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Beschreibung von Cod. Guelf. 1151 Helmst.
Die illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 1: 6. bis 11. Jahrhundert, beschrieben von Stefanie Westphal (in Bearbeitung)

Orationale

St. Gallen, Benediktinerkloster — 1022–1036

Provenienz: Die Handschrift ist in der jüngeren Chronik des Mindener Bischofs Heinrich Tribbe (um 1410–1464) genannt Tertium continet orationes singulares et praeparatoria ad missam in quo dicti episcopi effigies intra librum pulchreet artificiose est depicta ex teriusque de ebore sculpta et ab aliis duabus imaginibus suffulta et sublevata. Versus: Nomine sacro tuo, sigeberte, dicatur imago, quae suffulta suo praesidet officio (Milde Handschriften Sigeberts, 12). Noch in Minden dürfte der Handschrift ein Einzelblatt mit Miniatur entnommen worden sein (heute Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3 Fragm.; Kaiser Heinrich II., Nr. 129 [G. Suckale-Redlefsen]; von Euw St. Gallen, 524, 250). Dies gilt ebenso für das in Berlin aufbewahrte Elfenbein des Einbandes, welches bis 1977 das Gebetbuch der Herzogin Maria von Geldern schmückte (Berlin, SBBPK, Ms. theol. germ. qu. 42, Einband; Kaiser Heinrich II., Nr. 129 [G. Suckale-Redlefsen]). Beides ist in der Bischofschronik im Zusammenhang mit der Handschrift erwähnt. Sie wurde von dem lutheranischen Kirchenhistoriker Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) in Minden ausgeliehen, dessen Bibliotheksreise für das Jahr 1555 zu rekonstruieren ist (vgl. Divina officia, 413). In der Annahme, im ersten Teil der Handschrift ein Messbuch mit einer vorkarolingischen Form der Messfeier entdeckt zu haben, veröffentliche Flacius den Text in seiner "Missa Illyrica", die 1557 in Straßburg erschien. Aus seinem Nachlass gelangte die Handschrift über einen Rückkauf des Braunschweiger Herzogs (1597) an die Universität Helmstedt (1618) und nach deren Aufhebung 1815 wieder zurück nach Wolfenbüttel (zu Flacius und seinen Ankäufen vgl. Lesser Geschichte, XX).

Pergament — 121 Bl. — 16,2 × 11,8 cm

Lagen: IV-1 (7). 11 IV (99). III+1 (106). IV-1 (113). IV (121). Neuere Bleistiftfoliierung. 103–121 ältere Tintenfoliierung unten rechts auf recto. Schriftraum: 11,5 × 9 cm, einspaltig, 15 Zeilen. Karolingische Minuskel von zwei Händen. Hand A: Bl. 1–121. Hand B: Bl. 100r105v. Von Hand A auch die Berliner Codices Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3 und Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 11 (Hoffmann Buchkunst, 398). Erste Zeilen der Titelzierseite 1r und der weiteren Textanfänge in Capitalis. Text der Textzierseite und Incipits in Capitalis Rustica. Capitalis und hervorgehobene Satzmajuskeln mit Gold schattiert.

Neuzeitlicher Ganzledereinband: Pappdeckel überzogen mit dunkelbraun gefärbtem Schafsleder überzogen. Einfache Linienverzierungen in Blindpressung. Zwischen 1764 und 1785 in der Werkstatt des Buchbinders Anton Friedrich Wirck in Helmstedt angefertigt (vgl. Lesser Geschichte, XLVII). Die Handschrift besaß ursprünglich einen Einband mit Elfenbeinrelief (heute Berlin, SBBPK, Ms. theol. germ. qu. 42, Einband; Kaiser Heinrich II., Nr. 131 [G. Suckale-Redlefsen]). Das Relief zeigt Bischof Sigebert von Minden mittig stehend in Pontifikaltracht, über den Handgelenken zwei verzierte Manipel. Ihm zur Seite flankierend zwei kleinere Geistliche in Messgewändern, mit offenem (zu seiner Rechten) und geschlossenem (zu seiner Linken) Buch in den Händen und auf Hügeln stehend. Zu Sigeberts Füßen breiten zwei Ministranten ein Tuch aus. Oben links das Lamm Gottes, oben rechts die Taube des Heiligen Geistes. 14 × 7 cm.

INHALT

Orationale. (1r14r) Apologien. 1r Titelzierseite; 1v6v Gebete; 6v14r Ankleide-Ritus. (14r101r) Ordo de officio missae Der Text liegt gedruckt vor in der Ausgabe Missa latina, quae olim ante Romanam circa 700 domini annum in usum fuit, bona fide ex vetusto authenticoque codice descripta, Straßburg 1557 von Matthias Flacius Illyricus (1081.7 Theol. (4)). (101v121v) Gebete und Orationes.

AUSSTATTUNG

3 Initialen. Miniatur (heute Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3 Fragm.).

Initialen: Zu den Textanfängen Goldrankeninitialen mit dichten Verflechtungen und Verknotungen im Buchstabenschaft (1r, 32v, 57r). Als Endmotive Knollenblätter. Details in Minium. Die Initialen mit blauen Binnengründen, 1r mit blauem, lappigem Umriss. 2,2–6,7 cm.

Miniatur (heute: Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. qu. 3 Fragm.), Bischof Sigebert von Minden. Der Bischof thront auf einem Faltstuhl mit Löwenköpfen und ist bekleidet mit Pontifikalgewändern und dem darüberliegenden goldenen Pontifikale; auf seinem Schoß befindet sich ein aufgeschlagenes Buch. Wie bei einer Pontifikalmesse wird er rechts von einem Diakon mit aufgeschlagenem Buch und links von einem Priester mit geschlossenem Buch flankiert. Im Rahmen der Miniatur die Inschrift Nomine sacra tuo Sigberte dicatur imago. Quae suffulta suo presidet officio. Die Inschrift wird von einer Hand des 14. Jh. am oberen Blattrand wiederholt. Blatt: 12 × 9 cm.

STIL UND EINORDNUNG

Die kleine Handschrift im Oktavformat war ursprünglich mit zwei Bildnissen geschmückt (vgl. Miniatur/Einband und Provenienz), die beide Sigebert von Minden in Ornat zeigen (Miniatur: sitzender Bischof im Messgewand mit geöffnetem Sakramentar auf dem Schoß, flankiert von einem Priester und einem Diakon; Elfenbein: stehender Bischof im Ornat flankiert von zwei Geistlichen - zu den Darstellungen vgl. ausführlich von Euw St. Gallen, 524, 250). Ebenso wie Cod. Guelf. 1008 Helmst. gehört auch 1115 Helmst. zu den Handschriften, die unter Abt Thietpalt von St. Gallen (1022–1034) vor Ort für Bischof Sigebert von Minden (1022–1036) geschrieben und illuminiert worden sind (zur Gruppe und ihrem Initialstil vgl. Cod. Guelf. 1008 Helmst.). Zwei weitere Handschriften dieser Gruppe besitzen ebenfalls noch erhaltene Elfenbeine zu Einbänden, die der Mindener Domherr Heinrich Tribbe (um 1410–1464) um 1460 in der Mindener Bischofschronik erwähnt (K. Löffler, Mindener Geschichtsquellen, Bd. 1: Die Bischofschroniken des Mittelalters, Münster 1917 [Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Provinz Westfalen 4,1], 127–134; es betrifft die Handschriften Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. oct. 1 [Hymnar] und Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. fol. 2 [Sakramentar]; von Euw St. Gallen, Nr. 154, 156 und 250–253). Ursprünglich waren die Einbände wohl zusätzlich mit Goldschmiedearbeiten und Steinschmuck besetzt, Arbeiten, die programmatisch auch in Zusammenhang mit St. Gallen gestanden haben dürften. Die stilistische Übereinstimmung der Elfenbeintafel und der Miniatur des vorliegenden Orationale veranlasste von Euw, die ausführende Elfenbeinwerkstatt ebenfalls nach St. Gallen zu lokalisieren (vgl. von Euw St. Gallen, 250, 251; eine Zusammenstellung der Mindener Gruppe bei Goldschmidt I/II, 10, 44, Nrn. 145–147). Suckale-Redlefsen sieht diese Zusammenhänge nicht und verweist auf stilistische Parallelen zu Darstellungen Heinrichs II., wie dem Krönungsbild des Regensburger Sakramentars (München, BSB, Clm 4456 (Sakramentar Heinrichs II.), Regensburg, nach 1002; Kaiser Heinrich II., Nr. 112 [G. Suckale-Redlefsen]) oder dem Bamberger Pontifikale (Bamberg, SB, Msc. Lit. 53, Salzburg (?), um 1020; Kaiser Heinrich II., Nr. 117 [G. Suckale-Redlefsen]).

W. Vöge, Die Mindener Bilderhandschriftengruppe, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 16 (1893), 198–213, hier 201–203. — J. Braun, Alter und Herkunft der sogenannten Missa Illyrca, in: Stimmen aus Maria Laach 69 (1905), 143–155. — Wolfenbüttel Helmst., Nr. 1258 (Heinemann Nr.). — Goldschmidt I/II, Nr. 145. — Hoffmann Buchkunst, 375, 398, Abb. 216. — Mayr-Harting, 507. — Gebetbuch im Mittelalter, 51. — Milde Handschriften Sigeberts, 12f. — A. von Euw, Das Autorenbild im Epistolar Cod. Sang. 371 der Stiftsbibliothek St. Gallen, in: Codices Sangallenses. Festschrift für Johannes Duft zum 80. Geburtstag. hrsg. von P. Ochsenbein, E. Ziegler, Sigmaringen 1995, hier 100. — R. Schaab, Bibeltext und Schriftstudium in St. Gallen, in: Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, hrsg. von P. Ochsenbein, Darmstadt 1999, 119–136, hier Anm. 78. — A. von Euw, St. Galler Kunst im frühen und hohen Mittelalter, in: Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, hrsg. von P. Ochsenbein, Darmstadt 1999, 167–204, hier 198. — Fingernagel Ill. Hss. 4.–12. Jh., Nr. 68. — J. M. Pierce, Sacerdotal spirituality at mass. Text and study of the prayerbook of Sigebert of Minden (1022–1036), Ann Arbor 1992, 32–37, 42–45, 82–459, 468–482. — J. M. Pierre, Early medieval prayers addressed to the Trinity in the Ordo Missae of Sigebert of Minden, in: Traditio 51 (1996), 179–200. — Hartmann, 91, 107, 108, 129, 132, 245. — Kaiser Heinrich II., Nr. 132 (G. Suckale-Redlefsen). — The Leofric Missal, Bd. 1: Introduction, collation table and index, hrsg. von N. Orchard, London 2002 (Henry Bradshaw Society 113), 34, 135, 137, 147f. — Divina officia, Nr. 81 (P. Carmassi). — von Euw St. Gallen, Nr. 155, 243, 250, 263, 272.


Abgekürzt zitierte Literatur

Divina officia Divina officia. Liturgie und Frömmigkeit im Mittelalter, Konzeption von Ausstellung und Katalog P. Carmassi, Wiesbaden 2004 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 83)
Fingernagel Ill. Hss. 4.–12. Jh. Die illuminierten lateinischen Handschriften süd-, west- und nordeuropäischer Provenienzen der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz: 4.–12. Jahrhundert, beschrieben von A. Fingernagel, Teil 1: Textband, Teil 2: Abbildungen, Wiesbaden 1999 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung, Reihe 3: Illuminierte Handschriften 2)
Gebetbuch im Mittelalter Das christliche Gebetbuch im Mittelalter. Andachts- und Stundenbücher in Handschrift und Frühdruck, Ausstellung Bonn-Bad Godesberg 1988, Ausstellung und Katalog G. Achten, unter Mitarbeit von E. Bliembach, Berlin 1987 (2. Auflage) (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Ausstellungskataloge 13)
Goldschmidt I/II A. Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen und sächsischen Kaiser, VIII.–XI. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin 1914/1918
Hartmann M. Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters, Stuttgart 2001 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 19)
Hoffmann Buchkunst H. Hoffmann, Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich, Textbd., Stuttgart 1986 (MGH Schriften 30,1)
Kaiser Heinrich II. Kaiser Heinrich II., 1002-1024, Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2002 Bamberg, hrsg. von J. Kirmeier, Augsburg 2002 (Veröffentlichungen zur bayerischen Gescihte und Kultur)
Lesser Geschichte B. Lesser, Zur Geschichte und Katalogisierung der Helmstedter Handschriften, in: Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil I: Cod. Guelf. 1 Helmst. – Cod. Guelf. 276 Helmst., bearbeitet von H. Härtel, C. Heitzmann, D. Merzbacher und Dems., Wiesbaden 2012, XII–XCII
Mayr-Harting H. Mayr-Harting, Ottonische Buchmalerei. Liturgische Kunst im Reich der Kaiser, Bischöfe und Äbte, Stuttgart 1991
Milde Handschriften Sigeberts W. Milde, Die Handschriften des Bischofs Sigebert von Minden, in: Lectionarium Berlin, Ehem. Preußische Staatsbibliothek, Ms. theol. lat. qu. I. Farbmikrofiche-Edition, München 1993 (Codices illuminati medii aevi 18)
von Euw St. Gallen A. von Euw, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, 2 Bde., St. Gallen 2008
Wolfenbüttel Helmst. O. von Heinemann, Die Helmstedter Handschriften, Bd. 1–3, Wolfenbüttel 1884–1888, ND Frankfurt/M. 1963–1965 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe 1–3)

Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Teil I (6.–11. Jh.).
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