Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil II: Cod. Guelf. 277 bis 370 Helmst. Mit einem Anhang: Die mittelalterlichen Handschriften und Fragmente der Ehemaligen Universitätsbibliothek Helmstedt, beschrieben von Bertram Lesser (im Erscheinen).
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Programms Erschließung und Digitalisierung handschriftlicher und gedruckter Überlieferung (Vorläufige Beschreibung)
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 323 Helmst.
Gregorius I papa
Pergament — 145 Bl. — 29 × 18 cm — Oberitalien — 9. Jh., 1. Hälfte
Lagen: 8 IV (63)! IV–1 (70). 3 IV (94). I (96). IV (104). I (106). 2 IV (122). III–2 (125)! 2 IV (141). I (143). Bl. 24–104 Kustoden auf der Versoseite des letzten Bl.: q[uaternio] III–XIIII. Bleistiftfoliierung modern: 1–143, Zählfehler: Je ein Bl. nach Bl. 34 und 125 übersprungen. Schriftraum: 23–24 × 14 cm, einspaltig, je nach Hand 31–39 Zeilen, Blind- und Tintenliniierung, Punkturen z. T. an den Blatträndern noch sichtbar. Unregelmäßige, stellenweise regelrecht ungeübt wirkende karolingische Minuskel von mehreren, schwer unterscheidbaren Händen, häufige Handwechsel. Sieben Haupthände: Hand 1: 1r–24v; Hand 2: 25r–81r; Hand 3: 81r–83v; Hand 4: 83v–86v und 87v–88v; Hand 5: 86v–87v und 88v–94v; Hand 6: 107r–125v; Hand 7: 126r–143v. Die Lage 81r–106v stammt von mehreren Schreibern, darunter dem sich auf dem Fußsteg von Bl. 106v in ungefüger Capitalis nennenden Lupus: DEO GRATIAS EGO LVPVS FECIT [!] MANIBVS MEIS. Am Beginn der einzelnen Bücher federgezeichnete unkolorierte Hohlbuchstaben als Initialen. 84r federgezeichnete Flechtbandinitiale P über 10 Zeilen, Buchstabenstamm mit Flechtbandknoten, Stufenband und einer vierblättrigen Blüte gefüllt, oben und unten in Halbpalmetten auslaufend; im Binnenfeld endet die innere Kontur des Buchstabens in zwei gegenständigen Profilpalmetten. 101v historisierte Gesichtsinitiale Q über 5 Zeilen in Federzeichnung mit quer geschwungener Halbpalmette als Cauda, im Binnenfeld das Gesicht eines bärtigen, tonsurierten Mönchs.
Der ursprüngliche karolingische Einband ist verloren. Gegenwärtig in einen spätgotischen Holzdeckelband mit dunkelbraunem Kalbslederbezug gebunden, dessen Rückenüberzug an Kopf und Schwanz abgerissen ist. Streicheisenlinien. Einzelstempel Laubstab ohne Astgabel: s005639. Ornament, Punkte: s003460. Ornament, Raute: s009203. Rosette, zwei Blattkränze, fünfblättrig: s006859. Rosette, ein Blattkranz, sechsblättrig: s007830, s007068. Wirbelfigur, Rosettenwirbel: s004671. Sämtlich aus der Werkstatt "Johannes Bernardi" in Braunschweig ( w000217). Drei Doppelbünde. Zwei Langriemenschließen, Schließenösen mit Ring für Zugband. An VD und HD je zwei unverzierte umgreifende Eck- und zwei Kantenbeschläge aus Messing, jeweils fünf Schonernägel entfernt. Liber catenatus, nur noch das Loch der Halteöse und Rostspuren auf dem HS erkennbar. Auf dem VD Titelschild (8 × 8 cm, Papier, 15. Jh., Bastarda): Moralia beati Gregorii pape super Iob pars secunda. Analoge Einbandgestaltung wie bei Cod. Guelf. 301 Helmst. und weiteren Bänden, vgl. , 72f. mit Abb. 34.
Herkunft: Aufgrund der paläographischen Merkmale lokalisierte B. Bischoff den Codex nach Oberitalien und datierte ihn ins 1. oder 2. Viertel des 9. Jh. (Cod. Guelf. 27.2 Aug. 2°, 6v) als Gregorii Papae Moralium super Iob pars secunda in membrana unter den Theologici [MSSti] in folio beschrieben; im Handschriftenverzeichnis von 1797 (BA III, 52) unter Nr. 180 vermerkt.
, 503 Nr. 7328), wozu auch die Gestaltung der Initialen passt. — Wann und auf welchem Wege der Codex nach Niedersachsen gelangte, ist nicht mehr eindeutig nachweisbar. Nicht zuletzt aufgrund seines hohen Alters dürfte er bereits zur Gründungsausstattung des Kanonissenstiftes Gandersheim gehört haben. Ob er möglicherweise noch von den Begründern des Stiftes, dem sächsischen Adligen Liudolf, seiner Frau Oda Billung und dem Bischof Altfrid von Hildesheim, anlässlich ihrer Pilgerfahrt nach Rom 845/46 zusammen mit den Reliquien der Päpste Anastasius und Innocentius aus Italien ins neu gegründete Stift gebracht wurde ( , 81–83), ist eine verlockende, aber nicht mehr beweisbare Hypothese. — Am Ende des 15. Jh. dürfte sich der Codex jedoch im benachbarten Benediktinerinnenkloster St. Maria in Gandersheim befunden haben. Die Bibliothek des kleinen Konvents, der nicht über ein eigenes Skriptorium verfügte, wurde im Jahre 1477 von Werner Raphon, Notar und Sekretär des Kollegiatstiftes St. Alexander zu Einbeck und Vikar des Marienklosters († nach 1481), gestiftet und offenbar später ergänzt (vgl. , Eine Bibliotheksgründung beim St. Marienkloster vor Gandersheim im Jahre 1477, in: Braunschweigisches Jahrbuch 30 (1949), 48–64; , 99–101, 155). Für diese Provenienz sprechen das vom Bibliotheksgründer Werner Raphon ausgestellte Notariatsinstrument auf dem VS und der gleichzeitige Kettenband, da Raphon seinen Buchbestand ausdrücklich als Kettenbibliothek vorgesehen hatte. Da die Codices dieses Konvents zum Grundbestand der Universitätsbibliothek Helmstedt gehörten, gelangten sie direkt von Gandersheim nach Helmstedt und sind daher 1588 und 1614 nicht in den Katalogen der Wolfenbütteler Hofbibliothek nachweisbar. — Der Codex ist erstmals 1644 im Helmstedter Handschriftenkatalog (vorläufige Beschreibung in der Handschriftendatenbank der HAB).
Nr. 358. — , 608 (fälschlich zu Northeim, Benediktinerkloster St. Blasius). — , 116. — , 503 Nr. 7328. — , 114. — (in Vorb.,1r Mehrere Titelvermerke: Moralia pars secunda (zeitgenössisch); Moralia beati Gregorii super Iob (15. Jh., vermutlich in der Bibliotheksheimat eingetragen); S. Gregorii Moralia sive expositio in Iob pars II cont. libr. VI–VIII (deficiunt IX et X) Cod. Saecul. IX–X. (19. Jh., von der Hand des Wolfenbütteler Bibliothekars K. P. C. Schönemann).
1v–143v : Moralia in Iob (pars II, libri VI–X, partim). Im einzelnen sind folgende Stücke enthalten:
(1v–23r) Liber VI. ›Explicit Liber VI‹.
(23r–50v) Liber VII. ›Incipit Liber VII‹ … — … ›Explicit Liber VII‹.
(50v–84r) Liber VIII (cap. 1–42 und 54). ›Incipit Liber VIII‹ … — … ›Explicit Liber VIII‹. Durch Schreiberversehen bricht der Text auf Bl. 82v bei VIII,42,66 (quia per eius dona non eius gloriam sed proprios favores querunt …) ab; der folgende Text VIII,54,91 (… et tabernaculum impiorum non subsistit. Tabernaculum quippe construitur) ist ohne Satztrennung direkt angeschlossen. Von einer Hand des 12. Jh. interlinear eingetragen † und der Beginn des korrekt anschließenden Textes: Cumque precepta bona. In marg. dazu Erläuterung: Multa hic desunt †. Quę desunt in eodem libro completa invenies quamvis secundum ordinem posita non sint. Sed notam abecedarii quere et ita omnia iuste invenies. Am Ende des regulären Textes steht der Majuskelbuchstabe A, am anschließenden Beginn der Buchstabe D. Die zugehörige Fortsetzung, gekennzeichnet mit den Buchstaben B–C, s. unten, 134r–143v.
(84r–101v) Liber IX (cap. 1–15, 50–53 und 61–66). ›Incipit Liber VIIII‹ … — … ›Explicit Liber VIIII‹. Durch Schreiberversehen bricht der Text auf Bl. 94r bei IX,15,66 (et quam placare humilitas poterat inextinguibiliter superbia accendat. Unde apte quoque de hac eadem ira protinus subditur …) ab, in marg. dazu Erläuterung: Verte folium, interlinear die Fortsetzung des regulären Textes Deus cuius resistere, dazu als Verweis der Majuskelbuchstabe F, am anschließenden Beginn der Buchstabe H mit Korrekturzeichen; den zugehörigen Text mit diesem Verweis s. unten, 126r–133v. – 94r–95v folgt direkt im Anschluss der Text IX,50,76–IX,53,81 (… Memento quęso quod sicut lutum feceris me … iustitie dona non adiuvat si prius misericorditer ante…), der durch Blattverlust am Seitenschluss mitten im Wort abbricht und 96r in cap. IX,61,92 ( … Igitur cum culpa animum temptat mens necesse est ut brevitatem suae deiectionis aspiciat) wieder einsetzt und bis zum Schluss des Buches in cap. IX,66,106 reicht.
(101v–125av) Liber X. ›Incipit liber X‹. Bl. 106v ohne Textverlust freigelassen, der Text bricht bei X,31,54 (ad statutum tempus ventura praeparatur. Quia ipse pec…) ab, da das letzte Bl. mit dem Textschluss ausgeschnitten wurde.
(126r–133v) Liber IX (cap. 16–31). Die von anderer Hand hinzugefügte Ergänzung enthält cap. IX,16,26–IX,31,47 (… Deus cuius resistere ire nemo potest et sub quo curvantur qui portant orbem [Iob 9,13]. Mirum valde quod ire dei nullum posse resistere dicitur … Qui crebro etiam cum altitudinem divinitatis asspiciunt [!]…) und gehört zum Text oben, 94r, dazu die Majuskel F mit Verweiszeichen als Kennzeichnung am Beginn des Abschnittes. Durch Blattverlust fehlen der Schluss von cap. 31 und vermutlich auch cap. 32–49 mit der zugehörigen Majuskel G.
(134r–143v) Liber VIII (cap. 42–53). Die von anderer Hand hinzugefügte Ergänzung enthält cap. VIII,42,66–VIII,53,90 (… Cumque per accepta bona in sua laude levant ipsis muneribus contra largitorem pugnant … quia sola hic transeuntia dilexerunt unde et apte mox subditur. Et tabernaculum impiorum…) und bietet damit den oben, 82v, fehlenden Text; dazu die Majuskeln B und C mit Verweiszeichen als Kennzeichnung an Beginn und Schluss des Abschnittes. – Alle im Text ausgelegten Schriftzitate sind jeweils in marg. durch Anführungszeichen (diple) in Doppel-s-Form gekennzeichnet. Aus welchen Gründen die Abschrift mehrfach unterbrochen und durch Nachträge ergänzt wurde, ist nicht erkennbar. Buch VI–X vollständig in Cod. Guelf. 443 Helmst.; Buch XVII–XXIX in Cod. Guelf. 10 Helmst.; vollständig in Cod. Guelf. 385 und 386 Helmst. sowie Cod. Guelf. 27.12 Aug. 2°. Größere Exzerpte in Cod. Guelf. 615 Helmst., 21v–22v; 87.6 Aug. 12°, 212r–219v; 50.4 Aug. 4°, 1r–24v. Fragmente: Cod. Guelf. 404.5 Novi (3); 404.8.2 Novi (12); 404.8.2 Novi (21); 404.8.5 Novi (4b). Edition (in der Abfolge der Hs.): 143, 284–433 Z. 16, 453–455, 456–473 Z. 1, 510 Z. 1–512 Z. 59, 522 Z. 10–533, 534–577 Z. 67, 473 Z. 1–489 Z. 23, 433 Z. 16–453 (XXIX Hs. genannt). Literatur: 1708; 2634; 5, 229; 2231; , 49f.; 5, 44–68; 4, 418f. Nr. 6.
Abgekürzt zitierte Literatur
B. Bischoff, Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen), Teil 3: Padua–Zwickau, aus dem Nachlass hrsg. von B. Ebersperger, Wiesbaden 2014 | |
C.A.L.M.A. Compendium auctorum latinorum medii aevi, hrsg. von M. Lapidge u.a., Bd. 1–, Firenze 1999– | |
Corpus Christianorum. Series Latina, Bd. 1–, Turnhout 1954– | |
Clavis patrum Latinorum, hrsg. von E. Dekkers, Steenbrugge u.a. 31995 (Corpus Christianorum. Series Latina) | |
Clavis patristica pseudepigraphorum medii aevi, hrsg. von I. Machielsen, Turnhout 1990– (Corpus Christianorum. Series Latina) | |
Einbanddatenbank (http://www.hist-einband.de/, besonders die Sammlung Wolfenbüttel) | |
H. Goetting, Das Bistum Hildesheim, Bd. 1: Das reichsunmittelbare Kanonissenstift Gandersheim, Berlin, New York 1973 (Germania Sacra N.F. 7) | |
H. Goetting, Das Bistum Hildesheim, Bd. 2: Das Benediktiner(innen)kloster Brunshausen. Das Benediktinerinnenkloster St. Marien vor Gandersheim. Das Benediktinerkloster Clus. Das Franziskanerkloster Gandersheim, Berlin, New York 1974 (Germania Sacra N.F. 8) | |
H. Härtel, Lamspringe. Ein mittelalterliches Skriptorium in einem Benediktinerinnenkloster, in: Kloster und Bildung im Mittelalter, hrsg. von N. Kruppa und J. Wilke, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 218 = Studien zur Germania sacra 28), 115–153 | |
O. von Heinemann, Die Helmstedter Handschriften, Bd. 1–3, Wolfenbüttel 1884–1888, ND Frankfurt/M. 1963–1965 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe 1–3) | |
Die illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 1: 6. bis 11. Jahrhundert, beschrieben von S. Westphal (in Bearbeitung) | |
S. Krämer, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Bd. 1–3, München 1989–1990 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsband 1) | |
B. Lesser, F. Prinsen, Gebunden, geheftet, vernäht. Vielfältige Einbände aus Frauenklöstern, in: | , 71–78|
B. Lesser, Johannes von Brakel – Buchbinder und Schreiber im Benediktinerkloster Clus, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 38 (2014), 77–122 | |
Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, Bd. 1–4, hrsg. von J. Dolle und D. Knochenhauer, Bielefeld 2012 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 56,1–4) | |
Repertorium fontium historiae medii aevi, Bd. 1–12, hrsg. vom Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, Rom 1962–2007 | |
F. Stegmüller, Repertorium biblicum medii aevi, Bd. 1–11, Madrid 1950–1980 | |
C. Straw, Gregory the Great, in: Authors of the Middle Ages. Historical and Religious Writers of the Latin West, hrsg. von P. J. Geary, Bd. 4 Nr. 12, Aldershot 1996, 1–72 | |
La trasmissione dei testi latini del medioevo – Mediaeval latin texts and their transmissions, Bd. 1–, hrsg. von P. Chiesa und L. Castaldi, Firenze 2004– (TE.TRA. 1–) |