Graduale - Hymnar
St. Gallen, Benediktinerkloster — 1027–1032
Provenienz: Auf der Innenseite des Deckels Schriftreste von ehemals aufgeklebten Pergamentstücken. Die Handschrift gelangte 1597 mit der Sammlung des Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) nach Wolfenbüttel. 1610 wurde sie von Michael Praetorius gebraucht (Eintrag 1r), dann 1618 an die Helmstedter Universität übergeben. Anschließend gelangte sie, nach deren Aufhebung (1809/1810), wieder zurück in die Herzog August Bibliothek (vgl. , Die Handschriften des Bischofs Sigebert von Minden, in: Lectionarium Berlin, Ehem. Preußische Staatsbibliothek, Ms. theol. lat. qu. I. Farbmikrofiche-Edition, München 1993 [Codices illuminati medii aevi 18], 19).
Pergament — 282 Bl. — 20 × 14 cm
Lagen: 26 IV (208). II (212). 4 IV (244). V (254). II (258). 3 IV (282). Neuere Tintenfoliierung. Schriftraum: 12,5 × 10,4 cm, einspaltig, 13 Zeilen. Karolingische Minuskel von drei Händen. Hand A: 2r–88v, 90r–95v, 97r–112v, 137r–160v, 169r–172r Z. 1 (?), 174r–176v, 179r–182v, 186r–191v, 193r–210v; Hand B: 89r–v, 96r–v, 113r–136v, 161r–168v, 172r Z. 3–173v, 177r–178v, 183r–185v, 192r–v, 211r–213r, 243v–255v Z. 9, 257r–281r; Hand C: 214r–242v - ausgenommen 214r Z. 8. Nach Hoffman ist Hand A identisch mit der Hand des Hymnars Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. oct. 1 (zur Handschrift: , Nr. 154; zur Händescheidung: , 398). Nachträge auf 255v Z. 10–256r und 282v von einer Mindener Hand, ähnlich Hand B aus Cod. Guelf. 61 Aug. 8° (vgl. , 397). Lektionseinleitungen in Unzialis und Capitalis Rustica in Minium, teils goldschattiert. Zu Sonn- und Feiertagen in Größe abgestufte Initialeinleitung. Textanfänge in tintenfarbigen Majuskeln. Durchgängige Neumierung über den Minuskeln.
Holzeinband mit offenem Rücken und ohne Überzug und mit Lederbändern (Werkstatt Schoy, Essen, 1958).
INHALT
1v–242v Graduale. 243v–281v Antiphonen, Versus, Hymnen (243v–266r Antiphonen, 266r–271r Feriae; 271v–280v Versus; 280v–281r Hymnen; 281v–282r leer; 282v Zusatz [Minden, 11. Jh.], zu den Texten vgl. ausführlich , 520–521).
AUSSTATTUNG
19 Initialen.Initialen: Zu den Textanfängen Goldrankeninitialen mit roter Kontur (1v, 2r, 18v, 29v, 42v, 56r, 81r, 101v, 126v, 132v, 142v, 161r, 164v, 175r, 179r, 191r, 195r, 212r, 214r; 1,5–7,5 cm). Die breiten Goldrandleisten der Initialen gelegentlich in gliedernde Knoten gelegt (vgl. 132v), Initialstämme mit Miniumfüllung. Die Binnenfelder werden von dicht geführten Ranken mit Knollenblättern gefüllt. Gelegentlich Dreier- (vgl. 81r) oder Viererblätter (1v) der Initiale an Fäden angefügt. Die Initialen mit blauen Binnengründen; 2r mit blauem, lappigem Umriss.
Farben: Kräftiger Goldauftrag, Himmelblau, Minium.
STIL UND EINORDNUNG
Die Handschrift wurde in den Jahren 1027–1032 in St. Gallen angefertigt. Die Datierung erfolgt durch die Nennung von Personen in den Laudes regiae (256v–258v): Papst Johannes XIX. (1024–1033), Kaiser Konrad II. (1027–1039), Kaiserin Kunigunde (1014–1033), Kaiserin Gisela (1027–1043), Erzbischof Pilgrim von Köln (1021–1036) und Bischof Sigebert von Minden (1022–1036).
Das Wolfenbütteler Graduale gehört zu einer Gruppe von Handschriften, die unter Abt Thietpalt von St. Gallen (1022–1034) vor Ort für Bischof Sigebert von Minden (1022–1036) geschrieben und illuminiert worden sind (zur Gruppe vgl. Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. fol. 2), ein Tropar-Hymnar (Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 11, z. Zt. Kraków, Biblioteka Jagiellonska, Depositum), ein Epistolar (Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 1 z. Zt. Kraków, Biblioteka Jagiellonska, Depositum), ein Hymnar (Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. oct. 1), ein Evangelistar (Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3), ein Hymnar-Antiphonar (Cod. Guelf. 1151 Helmst, Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3 Fragm., Berlin, SBBPK, Ms. germ. qu. 42, Einband) und ein weiteres Graduale (Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 15). Inhalt, Schrift und Ausstattung (auch Buchdeckel) lassen vermuten, dass die Codices zum Messornat des Bischofs gehört haben. Die ältere Forschung schrieb den Ornat einer Mindener Lokalschule zu ( , Die Mindener Bilderhandschriftengruppe, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 16 [1893], 198–213; , Bd. 2, 10, 44, Nr. 145–147; , Schöne Handschriften aus dem Besitz der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1931, 44–48, Nr. 21–23). Paläographische Beobachtungen führten anschließend zu einer St. Galler Verortung ( , Monumenta Palaeographica. Denkmäler der Schreibkunst in lateinischer und deutscher Sprache, Bd. 2, Liefg. 21–22; , 374–376, 398–399), die für die Gruppenzusammenstellung bei von Euw grundlegend ist. Für das Wolfenbütteler Graduale bemerkte von Euw textliche Zusammenhänge zum St. Galler Hartker-Antiphonar (Gräzismen in der Liturgie zur Kreuzverehrung am Karfreitag, 116v–117r, und zum Besuch des Grabes am Ostersonntag, 126r; vgl. St. Gallen, StiB, Cod. Sang. 390–391 (Hartker-Antiphonar), Sommer- und Winterteil, 990–1000 - , Nr. 143), sowie weitere, für St. Gallen typische Nennungen von Heiligen ( , 245).
, 241–251, Nr. 149–156). Es handelt sich um ein Sakramentar (Der Buchschmuck sämtlicher Handschriften der Gruppe ist weitestgehend übereinstimmend. Als vereinheitlichende Merkmale gelten der Initialstil und die Farbgebung (insbesondere die blaue Hinterlegung). Von Euw konnte nachweisen, dass Einflüsse aus Regensburg und Tegernsee erfolgten, die sich u.a. im eng angelegten Flechtwerk erkennen lassen (vgl. München, BSB, Clm 13601 (Uta-Evangelistar), Regensburg, 11. Jh., 1. Viertel; , Nr. 18, Abb. IV-V, 36–41 und Evangeliar des Abtes Ellinger von Tegernsee München, BSB, Clm 18005, Tegernsee, um 1035–1040; , Nr. 114, Abb. XII, 224–235). Für die Wolfenbütteler Handschrift und für das zeitgleich entstandene Berliner Graduale (Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 15) mit seinem Buchschmuck derselben Stilstufe, ergeben sich besonders enge Parallelen zum frühen Hartker-Antiphonar (vgl. hier insbesondere die Buchstabenbilder des A(d te levavi) - 2r und Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 15, 2r mit St. Gallen, StiB, Cod. Sang. 390–391 (Hartker-Antiphonar), p. 15).
Das Wolfenbütteler Graduale und die gesamte Gruppe der Mindener Handschriften wirken in St. Gallen, im 3. Viertel des 11. Jh. weiterhin stilbildend. Der Initialstil wird hier mit etwas freier angelegten, weniger dicht wirkenden Rankenverläufen weiterentwickelt (vgl. Tropar-Sequentiar des Notker Balbulus St. Gallen, StiB, Cod. Sang. 380, 1050/1060 und Graduale-Sakramentar St. Gallen, StiB, Cod. Sang. 340, 1050/1075; , Nr. 161 und 164).
, Die Mindener Bilderhandschriftengruppe, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 16 (1893), 198–213, hier 206. — , Nr. 1110 (Heinemann Nr.). — , 276. — , 520, Nr. 207, Abb. 176. — , Die Handschriften des Bischofs Sigebert von Minden, in: Scriptorium. Revue internationale des études relatives aux manuscrits 25 (1971), 162, Bull. Cod. Nr. 269. — , Einige Fragen zum Mindener Kreuz und die Adoratio Crucis des Bischofs Sigebert, in: Zwischen Dom und Rathaus. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Minden, im Auftr. der Stadt Minden von Hans Nordsiek, Minden 1977, 61–70. — , Die Missa Illyrica und die Adoratio Crucis von Minden, in: Wolfenbütteler Beiträge. Aus den Schätzen der Herzog August Bibliothek 3 (1978), 35–42. — , 376, 397–398, Abb. 215. — , Bd. 1,1.2, 580. — , Cod. Guelf. 1008 Helmst., Graduale aus Minden, in: Wolfenbütteler Cimelien. Das Evangeliar Heinrichs des Löwen in der Herzog August Bibliothek, Weinheim 1989, 96–101 (mit Abbildungen). — , 504. — , 19. — , Das Autorenbild im Epistolar Cod. Sang. 371 der Stiftsbibliothek St. Gallen, in: Codices Sangallenses. Festschrift für Johannes Duft zum 80. Geburtstag. hrsg. von , , Sigmaringen 1995, hier 100. — , Zur Rezeption ottonischer Buchmalerei in Italien im 11. und 12. Jahrhundert, St. Ottilien 1997 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, Ergänzungsband 39), hier 59 Anm. 59, 191 Anm. 113. — , Liturgischer Gesang und gesungene Dichtung im Kloster St. Gallen, in: Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, hrsg. von , Darmstadt 1999, 137–165, hier Anm. 29. — , St. Galler Kunst im frühen und hohen Mittelalter, in: Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, hrsg. von , Darmstadt 1999, 167–204, hier 198. — , 74–75. — , 245. — , Bd. 1, 199. — , Nr. 85 ( ). — , Nr. 153, Abb. 786–787. — , Das Mindener Graduale der HAB Wolfenbüttel, Codex Guelf. 1008 Helmst. Beobachtungen zur liturgischen und musikalischen Überlieferung, in: Schriftkultur und religiöse Zentren im norddeutschen Raum, hrsg. von , und , Wiesbaden 2014 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, Bd. 24), 227–268. — , 346 (Nr. 288).
Abgekürzt zitierte Literatur
Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Teil I (6.–11. Jh.).