Die illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 1: 6. bis 11. Jahrhundert, beschrieben von Stefanie Westphal (in Bearbeitung) (Vorläufige Beschreibung)

Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 116 Gud. lat.

Calcidius, Übersetzung von Platons Timaeus mit Kommentar

Essen, Kanonissenstift — 11. Jh., 3. Viertel

Provenienz: 1r Liber … pa … . Tollenti maledictio, servanti benedictio. Si quis abstulerit folium vel curtaverit anathem [!] sit. Die Inschrift datiert etwas später als der Text (12./13. Jh.) und ist zum Teil durch Reagenzien des 19. Jh. zerstört (vgl. Wolfenbüttel Gud., Nr. 4420.). Dieselbe Inschrift befindet sich auch in der Essener Handschrift Cod. Guelf 149 Extrav., 30v; dort ist sie vollständig erhalten und lautet Liber sancte Marie et sancti Liborii in Patherburnen. Tollenti maledictio servanti benedictio. Si quis abstulerit vel curtaverit folium anathema sit. Für beide Handschriften lässt sich somit feststellen, dass sie sich im 12. /13. Jh. im Besitz der Paderborner Dombibliothek befunden haben (der Besitzvermerk wurde auch für die Benediktinerinnenabtei von Liesborn in Anspruch genommen; vgl. Schmieder Liesborn, 62). Von gleicher Hand auf 1v Plato cum calcidio. Ob es sich bei der Handschrift um den vom Jesuiten Johannes Gamans um 1640 beschriebenen Platon-Codex gehandelt hat, den ein gewisser Imad der Paderborner Dombibliothek schenkte, ist nicht gesichert (Bodarwé Sanctimoniales litteratae, 153 Anm. 341; K. Honselmann, Aus der Blütezeit der Paderborner Domschule, in: Von der Domschule zum Gymnasium Theodorianum in Paderborn, Paderborn 1962, 49–64, hier 50 Anm. 4). Der Codex wurde nachweislich von Bernhard Rottendorff (1594–1671) in der Benediktinerabtei Liesborn erworben (Lehmann Erforschung des Mittelalters, 125f.; Schmieder Liesborn, 62f.).) und gelangte über ihn in die Sammlung Gude (vgl. Carmassi Codex, 272).

Pergament — 90 Bl. — 27 × 19,5 cm

Lagen: 5 IV (40). VI-3 (45). 5 IV (85). IV-3 (90). Vorsatzblätter Papier. Bl. 57–90 untere Blattränder mit Feuchtigkeitsschaden; Bl. 64–88 untere Blattränder vermodert (Blatt-/Schriftverlust). Buchblock ist stark beschnitten (Verlust von Glossen und Nachträgen). Schriftraum: 22 × 14 cm, einspaltig, 32 Zeilen. Karolingische Minuskel von mehreren Händen. Händescheidung (nach Hoffmann Schreibschulen, 67): Hand A: 1v Z. 2–4, 1v Z. 56r, 7r9r, 9v Z. 527r Z. 13, 36r Z. 20–37r Z. 25 und Z. 28, 40v, 82v Z. 3184r Z. 13. Hand B: 1v Z. 4-Z. 5. Hand C: 6v. Hand D: 9v. Hand E: 27r Z. 1332r; 32v Z. 933r Z. 6; 33r Z. 934r Z. 26; 34v–36r Z. 19; 46r49v; 50r Z. 1153v; 65v–66v Z. 2. Hand F: 32v Z. 1–9. Hand G: 33r Z. 6–9. Hand H: 34r Z. 27–32. Hand I: 36r Z. 19–20. Hand J: 37r Z. 25–28. Hand K: 41r–42r Z. 4; 42r Z. 17–20; 42r Z. 22–42v Z.24; 42v Z. 2644r Z. 29; 44r Z. 3145r Z. 5; 45r Z. 1245v; 86r88r; 88v Z. 3–90r. Hand L: 42r Z. 4-17. Hand M: 42r Z. 20–22; 44r Z. 29–30. Hand N: 42v Z. 24–26. Hand O: 45r Z. 6–11. Hand P: 50r Z. 1–11. Hand Q: 54r–58v Z. 28 (?); 58v Z. 3264r Z. 23; 64v Z. 1065r; 66v Z. 269v Z. 23; 69v Z. 27–71r Z. 23; 71r Z. 2777v Z. 17; 78r–82v Z. 31; 84r Z. 13–85v. Hand R: 58v Z. 29 (?)-32. Hand S: 64r Z. 24–64v Z. 10. Hand T: 69v Z. 24-27. Hand U: 71r Z. 23–27. Hand V: 77v Z. 17–32. Hand W: 88v Z. 1–2. Nach Hoffmann finden sich eine ähnliche Hand zu Hand H im Fragment Kassel, UBLMB, 2° Ms. theol. 165 (hier Hand I). Hand A ist eine ähnliche (identische?) Hand wie Hand H von Cod. Guelf. 54 Gud. lat. (Hoffmann Schreibschulen, 66f.) und Hand M ist identisch mit der Hand B von Cod. Guelf. 149 Extrav. (Hoffmann Schreibschulen 65f.). Beide Wolfenbütteler Vergleichshandschriften sind ebenso wie Gud. lat. 116 im Essener Kanonissenstift im 3. Viertel des 11. Jh. entstanden. Zur Händescheidung vgl. auch Bodarwé Sanctimoniales litteratae, 152f. Anm. 338. Zu den Kapiteln dreizeilige, rubrizierte, schmucklose Initialen, die Buchstaben des anschließenden Textbeginns mit roten Begleitstrichen. Lombarden, marginale Einträge und Ergänzungen und die Diagramme inkl. Bezeichnungen wurden zum Teil nachgetragen. 50r altsächsische Glosse (Hoffmann Schreibschulen, 67.).

Roter Pappeinband, beklebt mit einem spätmittelaterlichen Missalefragment (16. Jh.). Blaugesprenkelter Schnitt. Bindebänder. Ähnlicher Einband bei Cod. Guelf. 51 Gud. lat.

INHALT

1r9v Calcidius: Übersetzung von Platons Timaeus cap. 1–23 (Teil II fehlt). 9v90r Calcidius: Kommentar zu Platons Timaeus Unvollständig, endet in cap. 330 (Edition der Übersetzung und des Kommentars: Magee Platon/Calcidius).

AUSSTATTUNG

Diagramme zum Kommentar:

Farben: Die Diagramme gezeichnet mit roten Linien. Die Beschriftung überwiegend tintenfarbig, teilweise auch rot.

STIL UND EINORDNUNG

Der vorliegende Timaeus-Kommentar des Calcidius wurde von H. Hoffmann paläographisch dem Essener Kanonissenstift zugeordnet und entstand dort wohl im 3. Viertel des 11. Jh. (Zusammenstellung der Essener Gruppe aus dem Umkreis des Theophanuevangeliars, Essen, Domschatz, Hs. 3, vgl. Cod. Guelf. 54 Gud. lat.; Hoffmann Skriptorium Essen, 125f; Bodarwé beurteilt diese Zusammenstellung unter kodikologischen Gesichtspunkten kritisch und hält die Schreibschule in Essen um die Mitte des 11. Jh. für fraglich - Bodarwé, 145–149). Die formale Schlichtheit seiner Ausstattung, ohne Initialen und ohne weiteren ornamentalen Schmuck, beruht auf dem Texttypus, der in nahezu allen überlieferten Codices schmucklos gehalten ist. Ein Beispiel des für Essen in der zweiten Hälfte des 11. Jh. typischen Initialstils gibt Cod. Guelf 54 Gud. lat. Insgesamt liegen aus dem 11. Jh. (1025–1075) 14 Handschriften mit der Timaeus-Übersetzung des Calcidius vor. 11 von ihnen beinhalten zusätzlich seinen Kommentar (Zusammenstellung vgl. Müller Visuelle Weltaneignung, 34 Anm. 20, 36). Beide Texte, Übersetzung und Kommentar, wurden im 11. und 12. für den Unterricht an Dom- und Kathedralschulen verwendet, wie es in diesem Fall für Paderborn zu vermuten ist (s. Provenienz).

Wolfenbüttel Gud., Nr. 4420. — Lehmann Erforschung des Mittelalters, Bd. 4, 125f. — Hoffmann Skriptorium Essen, 127, 129, Abb. 28, 29. — Bodarwé Sanctimoniales litteratae, 152f. — Müller Visuelle Weltaneignung, 34 Anm. 20, 45 Anm. 63, 47 Anm. 69, 58 und Anm. 103, 61 Anm. 116, 63 und Anm. 127 (hier falsche Folioangabe), 77 Anm. 168, 82 Anm. 186. — Hoffmann Schreibschulen, 67f.


Abgekürzt zitierte Literatur

Bodarwé K. Bodarwé, Sanctimoniales litteratae. Schriftlichkeit und Bildung in den ottonischen Frauenkommunitäten Gandersheim, Essen und Quedlinburg, Münster/Westf. 2004 (Institut für Kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Quellen und Studien 10)
Bodarwé Sanctimoniales litteratae K. Bodarwé, Sanctimoniales litteratae. Schriftlichkeit und Bildung in den ottonischen Frauenkommunitäten Gandersheim, Essen und Quedlinburg, Münster/Westf. 2004 (Institut für Kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Quellen und Studien 10)
Hoffmann Schreibschulen H. Hoffmann, Schreibschulen und Buchmalerei. Handschriften und Texte des 9.–11. Jahrhunderts, Hannover 2012 (MGH Schriften 65)
Hoffmann Skriptorium Essen H. Hoffmann, Das Skriptorium von Essen in ottonischer und frühsalischer Zeit, in: Kunst im Zeitalter der Kaiserin Theophanu, Akten des Internationalen Colloquiums veranstaltet vom Schnütgen-Museum, Köln, 13.-15. Juni 1991, hrsg. von A. von Euw, Köln 1993, 113-153
Lehmann Erforschung des Mittelalters P. Lehmann, Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 1–5, Stuttgart 1941–1962
Magee Platon/Calcidius On Plato's Timaeus/Calcidius, Latein-Englisch, hrsg. und übers. von J. Magee, Cambridge/London 2016 (Dumbarton Oaks nedieval library 41)
Müller Visuelle Weltaneignung K. Müller, Visuelle Weltaneignung. Astronomische und kosmologische Diagramme in Handschriften des Mittelalters, Göttingen 2008 (Historische Semantik 11)
Schmieder Liesborn S. Schmieder, Quellen zur Geschichte des Klosters Liesborn, Beckum 1968 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Beckum 2)
Waszink Platon/Calcidius Platon/Calcidius, Timaeus, a Calcidio translatus commentarioque instructus, hrsg. von J. H. Waszink, London/Leiden 1962 (Corpus Platonicum Medii Aevi. Plato Latinus, 4)
Wolfenbüttel Gud. Die Gudischen Handschriften, beschrieben von F. Köhler und G. Milchsack, Wolfenbüttel 1913, ND 1966 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe 9)