Die illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 1: 6. bis 11. Jahrhundert, beschrieben von Stefanie Westphal (in Bearbeitung) (Vorläufige Beschreibung)

Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 52.5 Aug. 4°

Marcus Annaeus Lucanus, De bello civili

Montecassino, Benediktinerabtei — 11. Jh., 3. Viertel

Provenienz: Zur mittelalterlichen Provenienz der Handschrift fehlen verlässliche Quellen, doch sie muss sich im 13. Jh. noch in Montecassino befunden haben, da fehlender Text dort ersetzt wurde (s.o.). Wahrscheinlich handelt es sich um eine Lukanhandschrift, die im Inventar des Klosters Montecassino mit dem Eintrag Item liber Lucani in versibus parum glos. inc. Bella in littera longob. verzeichnet ist (1464–1471; M. Inguanez, Catalogi codicum Casinensium antiqui [saec. VIII-XV], Montecassino 1941, 37; Newton Monte Cassino, 109 Anm. 97). Der Eintrag auf 102v Antonii Seripandi et amicorum verweist anschließend auf den Vorbesitzer Antonio Seripando (1486–1539). Dieser war bis 1519 Sekretär des Kardinals Luigi d'Aragona (1474–1519) und besaß im Kloster San Giovanni a Carbonara in Neapel eine Büchersammlung, welche nach seinem Tod im Besitz des Klosters verblieb. Die Bücher, mit ihnen vermutlich die vorliegende Handschrift, gelangten in den Besitz seines Bruders, Kardinal Girolamo Seripando (vgl. Butzmann Lukan-Handschrift, 25f.). Im 17. Jh. gehörte die Handschrift, wie auch Cod. Guelf. 18.27 Aug. 4°, dem Esslinger Prediger Johann Deckinger (1625–1678; von 1667–1678 als Archidiakon, von 1654–1663 als dritter Diakon in Esslingen am Neckar tätig; Pfarrerbuch innerwürttembergische Reichsstädte, berab. von M.-A. Cramer, Stuttgart 1991 [Baden-Württembergisches Pfarrerbuch, Bd. 3], 108–120) und gelangte über den Augsburger Agenten Johann Georg Anckel schließlich in den Besitz Herzog Augusts (Briefwechsel 8./18.3. und 14./24.6.1660; Cod. Guelf. 83 Novi, 579r, 599r–601v; vielen Dank W. Arnold für die freundliche Auskunft; Druck des Briefwechsel vgl. Butzmann Lukan-Handschrift, 31f.). Der Eintrag im Bücherradkatalog gehört in die Jahre 1663/64 (Eintrag im Bücherradkatalog auf pag. 5745; Milde Erwerbungsjahre, 134).

Pergament — 102 Bl. — 18,5 × 11 cm

Lagen: Vor- und Nachsatzblatt Pergament. IV-1 (7). 11 IV (95). IV-1 (102). Reklamanten. Bl. 35–36 und 40–47 ersetzt mit Text von einer Hand des 13. Jh., die auch in weiteren Handschriften aus Montecassino nachzuweisen ist (vgl. Newton Monte Cassino, 109). Neuere Tintenfoliierung. Einige Schadstellen im Pergament mit Papier ausgebessert. Schriftraum: 14,5 × 6,5 cm, einspaltig, 31 Zeilen. Littera Beneventana (ausführliche Schriftanalyse vgl. Newton Monte Cassino, 391; Butzmann Lukan-Handschrift, 27ff.). Jede Zeile eingeleitet mit einer zum Rand abgerückten Majuskel oder Minuskel. Diese mit Orange-Rot und Grün (von Beginn bis 9r) oder ausschließlich Grün (9r–13r) hinterlegt.

Pergamenteinband mit grünen Bindebändern (Bänder zum Teil abgerissen). Butzmann geht davon aus, dass die Handschrift den vorhandenen Einband unter Herzog August erhielt und davor ungebunden war (Butzmann Lukan-Handschrift, 30).

INHALT

1r–102v Marcus Annaeus Lucanus: De bello civili. Libri I-IX (Prete/Badalì, 76–84; Munk Olsen, Bd. 4,1, 83–87). Fehlstellen aufgrund von Blattverlusten: liber I, 1–60; liber VIII, 423–872; liber IX, 479–1108 und liber X.

AUSSTATTUNG

4 Initialen. Eine Radkarte.

Initialen: Zu zwei Büchern (11r Buch II; 23r Buch III) und zwei weiteren Textabschnitten aus Buch III (25v III, 169 Intera totum ; 27v III, 298 Ille urbi ) kleine Initialen in den Text eingerückt (2,0–4,5 cm). Eine davon als Spaltleisteninitiale mit durch den Initialstamm geflochtener Knospenranke (11r). Eine weitere als Randleisteninitiale mit Endgeflechten und Augenverzierung (25v). Die I-Initiale auf 27v als Pfau.

Radkarte: Auf 102r auf dem äußeren Blattrand zu Buch IX, 411–421 eine Radkarte (TO-Karte). Sie zeigt das Schema nach Isidor von Sevilla; in der Wolfenbütteler Handschrift mit den Abweichungen, dass die lateinischen Bezeichnungen der Koordinaten zusätzlich in Griechisch angegeben werden. In Lukan-Handschriften ist das Schema seit dem 9. Jh. bekannt (Mappemondes, 39 Nr. 16.5, 74 - hier fälschlich ins 12. Jh. datiert, Karte vom Typ A3). 2,9 cm.

Farben: Initialen in feiner Federzeichnung, partiell mit zartem Grünauftrag.

STIL UND EINORDNUNG

Die vorliegende Lukanhandschrift, geschrieben in Beneventa, wird von Newton paläographisch in das süditalienische Benediktinerkloster Montecassino lokalisiert und dürfte unter Abt Desiderius (amt. 1058–1087; später Victor III papa) entstanden sein, wobei die Schrift in die Frühzeit dieser Periode verweist (Newton Monte Cassino, 109, 262). Insgesamt 98 Handschriften haben sich aus dieser Periode erhalten, von denen sich der Hauptanteil noch in der Abtei Montecassino vort Ort befindet (nur 23 Handschriften werden heute in auswärtigen Bibliotheken aufbewahrt; Orezzi Manoscritti desideriani, 67, 68 Anm. 3; Handschrift hier fälschlich als unverziert gelistet). Bereits unter Abt Theobald (1022–1035) setzt in Montecassino eine rege Buchproduktion ein. Unter Abt Desiderius wird diese weiter fortgeführt. In der Schrift und Bildausstattung orientierte man sich an älteren Stilen des Frühmittelalters aus dem nordalpinen Raum. So werden noch Vögel und Pfaue als Buchstabenersatz eingesetzt (vgl. 27v), wie es bereits in der vorkarolingischen Buchmalerei üblich war (vgl. Augustinus-Handschrift aus Luxeuil, 1. Viertel 8. Jh., Cod. Guelf. 99 Weiss., 81r). Die Initiale auf 25v zeigt die für Montecassino typischen Randbandgeflechte mit eingefügten Augenverzierungen. Die eher helle Farbigkeit mit dem dunklen Grün entspricht dem Farbspektrum des Skriptoriums (vgl. W. Augustyn, Italien, in: Geschichte der Buchkultur Romanik, Bd. 2, 42; zum Buchschmuck vgl. Orezzi Manoscritti desideriani). Mit dem Regensburger Evangeliar, das Kaiser Heinrich II. im Anschluss an seinen Besuch im Jahr 1022 der Abtei als Geschenk übergab und das hier als Vorlage und Inspirationsquelle genutzt wurde, begann man, den Initialen die für Regensburg typischen Knollenblattranken hinzuzufügen (Rom, BAV, Ott. lat. 74, Regensburg vor 1024, Nachträge des 11. Jh. in Beneventa; zur Handschrift und ihrer Bedeutung für Montecassino vgl. Siede Rezeption ottonischer Buchmalerei, 13, 57, 198, 200, 204). Erstmals finden sich diese komponierten Initialen im sogenannten Codex Benedictus, einem Lektionar mit Szenen aus dem Leben des hl. Benedikt, das 1071 in Montecassino entstand (Rom, BAV, Vat .lat. 1202; Geschichte der Buchkultur Romanik, 42, Taf. 1). Dieser Initialform zugehörig ist auch die in der Wollfenbütteler Handschrift auf 11r vorhandene I-Initiale.

Wolfenbüttel Aug., Nr. 3561 (Heinemann Nr.). — Butzmann Lukan-Handschrift. — Mappemondes, 39 Nr. 16.5. — Prete/Badalì, 52f. — Newton Monte Cassino, 98, 109–11, 124, 149, 149 Anm. 115, 150, 150 Anm. 119, 170, 262, 273, 308, 391, Taf. 212. — Orezzi Manoscritti desideriani, 68 Anm. 3 und 6.


Abgekürzt zitierte Literatur

Butzmann Lukan-Handschrift H. Butzmann, Über eine beneventanische Lukan-Handschrift (1952), in: H. Butzmann, Kleine Schriften. Festgabe zum 70. Geburtstag, Graz 1973, 25-33
Geschichte der Buchkultur Romanik Geschichte der Buchkultur, hrsg. von O. Mazal, Bd. 4/1,2 Romanik, hrsg. von Andreas Fingernagel, Graz 2007
Mappemondes Mappemondes A.D. 1200-1500, préparé par la Commission des Cartes Anciennnes de l'Union Géographique Internationale, Rédacteur M. Destombes, Amsterdam 1964 (Monumenta cartocraphica vetustioris aevi A.D. 1200-1500 1, Mappaemundi)
Milde Erwerbungsjahre W. Milde, Die Erwerbungsjahre der Augusteischen Handschriften der Herzog August Bibliothek, Supplement zum Katalog von Otto Heinemann "Die Augusteischen Handschriften" Bd. 1-5, Wolfenbüttel 1890-1903, in: Wolfenbütteler Beiträge 14 (2006), 73-144
Munk Olsen B. Munk Olsen, L'étude des auteurs classiques latins aux XIe et XIIe siècles, Bd. 1–4, 1982–2014
Newton Monte Cassino F. Newton, The scriptorium and library at Monte Cassino, 1058 - 1105, Cambridge 1999
Orezzi Manoscritti desideriani E. Orezzi, Decorazione e illustrazione nei manoscritti desideriani. Censimento e analisi quantitativa, in: Il libro miniato e il suo committente. Per la ricostruziome delle biblioteche ecclesiastiche del Medioevo italianos (secoli XI-XIV), hrsg. von T. D' Urso, A. P. Saggese und G. Z. Zanichelli, Padova 2016, 67-83
Prete/Badalì S. Prete, R. Badalì, I codici di Terenzio e quelli di Lucano nella Herzog August Bibliothek di Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 1982 (Repertorien zur Erforschung der frühen Neuzeit 6)
Siede Rezeption ottonischer Buchmalerei I. Siede, Zur Rezeption ottonischer Buchmalerei in Italien im 11. und 12. Jahrhundert, St. Ottilien 1997 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, Ergänzungsband 39)
Wolfenbüttel Aug. Die Augusteischen Handschriften, beschrieben von O. von Heinemann, Teil 1-5, Frankfurt/M. 1890–1903, ND 1965–1966 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe 4–8)