Evangeliar
Lorsch, Benediktinerkloster — 11. Jh., 2. Viertel
Provenienz: Hunc librum dedit Conradus custos Paderbornenis fratribus predicato[rum] (Hand von Karl Philipp Christian Schönemann, 1830–1854 Bibliothekar in der HAB Wolfenbüttel).
, Textbd. 225 vermutet in Fasz. I eine in Lorsch ausgeführte Auftragsarbeit. Beide Faszikel waren wohl bereits im 14. Jarhundert zusammengebunden (vgl. Eintrag auf dem Bl. vor Bl. 1, s.o.). In Fasz. I und II (116r, 143v) getilgte Besitzvermerk aus Paderborn. Die Handschrift wurde in den Jahren 1658/59 vom Herzog August dem Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg für seine Bibliothek in Wolfenbüttel erworben (Eintrag im Bücherradkatalog auf pag. 5112; , 123). Auf 116r der EintragPergament — 116 Bl. — 21,5 × 14 cm
Neuere Tintenfoliierung. Faszikel mit ungezähltem Vor- und Nachsatzblatt. Blätter leicht verschmutzt. Bl. 114 und 115 ohne Textverlust beschnitten. Schriftraum: 16 × 9 cm, einspaltig, 34 Zeilen; (8r–10v/11r 50 Zeilen). Karolingische Minuskel von einer Hand. Qualitätvolle, zierliche Schrift. Gleiche Hand wie in Rom, BAV, Pal. lat. 495, 3v, 2. Viertel 11. Jh. (am linken Rand); ähnlich auch Stuttgart, WLB, Cod. bibl. 2° 44 (vgl. ; , Kat. Nr. 10). 54r, Zeile 23 Neumen über dem Ausruf Christi am Kreuz (Mc 15,34). Incipits, Explicits und Textanfangszeilen in Unzialis und Capitalis Rustica. Nachträge: 11r–12r Capitulare evangeliorum (13. Jh.). Einige Korrekturen interlinear und marginal (spätmittelalterlich). Bl. vor Bl. 1 Inhaltsgabe zu beiden Faszikeln Canones X evangeliorum. Textus quattor evangelistarum. Apoc[alipsis] cum glossa (14. Jh.; ); recto N° 7 (alte Signatur?; neuzeitlich).
Koperteinband (Pergament) mit zwei Lederschließbändern. Buchrücken: neuzeitliche Inhaltsangabe und Signatur.
INHALT
Evangeliar. Hieronymus, Prologi III ( 77, 1–4, Z. 1–84). Kanontafeln. Argumentum zu Matthäus ( 590; 103, Sp. 273A-274B). Carmen rhythmicum in Eusebii canones ( 890). (8r–12r) Capitulare , mit Nachtrag. (12v) Aileranus sapiens, Carmen rhythmicum in Eusebii canones ( 843; 1121). (13r–43v) Mt. (43v–55r) Mc. (55r–89r) Lc. (89r–115r) Io (zu den Texten vgl. , Bd. 2, 1219–1221). — 115v leer. (116r–144r) Apocalypsis Johannis Faszikel II; Interlinear- und Marginalglossen, 12./13. Jh.
AUSSTATTUNG
Kanontafeln.Kanontafeln: 4r–7r Kanontafeln (17,2–17,9 × 10,5–12,2 cm). Schlanke hohe Säulen mit kleinen Überfangbögen und darüber befindlichem, gerade abschließendem Architrav (beschriftet mit den Incipits der Kanonabschnitte). Der Stylobat gleich gestaltet wie der zugehörige Architrav, ebenfalls mit Beschriftung (Explicits der Kanonabschnitte). Die hier trichterförmigen Kapitelle verziert mit Akanthusblättern und ringförmiger Plinthe. In den Zwickeln ebenfalls Akanthusblätter (6v nicht ausgeführt). Die Überfangbögen unverziert oder gefüllt mit Punktverzierungen (4r und 4v), die Säulen ebenfalls unverziert oder mit gepunkteten Banderolen (4r und 4v). Zum dritten und vierten Kanon auf 5v die zwei mittigen Säulenpaare aufgeteilt in jeweils zwei übereinander gestellte Säulen.
Beschriftungen der Kanontafeln: 4r Kanon primus. In quo quator (Architrav), Finit kanon primus quo quator (Stylobat). Über den Textspalten die Namen der Evangelisten, unter den Textspalten die dem Text entsprechenden Nennungen der Evangelistensymbole. 4v Kanon II. In quo tres (Architrav), Evangelistennamen und Symbolnennungen (vgl. 4r). 5r Kanon secundus in quo tres (Architrav), Finit kanon secundus. In quo III (Stylobat), Evangelistennamen und Symbolnennungen (vgl. 4r). 5v Kanon III. In quo III (Architrav), Finit Kanon tertius kanon IIII. In quo III (Mitte). 6r Kanon quintus. In quo duo (Architrav). 6v Kan VI. In quo duo, Kan VII. In quo duo (Architrav). 7r Kanon decimus. In quo propria singulorum (Architrav), Finit kanon / Decimus (Stylobat), Evangelistennamen oberhalb der Textspalten.Farben: Gelb, Dunkelbraun, Rot/Rosé, Blau.
STIL UND EINORDNUNG
Der Wolfenbütteler Bestand umfasst inklusive Cod. Guelf. 18.22 Aug. 4° und Cod. Guelf. 131 Gud. lat., Cod. Guelf. 66 Gud. lat., Cod. Guelf. 34 Weiss. sowie den Fragmenten Cod. Guelf. 44.18 Aug. 2° und E 346 2° Helmst. insgesamt fünf Lorscher Handschriften/Fragmente aus dem 9. und dem 11. Jh. (Zusammenstellung vgl. , Bd. 2, 1217–1236). Ausschließlich Cod. Guelf. 34 Weiss. und das vorliegende Evangeliar enthalten Buchschmuck, wobei sich dieser im Evangeliar auf die Kanontafeln beschränkt. Raum für Initialen findet sich nicht, Initialschmuck war nicht vorgesehen. Bereits aus dem 9. Jh. sind für Lorsch 3 Evangeliare bekannt, die mit Kanonbögen ausgestattet wurden und in der Nachfolge des nach Lorsch gelangten Hofschulevangeliars, des sogenannten Lorscher Evangeliars, entstanden (Rom, BAV, Pal. lat. 50 (Lorscher Evangeliar) und Bukarest, Biblioteca Naţională a României, Ms R II 1 (Lorscher Evangeliar) Hofschule Karls des Großen, Anfang 9. Jh., vor 814, bzw. um 800; vgl. ). Es handelt es sich um die Evangeliare Bamberg, SB, Msc. Bibl. 93, 2. Viertel 9. Jh.; das Evangeliar aus Seligenstadt Darmstadt, ULB, Hs. 1957, 2. Viertel 9. Jh.; das Evangeliar Bischof Folcwichs von Worms (826–838) Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Ms. Ludwig II 1, 826 bis nach 830 und Nürnberg, StB, Cod. Cent. V, App. 43b, 2. Viertel 9. Jh. Unter Abt Saleman (972–999) begann in Lorsch, im späten 10.Jh., nach einer Phase des Niedergangs im ausgehenden 9. und 10. Jh., erneut ein Aufschwung des Skriptoriums. Aus dem 11. Jh. sind zwei Lorscher Evangeliare mit Kanontafeln bekannt (Oxford, BodL, MS. Douce 292, 2. Viertel oder Mitte 11. Jh. und Stuttgart, WLB, Cod. bibl. 2° 44, 1. Drittel 11. Jh.). Bereits im 9. Jh. ist zu beobachten, dass auch für die Anfertigung der Kanontafeln wiederholt auf die Hofschulvorlage zurückgriffen, jedoch auf konkrete Motivzitate im Dekor verzichtet wurde (vgl. Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Ms. Ludwig II 1 und Darmstadt, ULB, Hs. 1957; , 335–337). Hierbei ist eine Reduktion auf das architektonische Grundgerüst zu beobachten, was bereits im Evangeliar aus Nürnberg (Nürnberg, StB, Cod. Cent. V, App. 43b) darin gipfelt, dass die Überfangbögen weggelassen werden. Die trichterförmigen Kapitellformen mit runder Plinthe erinnern an die des Wolfenbütteler Codex aus dem 11. Jh. Das Evangeliar aus Seligenstadt (Darmstadt, ULB, Hs. 1957) zeigt vor diesem Hintergrund eine gewisse Experimentierfreudigkeit. Von den beiden mit Kanonbögen versehenen Lorscher Evangeliaren aus dem 11. Jh. zeigt allein der Stuttgarter Codex (Stuttgart, WLB, Cod. bibl. 2° 44) mit den hier verwendeten schlanken hohen Säulen und der doppelt aufeinandergesetzten Säulenstellung (vgl. hierzu Cod. Guelf. 18.22 Aug. 2°, 5v) eine gewisse Ähnlichkeit mit dem wolfenbütteler Evangeliar (Farbgebung, Basen- und Kapitellformen variieren). Bereits Hoffmann verwies auf die paläographische Verwandschaft beider Evangeliare ( , 223). Die im Wolfenbütteler Evangeliar gewählte Form der Kanonbögen mit gerade abschließendem Architrav und gleichgestaltetem Stylobat ist für das Lorscher Skriptorium des 9. und des 11. Jh. nicht zu belegen. Die Rahmung von Inizialzierseiten und Miniaturen mit seitlich flankierenden Säulen und gleich oder sehr ähnlich gestaltetem Architrav/Stylobat ist aus den Handschriften aus Fuldaer im 10. Jh. bekannt (vgl. die Sakramentare Udine, Archivio Capitolare, Ms. 1 und Göttingen, SUB, 2° Cod. Ms. theol. 231 Cim.; zu den Handschrift vgl. , 191–210, Abb. 193–221, Taf. 55b1). Einflüsse aus Fulda, eventuell in Form von Handschriftenimport dürften über Abt Poppo, der 1005 bis 1018 dem Kloster Lorsch und zeitgleich von 1013/14–1018 dem Kloster Fulda als Abt vorstand, erfolgt sein (zu Poppo vgl. , Lorsch. Geschichtlicher Überblick, in: Die benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Hessen, St. Ottilien 2004 [Germania Benedictina], Bd. 7, 783f.)., Nr. 3154 (Heinemann Nr.). — , Nr. 15–18. — , 134. — , Textbd. 223, 225, Tafbd. Abb. 90. — , Bd. 2, 1217–1221.
Abgekürzt zitierte Literatur
Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Teil I (6.–11. Jh.).