Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil II: Cod. Guelf. 277 bis 370 Helmst. Mit einem Anhang: Die mittelalterlichen Handschriften und Fragmente der Ehemaligen Universitätsbibliothek Helmstedt, beschrieben von Bertram Lesser (im Erscheinen).
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Programms Erschließung und Digitalisierung handschriftlicher und gedruckter Überlieferung (Vorläufige Beschreibung)

Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 320 Helmst.

Franciscus de Zabarellis

Papier — 195 Bl. — 29,5 × 22 cm — Padua — 15. Jh., 1. Viertel

Wasserzeichen: Glocke, Bindedraht als Mittelachse, ohne Beizeichen, Klöppel mit der Kontur des Randes verschmolzen: WZIS IT8355-PO-40137, IT8355-PO-40145 (beide 1404, zahlreiche weitere Typen nicht nachweisbar). Ochsenkopf mit Augen, darüber einkonturige Stange, darüber Blume: WZIS DE9045-PO-65556, DE9045-PO-65557 (beide 1414, zwei weitere Typen nicht nachweisbar). Hirschkopf, darüber Blume: WZIS DE6405-PO-82219 (1413). Ochsenkopf mit Augen und Nasenlöchern, darüber einkonturige Stange, darüber Stern: WZIS DE4500-PO-76189 (1455, nur letzte Lage, beim Binden hinzugefügt). Lagen: V+1 (11). 2 VI (35). 2 V (55). VI (67). V (77). 2 VI (101). V (111). V+3 (124). VI (136). V (146). VI (258)! V+1 (269). VI (281). IV (289). III (295). Reklamanten, Lagensignaturen und Wortkustoden auf dem Fußsteg der ersten Rectoseite der Lagen: primus sexternusquaternus est; einige durch Beschnitt verloren. Lagenmitte mit Pergamentfalzen verstärkt. Bleistiftfoliierung modern: 1–295. Nach Bl. 153 fälschlich mit 254 weitergez. Schriftraum: 20–21 × 14–15 cm, einspaltig, 36–48 Zeilen. Bastarda von der Hand des Schreibers Nicolaus Rotensteyn, tituli und capitula in Textualis als Auszeichnungsschrift. 115r–146v anderer Schriftduktus mit kursiven Merkmalen, wahrscheinlich jedoch von derselben Hand. Zahlreiche Marginalien, Nota-Vermerke, Zeigehände, Trifolia und lebende Seitentitel (Tituli der kommentierten Dekretalen) von mehreren (?) Händen. Rubriziert, rote Lombarden, an einigen Stellen (38v, 54r und 65v) zu sekundären Initialen über 16–20 Zeilen vergrößert.

Spätgotischer Holzdeckelband, mit ungefärbtem Kalbsleder überzogen. Streicheisenlinien. Einzelstempel Agnus Dei stehend: EBDB s005623. Lilie, Mittelblatt rhombisch, unterer Abschluss lilienförmig: EBDB s006051. Rosette, ein Blattkranz, fünfblättrig: EBDB s007049. Rosette, drei Blattkränze, sechsblättrig: EBDB s007474. Schrift, Buchstabe S: EBDB s008265. Wirbelfigur, Blattwirbel: EBDB s004676. Der wahrscheinlich in Soest angesiedelten Werkstatt "Pfeilring" (EBDB w002210) zugeschrieben. Vier Doppelbünde. Zwei Riemenschließen mit langgezogenen Wulstlagern in Schildform und gleichartig gestalteten Gegenblechen, Schließenriemen und -haken (mit Öse für Zugriemen) nur oben erhalten. Auf dem VD die stark verblasste Aufschrift: Super tercio decretal[ium] Fran[cisc]us de Sa[barellis] Nach der Wasserzeichendatierung des Vorsatzes erst um 1455 mit diesem Einband versehen. Die Stempelverzierung erfolgte nach der Titelbeschriftung, da diese teilweise durch Einzelstempel verdeckt ist.

Fragment: VS und HS. Italien. Südfrankreich. 14./15. Jh. Pergament. 2 Bl. 29 × 21 cm. Schriftraum: 23 × 18 cm, zweispaltig (jede Spalte 8 cm breit), 30 tintenliniierte Zeilen. Sephardische Quadratschrift, beeinflusst durch italienische und ashkenasische Schriftformen. VS, HS Talmud Bavli (tract. IV.2, Fragm.). Schreibsprache: Hebräisch. Enthält die cap. 30b–31a (VS) sowie 33a–b und 37a des Traktats Bava Meṣ’ia, der den zweiten Teil der vierten Ordnung (Neziqin) des babylonischen Talmuds bildet. Literatur: A. Lehnardt, Die hebräischen und aramäischen Einbandfragmente in deutschen Archiven, Bibliotheken und Sammlungen, Stuttgart 2021 (Verzeichnis der Orientalischen Handschriften in Deutschland 6.5), 873 Nr. 2455.

Herkunft: Der größte Teil des Codex wurde 1405 in Padua von Nicolaus Rotensteyn geschrieben, von seiner Hand stammen auch Teile des Codex Frankfurt/M., StUB, Ms. Barth. 92 (Frankfurt 2, 195–203). Laut dessen Kolophonen stammte Rotensteyn aus Jena und hielt sich mindestens seit 1402, vermutlich als Student, in Padua auf, wo er offenbar eng mit Franciscus de Zabarellis zusammenarbeitete und in dessen Haus auch Texte kopierte. Vgl. zu ihm L. Bertalot, Humanistisches Studienheft eines Nürnberger Scholaren aus Pavia (1460), Berlin 1910, 2f. (Hs. genannt); Aus Petrarcas ältestem deutschen Schülerkreise. Texte und Untersuchungen, unter Mitwirkung R. Kienasts hrsg. von K. Burdach, Berlin 1929 (Vom Mittelalter zur Reformation 4), 62 (Hs. genannt); A. Sottili, La questione ciceroniana in una lettera di Francesco Zabarella a Francesco Petrarca, in: Quaderni per la storia dell'Università di Padova 6 (1973), 25–57 (54 Hs. genannt); Girgensohn Studenti, 151 (Hs. genannt); Caldelli Copisti in casa, 218 (Hs. genannt). Laut Wasserzeichen wurde der Text auf Bl. 115r–146v mit dem Kommentar zu X 3.32.20–39.14 erst 1415 geschrieben; ob an dieser Stelle Text verloren war oder zunächst bewußt ausgelassen wurde, kann nicht mehr entschieden werden. — Bislang konnte nicht ermittelt werden, wo Nicolaus Rotensteyn nach seiner Rückkehr nach Deutschland tätig war; zumindest die Einbandstempel der Hs. weisen in den westfälischen Raum. — Auf welche Weise der Band in die Universitätsbibliothek Helmstedt gelangte, ist unbekannt; er wird 1644 im Katalog der Helmstedter Universitätsbibliothek (Cod. Guelf. 27.2 Aug. 2°, 25r) als Francisci de Zabarellis Lectura super tertio decretorum [!] unter den Juridici MSSti in folio verzeichnet; auf dem VS die entsprechende Helmstedter Signatur J. 35. Im Handschriftenverzeichnis von 1797 (BA III, 52) unter Nr. 142 aufgeführt.

Heinemann Nr. 355.

1r–289v Franciscus de Zabarellis: Lectura in librum III decretalium (recensio antiquior).
(1r) Prologus. ›Incipit liber tercius‹. Continuacio sumi potest per ea que notantur supr[a] eadem compilacione in prohemio … — … sed quod honestum est debet attendi Digestis [de] diversis reg[ulis] iuris lege 'Semper in conventionibus' [D. 50,17,197].
(1r–289v) Textus. ›Rubrica de vita et honestate clericorum. Ut laici [X 3,1,1] secus altare ‹. Laici prope altare vel in choro dum divina celebrantur morari non debent sed illuc accedere causa orandi … — … vivunt autem qui fruuntur intellectu hic per famam et in celo per gloriam quam nobis impertire dignetur qui vivit et regnat in secula benedictus Amen. ›Deo gracias‹. Et sic est finis huius brevis lecture super tercio decretalium secundum dominum Franciscum de Zabarellis de Padua iuris utriusque doctorem finita per me Nycolaum Rotensteyn anno domini 1405 XXVIo die Februarii. Et illo tempore Padua erat obsessa per Venetos etc. (Colophons 14548). Die Hs. überliefert eine frühe Redaktion des Dekretalenkommentars, die nur etwa halb so umfangreich ist wie die Fassung letzter Hand, die der Verf. vor seiner Ernennung zum Bischof von Florenz (1410) vollendete. Druck der endgültigen Fassung: Cardinalis Zabarella in tertium decretalium, Lyon 1557 (vergl.). Literatur: G. Zonta, Francesco Zabarella (1360–1417), Padua 1915, 123 Nr. 1 (Hs. genannt); Schulte 2, 284 Nr. 109.1 (Hs. genannt); Hove, 496; DDC 5, 901; Belloni, 206; HQL 1, 381; Girgensohn Zabarella, 250–254; Kuttner Commentary; CALMA 3, 560 Nr. 101.


Abgekürzt zitierte Literatur

Belloni A. Belloni, Professori giuristi a Padova nel secolo XV. Profili bio-bibliografici e cattedre, Frankfurt/M. 1986 (Ius commune. Sonderhefte 28)
Caldelli Copisti in casa E. Caldelli, Copisti in casa, in: Du scriptorium à l'atelier. Copistes et enlumineurs dans la conception du livre manuscrit au Moyen Âge, Turnhout 2011 (Pecia 13), 199–249
CALMA C.A.L.M.A. Compendium auctorum latinorum medii aevi, hrsg. von M. Lapidge u.a., Bd. 1–, Firenze 1999–
Colophons Colophons de manuscrits occidentaux des origines au XVIe siècle, Bd. 1–6, ed. par les Bénédictins du Bouveret, Fribourg/Schweiz 1965–1982 (Spicilegii Friburgensis Subsidia 2–7)
DDC Dictionnaire de droit canonique, Bd. 1–7, hrsg. von R. Naz, Paris 1935–1965
EBDB Einbanddatenbank (http://www.hist-einband.de/, besonders die Sammlung Wolfenbüttel)
Frankfurt 2 Die Handschriften des Bartholomäusstifts und des Karmeliterklosters in Frankfurt am Main, beschrieben von G. Powitz und H. Buck, Frankfurt/M. 1974 (Kataloge der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 3 =. Die Handschriften der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 2)
Girgensohn Studenti D. Girgensohn, Studenti e tradizione delle opere di Francesco Zabarella nell’Europa centrale, in: Studenti, università, città nella storia padovana. Atti del Convegno, Padova, 6-8 febbraio 1998, hrsg. von F. Piovan und L. Sitran Rea, Trieste 2001 (Contributi alla storia dell'Università di Padova 34), 127–176
Girgensohn Zabarella D. Girgensohn, Francesco Zabarella aus Padua. Gelehrsamkeit und politisches Wirken eines Rechtsprofessors während des großen abendländischen Schismas, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 79 (1993), 232–277
Heinemann O. von Heinemann, Die Helmstedter Handschriften, Bd. 1–3, Wolfenbüttel 1884–1888, ND Frankfurt/M. 1963–1965 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe 1–3)
Hove A. van Hove, Commentarium Lovaniense in Codicem Iuris Canonici, Vol. 1,1: Prolegomena ad Codicem Iuris Canonici, editio altera, Mecheln 1945
HQL 1 Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1: Mittelalter (1100–1500): Die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung, hrsg. von H. Coing, München 1973 (Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte)
Kuttner Commentary S. Kuttner, Francesco Zabarella’s commentary on the Decretals: A note on the editions and the Vatican manuscripts, in: BMCL 16 (1986), 97–101
Schulte J. F. von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des Canonischen Rechts…, Bd. 1: … von Gratian bis auf Papst Gregor IX. Stuttgart 1875; Bd. 2: … von Papst Gregor IX. bis zum Concil von Trient, Stuttgart 1877
WZIS Wasserzeichen-Informationssystem. Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart (http://www.wasserzeichen-online.de/wzis/index.php)