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Beschreibung von Cod. Guelf. 84.8 Aug. 2°
(Die illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 1: 6. bis 11. Jahrhundert, beschrieben von Stefanie Westphal (in Bearbeitung))

Evangeliar

Weißenburg, Benediktinerkloster (?) — 9. Jh., Mitte/2. Viertel

Provenienz: Über die ältere Provenienz der Handschrift ist nichts bekannt. Der Ledereinband mit Rollverzierung stammt aus dem Jahr 1554 (Neubindung). Das Evangeliar wurde 1658/59 von Herzog August d. Jüngeren für seine Bibliothek erworben (Eintrag im Bücherradkatalog, pag. 5105; Milde Erwerbungsjahre, 115). Im Vorderen Spiegel die Einträge von jüngerer Hand: Codex scriptus seculo 8 vel 9. und Nota bene puta X vel XI l. rectius dixeris. 199v am unteren Blattrand in Urkundenunterschrift des 10. Jh. In nomine domine nostri Jhesu Christi Pius benedixit nobis.

Pergament — 199 Bl. — 26,5 × 19 cm

Lagen: 1 Pergamentvorsatzblatt (ungezählt). IV (8). II (12). IV (20). II (24). 21 (192). IV-I (199). Neuere Tintenfoliierung. Lagenbezeichnungen in römischen Ziffern am mittleren unteren Blattrand auf dem letzten (Lagen I-VII, IX-XVI, XIX, XX, XXII, XXIII, XXV) oder dem ersten Blatt der Lage (Lagen VIII, VII, VIII, XXI, XXIIII, XXVI). Schriftraum: 19,5 × 13 cm, einspaltig, 25 Zeilen; Bl. 1–10, zweispaltig, 27 Zeilen. Karolingische Minuskel von mehreren Händen. Das Lektionar auf 1r-10v von zeitgleicher Hand (Bl. 9 und 10 Hand aus dem 10. Jh.). 199v auf dem unteren Blattrand Urkundenschrift des 10. Jh. Zum ersten Prolog und zum Beginn des Matthäus-Evangeliums jeweils eine Textzierseite in Capitalis Quadrata mit anschließender Capitalis Rustica, Buchstaben farbig hinterlegt (11v und 24v). Incipits und Explicits in roter Capitalis Quadrata, Capitalis Rustica und Unzialis. Angabe der eusebianischen Sektionen bzw. Parallelenstellenverweise am Rand.

Rolleinband 16. Jh. Mit den Motiven: Kreuzigung (mit den Initialen B und S; spiegelverkehrt) - Sündenfall - Auferstehung - Eherne Schlange (mit Datum 1556). Die Kreuzigung bezeichnet mit B und S.

INHALT

1r–10v Lektionar. 11v–199r Evangeliar. 11v 11v Schriftzierseite zum Prolog. 12r–14r Prolog. 14v–20r Kanontafeln. 20r–24r Argumentum (Stegmüller RB, Bd. 1, 590). 24v Schriftzierseite zu Matthäus. 25r–70r Matthäus. 70v–71r Argumentum (Stegmüller RB, Bd. 1, 607). 71r–72r Breviarium. 72v–107v Marcus. 108r–162v Lucas. 163r–199v Johannes.

AUSSTATTUNG

9 Zierinitialen. Kanontafeln.

Kanontafeln: Kanonbögen entweder mit drei (15/16r, 16v/17r, 17v, 19v/20r) oder mit vier (14v/15r, 18r, 18v) hufeisenförmigen Bögen und übergreifenden, der Bogenabfolge entsprechend geschwungenen Umfassungsbögen. Der zweite, äußere Umfassungsbogen schließt rechteckig ab. Basen und Kapitelle bestehend aus gegenständigen doppelkonturierten Palmetten (18v, 19r in Vasen) oder sind architektonisch gestuft (Basen: 14v, 15r, 17v, 18r). Als Füllmotive dienen Flechtband (14v, 17r), Achterschlingen (16v), Knospenfries (14v, 15v, 16r, 19v), Palmettenfries (15r, 15v, 16r, 17r, 18r, 18v, 19r, 19v, 20r), Spiralranke (14v, 15r, 17v,18r, 18v, 19r, 19v, 20r), farbige Segmente (14v, 16v), Schuppenmuster (16v, 19r), Kreise mit Augen (17r, 19r), gereihte S-Formen (17v), gedrehtes Stufenband (18r), Pfeilband (18r), Treppenmuster (18v, 20r). 21,7 × 15,5 cm.

Initialen: Zu den Anfängen der Vorreden und der Evangelientexte 2 rote Federinitialen (12r, 20v und 7 Initialen als gefüllte Hohlbuchstaben - 25r, 70v, 72v, 105r, 108r, 160r, 162v; 3,1–25 cm). 72v der Buchstabenstamm quadrantenweise, diagonal komplementär farbig hinterlegt. Im Besatz kleine Herzblätter (72v), doppelt konturierte, teils gekernte Palmettenstauden (12r, 20v, 70v, 108r - gespiegelt, 160r), Rankenansätze (12r,20v), Sporangien (12r, 70v, 72v, 162v) und Profilblattpalmetten (72v). Alls Füllmotive Knospenfriese (25r, 70v), Flechtband (105r), Seilband (72v, 160r), Kreise im Ausspaarungstypus (105r, 162v), Augen (160r), S-förmige Ranken (162v) und Fische (108r). Als Buchstabenersatz ein Vierfüßer mit verlängerten Ohren (108r - im Kampf mit der Schlange) und ein Fisch (105r). Buchstabenenden in Form von doppelten Blüten mit gekernter Knospe (70v) und fadenförmig eingerollten Rankenansätzen.

Farben: Rot, Grün, Gelb vor pergamentfarbenem oder farbigem Hintergrund. Farben leicht verblasst. Einzelne Flechtband- oder Ornamentdetails farbig hinterlegt.

STIL UND EINORDNUNG

Das Evangeliar 84.8 Aug. 2° mit seiner qualitätvollen Ausstattung blieb in der bisherigen Forschung weitestgehend unberücksichtigt. Lediglich Bischoff und Fischer geben die Lokalisierungen und Datierungen Alemannisch(?), 2. Viertel/Mitte 9. Jh. (Bischoff) und Reichenau (?), 840–850 (Fischer; Bischoff Katalog 3, Nr. 7288.; B. Fischer, Zur Überlieferung des lateinischen Textes der Evangelien, in: Recherches sur l'histoire de la Bible Latine, hrsg. von R. Gryson, P. M. Bogaert (Cahiers de la Revue Théologique de Louvain 19), Louvain-la-Neuve 1987, 51–104, hier 91.). Diese Beurteilungen stehen jedoch ohne Begründungen. Heinemann gab die Handschrift in das 10. Jh., ohne Lokalisierung. Der einheitliche Buchschmuck, Kanontafeln und Initialen, weisen die Handschrift eindeutig als ein südwestdeutsches Erzeugnis aus. Äußerst ähnliche Ausstattung liegt in Codices aus St. Gallen und der Reichenau vor (zu den Skriptorien vgl. 48 Weiss.), wobei in den Vergleichen die Reichenauer Erzeugnisse aus der Zeit des Bibliotekars Reginbertus Augiensis (gest. 846) im Vordergrund stehen. Als verbindende Elemente gelten die Initialform (gefüllte Hohlbuchstaben mit angefügten, fadenförmigen Rankenansätzen - Sporangien), Füllmotive wie S-Formen und Augen, ähnliche Spiralranken, Palmettenfriese, einfache Seilbänder, ähnliche Palmettenstauden und doppelte Blüten als Initialstammendungen (vgl. insbesondere die Reichenauer Abschriften in Karlsruhe, BLB, Cod. Aug. perg. 19 und Karlsruhe, BLB, Cod. Aug. perg. 29, Reichenau, 2. Viertel 9. Jh.; von Euw St. Gallen, Nr. 51 und 52, Abb. 171–182). Einige Unterschiede bestehen jedoch in der Verwendung der Materialien. Auf der Reichenau wurde durchgängig mit reichem Goldauftrag gearbeitet und zudem gerne ein dunkles Blau verwendet. Kräftiges, doppelt gezogenes, goldenes Randband bestimmt, wie bei den St. Galler Handschriften ab dem 2. Drittel des 9. Jh. das Erscheinungsbild der Initialen (beginnend im Wolfcoz-Evangelistar, St. Gallen, StiB, Cod. Sang. 367 - vgl. von Euw St. Gallen, Nr. 35, Abb. 109–122 und Berschin/Kuder Reichenauer Buchmalerei 9. Jh., Nr. III, Abb. 3 - und der Reichenauer Abschrift Karlsruhe, BLB, Cod. Aug. perg. 19), wobei auch die gefüllte Hohlinitiale weiterverwendet wird. Der im Wolfenbütteler Evangeliar auf 72v verwendete Initialtypus mit quadrantenweise ausgeführter farbiger Hinterlegung ist dem Reichenauer Spektrum fremd und hat seine Parallele in Weissenburger Handschriften (vgl. das Evangeliar 61 Weiss., den Otfrid-Autograph 77 Weiss., Weissenburg, Mitte 9. Jh. und 48 Weiss., Weissenburg, 2. Viertel/Mitte 9. Jh.). Diese Ausstattungsweise gelangte vermutlich über Fuldaer Einflüsse in das Formenspektrum des Skriptoriums (vgl. 61 Weiss.). Das Nebeneinander von Initialstilen, wie in 84.8 Aug. 2°, ist ebenfalls aus Weißenburger Handschriften des 2. Viertels des 9. Jahrhunderts bekannt (vgl. 48 Weiss.). Auch hier dominiert die Zusammenstellung von Initialen, die auf der einen Seite den Stilrichtungen aus St. Gallen und der Reichenau folgen und auf der anderen Seite aber Fuldaer Traditionen aufnehmen (vgl. 61 Weiss.). Zahlreiche Füllmotive des Evangeliars finden sich bereits in Weissenburger Handschriften aus dem 1. Viertel des 9. Jh., es sind dies die Spiralranke (vgl. 10 Weiss., 37v), Punkte im Aussparungstypus (vgl. 81 Weiss., 7r; 3 Weiss., 87v; 18 Weiss., 32v), kreisrunde Augen (vgl. 3 Weiss., 2r; 72 Weiss., 10v) und das gedrehte Stufenband (vgl. 18 Weiss., 25r und 67 Weiss., 39v). Ähnliche Motive, im Detail leicht variierend, finden sich in den Reichenauer Handschriften desselben Zeitraums (vgl. Karlsruhe, BLB, Cod. Aug. perg. 87, Karlsruhe, BLB, Cod. Aug. perg. 26 und Karlsruhe, BLB, Cod. Aug. perg. 103; von Euw St. Gallen, Nr. 48–50, Abb. 164–170). Obwohl das Ornamentrepertoire und Teile der Initialformen nachweisbar enge Parallelen zur Reichenauer Buchmalerei, speziell unter Reginbert aufweisen, lassen Lösungen im Detail sowie das erweiterte Initialspektrum die Weissenburger Herkunft der Handschrift vermuten. Der bereits fortschrittliche, detailfreudige Initialstil (bes. 162v) veranlasst zu einer Datierung gegen Mitte des 9. Jh. Dass ein enger Kontakt vom Kloster Weißenburg zur Reichenau bestand, davon ist auszugehen. Noch bevor Grimald das erste Mal das Abtamt in Weißenburg übernahm, besuchte er dort die Klosterschule des Inselklosters, wo er besonders geschätzt wurde, wie Widmungen des Walahfrid Strabo an ihn unterstreichen (vgl. D. Geuenich, Beobachtungen zu Grimald von St. Gallen, Erzkapellan und Oberkanzler Ludwigs des Deutschen, in: Litterae medii aevi. festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, hrsg. von M. Borgolte, H. Spilling, Sigmaringen 1988, 55–68, hier 60f.

Wolfenbüttel Aug., Nr. 2874 (Heinemann Nr.) — T. Klauser, Das römische Capitulare Evangeliorum. Texte und Untersuchungen zu seiner ältesten Geschichte, Münster 1935, LXIX-LXX. — B. Fischer, Zur Überlieferung des lateinischen Textes der Evangelien, in: Recherches sur l'histoire de la Bible Latine, hrsg. von R. Gryson, P. M. Bogaert (Cahiers de la Revue Théologique de Louvain 19), Louvain-la-Neuve 1987, 51–104, hier 91. — Bischoff Katalog 3, Nr. 7288. — Westphal Buchmalerei Weißenburg, 366f., 369.


Abgekürzt zitierte Literatur

Berschin/Kuder Reichenauer Buchmalerei 9. Jh. W. Berschin, U. Kuder, Reichenauer Buchmalerei im IX. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 164 (2016), 1-20
Bischoff Katalog 3 B. Bischoff, Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen), Teil 3: Padua–Zwickau, aus dem Nachlass hrsg. von B. Ebersperger, Wiesbaden 2014
Heinemann O. von Heinemann, Die Helmstedter Handschriften, Bd. 1–3, Wolfenbüttel 1884–1888, ND Frankfurt/M. 1963–1965 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe 1–3)
Milde Erwerbungsjahre W. Milde, Die Erwerbungsjahre der Augusteischen Handschriften der Herzog August Bibliothek, Supplement zum Katalog von Otto Heinemann "Die Augusteischen Handschriften" Bd. 1-5, Wolfenbüttel 1890-1903, in: Wolfenbütteler Beiträge 14 (2006), 73-144
Stegmüller RB F. Stegmüller, Repertorium biblicum medii aevi, Bd. 1–11, Madrid 1950–1980
von Euw St. Gallen A. von Euw, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, 2 Bde., St. Gallen 2008
Westphal Buchmalerei Weißenburg S. Westphal, Karolingische Buchmalerei aus dem elsässischen Kloster Weißenburg, in: Die Handschriften der Hofschule Karls des Großen. Individuelle Gestalt und Europäisches Kulturerbe, Tagung Trier 2018, Trier 2019, 357–391
Wolfenbüttel Aug. Die Augusteischen Handschriften, beschrieben von O. von Heinemann, Teil 1-5, Frankfurt/M. 1890–1903, ND 1965–1966 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe 4–8)

Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Teil I (6.–11. Jh.).
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