Orationale
St. Gallen, Benediktinerkloster — 1022–1036
Provenienz: Die Handschrift ist in der jüngeren Chronik des Mindener Bischofs Heinrich Tribbe (um 1410–1464) genannt Tertium continet orationes singulares et praeparatoria ad missam in quo dicti episcopi effigies intra librum pulchreet artificiose est depicta ex teriusque de ebore sculpta et ab aliis duabus imaginibus suffulta et sublevata. Versus: Nomine sacro tuo, sigeberte, dicatur imago, quae suffulta suo praesidet officio ( , 12). Noch in Minden dürfte der Handschrift ein Einzelblatt mit Miniatur entnommen worden sein (heute Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3 Fragm.; , Nr. 129 [G. Suckale-Redlefsen]; , 524, 250). Dies gilt ebenso für das in Berlin aufbewahrte Elfenbein des Einbandes, welches bis 1977 das Gebetbuch der Herzogin Maria von Geldern schmückte (Berlin, SBBPK, Ms. theol. germ. qu. 42, Einband; , Nr. 129 [G. Suckale-Redlefsen]). Beides ist in der Bischofschronik im Zusammenhang mit der Handschrift erwähnt. Sie wurde von dem lutheranischen Kirchenhistoriker Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) in Minden ausgeliehen, dessen Bibliotheksreise für das Jahr 1555 zu rekonstruieren ist (vgl. , 413). In der Annahme, im ersten Teil der Handschrift ein Messbuch mit einer vorkarolingischen Form der Messfeier entdeckt zu haben, veröffentliche Flacius den Text in seiner "Missa Illyrica", die 1557 in Straßburg erschien. Aus seinem Nachlass gelangte die Handschrift über einen Rückkauf des Braunschweiger Herzogs (1597) an die Universität Helmstedt (1618) und nach deren Aufhebung 1815 wieder zurück nach Wolfenbüttel (zu Flacius und seinen Ankäufen vgl. , XX).
Pergament — 121 Bl. — 16,2 × 11,8 cm
Lagen: IV-1 (7). 11 IV (99). III+1 (106). IV-1 (113). IV (121). Neuere Bleistiftfoliierung. 103–121 ältere Tintenfoliierung unten rechts auf recto. Schriftraum: 11,5 × 9 cm, einspaltig, 15 Zeilen. Karolingische Minuskel von zwei Händen. Hand A: Bl. 1–121. Hand B: Bl. 100r–105v. Von Hand A auch die Berliner Codices Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3 und Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 11 ( , 398). Erste Zeilen der Titelzierseite 1r und der weiteren Textanfänge in Capitalis. Text der Textzierseite und Incipits in Capitalis Rustica. Capitalis und hervorgehobene Satzmajuskeln mit Gold schattiert.
Neuzeitlicher Ganzledereinband: Pappdeckel überzogen mit dunkelbraun gefärbtem Schafsleder überzogen. Einfache Linienverzierungen in Blindpressung. Zwischen 1764 und 1785 in der Werkstatt des Buchbinders Anton Friedrich Wirck in Helmstedt angefertigt (vgl.
, XLVII). Die Handschrift besaß ursprünglich einen Einband mit Elfenbeinrelief (heute Berlin, SBBPK, Ms. theol. germ. qu. 42, Einband; , Nr. 131 [G. Suckale-Redlefsen]). Das Relief zeigt Bischof Sigebert von Minden mittig stehend in Pontifikaltracht, über den Handgelenken zwei verzierte Manipel. Ihm zur Seite flankierend zwei kleinere Geistliche in Messgewändern, mit offenem (zu seiner Rechten) und geschlossenem (zu seiner Linken) Buch in den Händen und auf Hügeln stehend. Zu Sigeberts Füßen breiten zwei Ministranten ein Tuch aus. Oben links das Lamm Gottes, oben rechts die Taube des Heiligen Geistes. 14 × 7 cm.INHALT
Orationale. (1r–14r) Apologien. 1r Titelzierseite; 1v–6v Gebete; 6v–14r Ankleide-Ritus. (14r–101r) Ordo de officio missae Der Text liegt gedruckt vor in der Ausgabe Missa latina, quae olim ante Romanam circa 700 domini annum in usum fuit, bona fide ex vetusto authenticoque codice descripta, Straßburg 1557 von Matthias Flacius Illyricus (1081.7 Theol. (4)). (101v–121v) Gebete und Orationes.
AUSSTATTUNG
3 Initialen. Miniatur (heute Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3 Fragm.).Initialen: Zu den Textanfängen Goldrankeninitialen mit dichten Verflechtungen und Verknotungen im Buchstabenschaft (1r, 32v, 57r). Als Endmotive Knollenblätter. Details in Minium. Die Initialen mit blauen Binnengründen, 1r mit blauem, lappigem Umriss. 2,2–6,7 cm.
Miniatur (heute: Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3 Fragm.), Bischof Sigebert von Minden. Der Bischof thront auf einem Faltstuhl mit Löwenköpfen und ist bekleidet mit Pontifikalgewändern und dem darüberliegenden goldenen Pontifikale; auf seinem Schoß befindet sich ein aufgeschlagenes Buch. Wie bei einer Pontifikalmesse wird er rechts von einem Diakon mit aufgeschlagenem Buch und links von einem Priester mit geschlossenem Buch flankiert. Im Rahmen der Miniatur die Inschrift Nomine sacra tuo Sigberte dicatur imago. Quae suffulta suo presidet officio. Die Inschrift wird von einer Hand des 14. Jh. am oberen Blattrand wiederholt. Blatt: 12 × 9 cm.
STIL UND EINORDNUNG
Die kleine Handschrift im Oktavformat war ursprünglich mit zwei Bildnissen geschmückt (vgl. Miniatur/Einband und Provenienz), die beide Sigebert von Minden in Ornat zeigen (Miniatur: sitzender Bischof im Messgewand mit geöffnetem Sakramentar auf dem Schoß, flankiert von einem Priester und einem Diakon; Elfenbein: stehender Bischof im Ornat flankiert von zwei Geistlichen - zu den Darstellungen vgl. ausführlich , 524, 250). Ebenso wie Cod. Guelf. 1008 Helmst. gehört auch 1115 Helmst. zu den Handschriften, die unter Abt Thietpalt von St. Gallen (1022–1034) vor Ort für Bischof Sigebert von Minden (1022–1036) geschrieben und illuminiert worden sind (zur Gruppe und ihrem Initialstil vgl. Cod. Guelf. 1008 Helmst.). Zwei weitere Handschriften dieser Gruppe besitzen ebenfalls noch erhaltene Elfenbeine zu Einbänden, die der Mindener Domherr Heinrich Tribbe (um 1410–1464) um 1460 in der Mindener Bischofschronik erwähnt ( , Mindener Geschichtsquellen, Bd. 1: Die Bischofschroniken des Mittelalters, Münster 1917 [Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Provinz Westfalen 4,1], 127–134; es betrifft die Handschriften Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. oct. 1 [Hymnar] und Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. fol. 2 [Sakramentar]; , Nr. 154, 156 und 250–253). Ursprünglich waren die Einbände wohl zusätzlich mit Goldschmiedearbeiten und Steinschmuck besetzt, Arbeiten, die programmatisch auch in Zusammenhang mit St. Gallen gestanden haben dürften. Die stilistische Übereinstimmung der Elfenbeintafel und der Miniatur des vorliegenden Orationale veranlasste von Euw, die ausführende Elfenbeinwerkstatt ebenfalls nach St. Gallen zu lokalisieren (vgl. , 250, 251; eine Zusammenstellung der Mindener Gruppe bei , 10, 44, Nrn. 145–147). Suckale-Redlefsen sieht diese Zusammenhänge nicht und verweist auf stilistische Parallelen zu Darstellungen Heinrichs II., wie dem Krönungsbild des Regensburger Sakramentars (München, BSB, Clm 4456 (Sakramentar Heinrichs II.), Regensburg, nach 1002; , Nr. 112 [G. Suckale-Redlefsen]) oder dem Bamberger Pontifikale (Bamberg, SB, Msc. Lit. 53, Salzburg (?), um 1020; , Nr. 117 [G. Suckale-Redlefsen])., Die Mindener Bilderhandschriftengruppe, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 16 (1893), 198–213, hier 201–203. — , Alter und Herkunft der sogenannten Missa Illyrca, in: Stimmen aus Maria Laach 69 (1905), 143–155. — , Nr. 1258 (Heinemann Nr.). — , Nr. 145. — , 375, 398, Abb. 216. — , 507. — , 51. — , 12f. — , Das Autorenbild im Epistolar Cod. Sang. 371 der Stiftsbibliothek St. Gallen, in: Codices Sangallenses. Festschrift für Johannes Duft zum 80. Geburtstag. hrsg. von , , Sigmaringen 1995, hier 100. — , Bibeltext und Schriftstudium in St. Gallen, in: Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, hrsg. von P. Ochsenbein, Darmstadt 1999, 119–136, hier Anm. 78. — , St. Galler Kunst im frühen und hohen Mittelalter, in: Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, hrsg. von P. Ochsenbein, Darmstadt 1999, 167–204, hier 198. — , Nr. 68. — , Sacerdotal spirituality at mass. Text and study of the prayerbook of Sigebert of Minden (1022–1036), Ann Arbor 1992, 32–37, 42–45, 82–459, 468–482. — , Early medieval prayers addressed to the Trinity in the Ordo Missae of Sigebert of Minden, in: Traditio 51 (1996), 179–200. — , 91, 107, 108, 129, 132, 245. — , Nr. 132 ( ). — The Leofric Missal, Bd. 1: Introduction, collation table and index, hrsg. von , London 2002 (Henry Bradshaw Society 113), 34, 135, 137, 147f. — , Nr. 81 ( ). — , Nr. 155, 243, 250, 263, 272.
Abgekürzt zitierte Literatur
Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Teil I (6.–11. Jh.).