographia, die das
Insbesondere die Studien von Hayden White haben seit den Achtziger Jahren des 20.
Jahrhunderts dazu beigetragen, ein neues Verständnis für die Literarizität der
Historiographie hervorzurufen, etwa im Hinblick auf deren rhetorisch geformte
narrative Struktur bei der Auswahl, Wiedergabe, Verknüpfung und erklärenden
Motivierung der res factae. Neben der ‚Fiktion des
Faktischen’ gerieten auch die Relativität der erzählten historischen Wahrheit
und die Sinnkonstituierung und -konstruktion durch den Historiographen verstärkt
in den Blick (narratio einsetzt
und die verkürzende sprachliche Rekonstruktion einer vergangenen Realität
beginnt. Bereits die Auswahl und Ordnung überlieferter Berichte gehen mit einer
wertenden Interpretation einher. Die Vorstellung, ein Historiker könne ein
objektives und wahres Bild der Vergangenheit quasi subjekt-unabhängig verbal
wiedergeben, hat sich längst als Illusion erwiesen.