Das vorliegende Homiliar wurde von Butzmann ins 12. Jh. datiert und jeweils mit Fragezeichen nach Südwestdeutschland oder Ostfrankreich lokalisiert (
Butzmann Weißenburg
, 80–86). Hoffmann hingegen erkannte die italienische Schrift als Romanesca, sprach sich dementsprechend für die 2. Hälfte des 11. Jh. und Mittelitalien aus (
Hoffmann Italienische Handschriften
, 66). Vergleiche des Buchschmucks bestätigen die Einordnung Hoffmanns und lenken den Blick nach Mittelitalien. Hier orientierte sich die Buchmalerei ab der Mitte des 11. Jh. bis ins 1. Viertel des 12. Jh. im Stil an frühromanischen Handschriften, die aus dem nordalpinen Raum in italienische Klöster gelangten und dort als Vorlagen verwendet wurden (hierzu ausführlich
W. Augustyn, Italien, in: Geschichte der Buchkultur, Bd. 4,2, Romanik, hrsg. von A. Fingernagel, 9–79, hier 20–30). Neben der Rezeption ottonischer Elemente, insbesondere aus der Buchmalerei des deutschsprachigen Raums, wurden jedoch bis zum 12. Jh. auch Initialformen des Frühmittelalters, bestehend aus Fisch- und Vogelkörpern verwendet. Besonders hervorzuheben sind die Klöster Farfa, Kloster Santa Scolastica Subiaco und römische Klöster, wie Santi Andrea e Gregorio sowie Santa Caecilia in Trastevere, die mit der Erstellung von Handschriften betraut waren. Stilistische Differenzierungen sind nur bedingt möglich, da die Skriptorien in der Forschung bisher kaum aufgearbeitet wurden.
Aus der qualitativ sehr heterogenen Ausstattung der Handschrift stechen 2 besonders gut arbeitende Hände hervor (s.o.). Sie und auch weitere Hände stellen imposante Vierbeiner (Löwen, Wölfe und Hunde) in den Initialzusammenhang (vgl. 1r, 34v, 38r, 51v, 71v). Der Blattbesatz und die Ranken sind uneinheitlich, teils dicht gesetzt mit kurzen Trieben, teils mit üppigen Palmetten. Äußerst ähnliche Initialen sowie das Nebeneinander derselben Stilausprägungen zeigen 2 römische Passionale aus dem späten 11. Jh. ([Rom, BAV, Arch. Cap. S. Pietro A 4](https://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.A.4/0001) und [Rom, BAV, Arch. Cap. S. Pietro A 5](https://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.A.5/0001);
Garrison Italian painting
, Bd. 1, 24 Anm. 24; vgl. 1 Weiss. 5r, 51v, 67r). Im Detail finden sich zudem Parallelen zu Handschriften einer römischen Handschriftengruppe, die in den 60er und 70er Jahren in Santa Cecilia in Trastevere geschrieben und ausgestattet worden sind. Zugehörig zu dieser Gruppe sind das Graduale [Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 74](https://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/fmb/cb-0074) (zur Handschrift vgl.
H. François, Les manuscrits liturgiques du canton de Genève, Freiburg 1990,
(Iter Helveticum, Subsidia 19), 463–469; Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters bis 1550, Bd. II, Die Handschriften der Bibliotheken Bern-Porrentruy, bearbeitet von B. M. von Scarpatetti, Dietikon-Zürich 1983, Nr. 111, 46.), das Evangeliar [Florenz, BML, Cod. Plut. 17.27], eine Bibel (1987 auf einer Auktion in London versteigert;
C. de Hamel, Western Manuscripts and Miniatures, Sotheby's Auction Catalogue, 23. Juni 1987, London 1987, 74–83, lot 72) und ein Haimo-Kommentar zu den Paulusbriefen ([Oxford, BodL, MS. Add. D. 104](https://digital.bodleian.ox.ac.uk/objects/8cc3541a-df9d-4c14-a15e-e0501640f6fe/); zur Gruppe vgl.
L. M. Ayres, Sources for the Renewal in Manuscript Illumination at Santa Cecilia in Trastevere in the Early Romanesque Period, in: Scrinium Berolinense, Tilo Brandis zum 65. Geburtstag, hrsg. von P. J. Becker, Wiesbaden 2000, 29–42). Verbindende Elemente sind die im Flechtwerk verwendeten Reifen mit Punktreihung (11v: vgl. [Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 74](https://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/fmb/cb-0074), 79v), die zotteligen Vierbeiner (vgl. 34v, 192v: [Oxford, BodL, MS. Add. D. 104](https://digital.bodleian.ox.ac.uk/objects/8cc3541a-df9d-4c14-a15e-e0501640f6fe/)) sowie die in 1 Weiss. begonnene Seitenrahmung der am Beginn stehenden Initialzierseite auf 1r (vgl. hierfür die gerahmten Initialzierseiten des Graduale [Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 74](https://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/fmb/cb-0074)). Für die leinenbindige Ausprägung des Flechtbandes finden sich Vergleichsbeispiele in folgenden italienischen Handschriften aus der 2. Hälfte des 11. Jh.: [München, BSB, Clm 17181], 96r, Mittelitalien, 11. Jh., 2. Hälfte und [Rom, BAV, Vat. lat. 576](https://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.lat.576/0001), 104v, Unteritalien, spätes 11. Jh. (vgl.
Bauer-Eberhardt, Ill. Hss. italienischer Herkunft 1
, Nr. 13, Abb. 268; freundl. Auskunft U. Bauer-Eberhardt). Die Vergleiche zu römischen Handschriften legen eine Lokalisierung der Handschrift dorthin nahe, zumal bereits Garrison darauf hinwies, dass gerade römischen Handschriften, wohl aufgrund der hohen Nachfrage, eine gewisse Sorgfalt vermissen lassen (Garrison Italian painting, Bd. 1, 23f.). Ein Vorgehen, das insbesondere in der 2. Hälfte der Wolfenbütteler Handschrift deutlich zutage tritt.