de :: en
Permalink: PURL

Suche


Beschreibung von Cod. Guelf. 576.2 Novi
Die illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 1: 6. bis 11. Jahrhundert, beschrieben von Stefanie Westphal (in Bearbeitung)

Evangeliar

Corvey, Benediktinerkloster — um 1000

Provenienz: Besitzeinträge: 2r der Ortsname Rodhe (14. oder 15. Jh.?) und 149r Iste liber est dominorum de novali. Die Handschrift gehörte zu dem Bestand des Braunschweiger Blasius-Stifts, in dessen Besitz sie zu einem unbestimmten Zeitpunkt gelangte. Von dort kam sie in das Herzogliche Landeshauptarchiv (vermutlich 1837); 1885 wurde sie im Tausch gegen Urkunden für die Herzog August Bibliothek erworben.

Pergament — 200 Bl. — 26,5 × 19 cm

Lagen: IV (8). IV-1 (15). 5 IV (55). IV (63). III-1 (68). IV (76). IV+1 (85). III+1 (93). IV+1 (107). 5 IV (147). V-1 (156). 3 IV (180). V (190). III+1 (197). II-1 (200). Neuere Tintenfoliierung, teilweise ersetzt und berichtigt durch Bleistiftfoliierung. Schriftraum: 19,5 × 12 cm, einspaltig, 26 Zeilen. Karolingische Minuskel von mehreren Händen. Händewechsel bei 16r, 24r, 32r, 61r, 96r, 101r, 103r. Überschriften und Anfangszeilen in Capitalis und Unzialis. Versanfänge mit rubrizierten Initialbuchstaben vor dem Text.

Holzdeckeleinband. Brauner Lederbezug aus dem 19. Jh. mit dunkel gefärbten Ecken und Rücken. Zwei Schließen; Riemen erneuert mit älteren Messingösen. Die obere Öse zeigt einen bärtigen Männerkopf (Maske?), die untere einen Frauenkopf.

INHALT

Evangeliar. (1r2v) Praefatio in Evangelio (Stegmüller RB 595; PL 29, 525–530). (2v4r) Prologus Mt (Stegmüller RB 596; PL 29, 15–20 A.). (4rv) Prologus Mt (Stegmüller RB 581; PL 29, 529–531). (5r) Prologus Mt (Stegmüller RB 601; PL 29, 529 Anm. c). (5rv) Prologus Mt (Stegmüller RB 590). (6r8r) Capitula. — 8v leer. (9r14v) Kanontafeln. — 15r leer. (15v) Evangelistenportrait Mt (Zeichnung). (16r65r) Mt. (65r65v) Prologus Mc (Stegmüller RB 607; PL 103, 279). (66r68r) Prologus Mc (Stegmüller RB 611, anschließend Breviarium). (68v) Evangelistenbild Mc (Zeichnung). (69r94r) Mc. — 95v leer. — 95v leer. (96r100r) Prologogus Lc (Stegmüller RB 612; PL 30, 463, anschließend Capitula). (100v) Evangelistenbild Lc (Zeichnung). (101r148r) Lc. (148r150r) Prologus Io (Stegmüller RB 624; PL 92, 633–636; anschließend Breviarium). (150v) Evangelistenbild Io (Zeichnung). (151r186v) Io. (187r200v) Capitulare.

AUSSTATTUNG

1 Initiale. Kanontafeln. 4 ganzseitige Federzeichnungen.

Federzeichnungen: Vor den Evangelien ganzseitige Federzeichnungen der Evangelisten, jeweils unter einer Arkade auf einem Thron sitzend (15v Matthäus, 68v Markus, 100v Lukas, 150v Johannes). In den Tympana die jeweiligen Evangelistensymbole mit aufgeschlagenen Büchern und begleitendem Namenszug (bei Matthäus ist der Namenszug in den Architrav gesetzt). Arkaden, Säulen und Architrave unverziert. Die Säulen mit kugelförmigen (68v, 100v), in Voluten umgeschlagenen (15v), oder flechtband- bzw. schlaufenförmig angelegten Basen. Die Kapitelle mit Blüten- oder Blattverzierungen (68v, 150v, 15v) oder unverziert (100v).

15v Matthäus. Frontal thronend mit nach links gerichtetem Blick. Die Linke am links vor ihm stehenden Schreibpult, in der Rechten eine Schriftrolle. Auf der Platte unter dem Thron die Inschrift R.a.h. Im oberen Bogenfeld das Evangelistensymbol (Engel) als Brustbild. 19,8 × 13,0 cm.

68v Markus. Seitlich nach links gedreht sitzend. Auf seinem Schoß das aufgeschlagenen Buch, in das er vornüber gebeugt schreibt. In der Linken hält er das Tintenfass. Im oberen Bogenfeld sein Evangelistensymbol, der Löwe nach links liegend und rückblickend. 18,2 × 12,0 cm.

100v Lukas. Frontal thronend nach links blickend. In der erhobenen Rechten der Griffel, mit der Linken eine Schreibtafel umfassen, die auf dem linken Oberschenkel ruht. Im oberen Bogenfeld sein Evangelistensymbol, der Stier, nach rechts liegend. 20,5 × 12.0 cm.

150v Johannes. Frontal thronend und inspiriert zu seinem Symbol aufblickend, mit Griffel in der Rechten und Tintenfass und Schreibtafel in der Linken. Rechts neben ihm ein Pult mit dem aufgeschlagenen Buch. Im oberen Bogenfeld sein Evangelistensymbol, der Adler, nach rechts gedreht und rückblickend. 20,1 × 13,0 cm.

Die Figuren und deren Gewänder mit harter, linearer Linienführung ohne Plastizität. Die Gesichter mit relativ runden Gesichtszügen und großer Augenpartie.

Kanontafeln: 9r14v 3- und 4spaltige Kanonbögen mit schlanken, hohen Säulen und oben abschließender Arkadenreihe (20,5 × 12,5 cm). Säulen und Arkaden unverziert. Basen kugelförmig (10v, 10r), einfach konkav (11r, 11v, 12r, 12v, 13r, 13v), mit eingerollten Voluten (9r, 9v), Palmetten (14r) und knospenartigen Ansätzen (14v). Die Kapitelle mit antithetisch verschlungenen Tierköpfen (9r, 9v), Tiermasken (10r, 10v), antithetisch gesetzten Blattknospen (11r, 11v) und weiteren Knospenvariationen (12r, 12v), Gesichtern (13r, 13v) und einer mit Schlaufe verbundenen Doppelpalmette (14r, 14v).

Initiale: Auf 16r eine Randleisteninitiale mit End- und Gliederungsgeflechten (9,0 cm). Als Füllmotiv ein Palmettenfries. Vom Gliederungsgeflecht ausgehend ein Rankentrieb, bestehend aus Profilpalmetten.

Farben: Sämtliche Ausstattung ausgeführt mit Federzeichnung in Tintenfarbe. Details in Orange (Minium) und Tintenfarbe (Dunkelbraun). Für die Zeichnung des Johannes (150v) zusätzlich Verwendung von Dunkelrot. Die Initiale auf 16r ausschließlich in Minium.

STIL UND EINORDNUNG

Mit dem Verweis auf 2r Rhode (Heinemann las noch Liber beate Mariae Magdalene in Rodhe; vgl. Bauer, Bd. 1, XXI), ist davon auszugehen, dass sich das vorliegende Evangeliar ehemals in der Probstei Maria Magdalena in Tom Roden, nördlich des Benediktinerklosters Corvey (seit 1184; vgl. H. Richtering, Stifte und Klöster im Weserraum, in: Ostwestfälisch-Weserländische Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde, hrsg. von H. Stoob, Münster 1970, 404) befand, bevor es in den Bestand des Kollegiatsstift St. Blasius nach Braunschweig überging. Aufgrund von stilistischen Vergleichen der Autorenportraits mit den Handschriften der sogenannten Federzeichnungsgruppe (Kassel, UBLMB, 2° Ms. theol. 60 (Evangeliar aus Abdinghof), Wesergebiet, um 1000; Kunst und Kultur im Weserraum, Nr. 173, Abb. 167; Cod. Guelf. 16.1 Aug. 2°, Corvey, Ende 10. Jh. und das Fragment eines Evangelistars Leipzig, UB, Rep. I 57, Corvey, um 1000; Kunst und Kultur im Weserraum, Nr. 171, Abb. 163, 164), die stilistisch auf Vorbilder aus Reims zurückgreifen, ging T. Buddensieg von einer Entstehung des Evangeliars in Corvey mit einer Datierung um 1000 aus (Buddensieg, 101–105). Diese Einordnung wurde mit dem Verweis Butzmanns auf das Evangeliar aus der Schönbornschen Sammlung (Pommersfelden, Schönbornsche Schloßbibliothek, Hs. 94 (2795), Niedersachsen (?), um 1000; Die Grafen von Schönborn, Kirchenfürsten, Sammler, Mäzene, Ausstellung Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 18. Februar - 23. April 1989, Nürnberg 1989, 448f. Nr. 355 [R. Kahsnitz]; Hoffmann Schreibschulen, 84, 85) in Frage gestellt. Das Schönbornsche Evangeliar, das sich seit 2015 in der Staatsbibliothek Bamberg befindet und dort die Signatur Bamberg, SB, Msc. Add. 3000 erhielt, enthält Evangelistenzeichnungen, die bis auf einige kleine Details den Zeichnungen der Wolfenbütteler Handschrift entsprechen (zur Handschrift vgl. K.-G. Pfändtner, Drei Neuerwerbungen für die Staatsbibliothek Bamberg aus Pommersfelden, in: Codices manuscripti et impressi, Bd. 103/104 [2016], 13–26, hier 13–14, Abb. 1–3; W. Taegert, Zimelien aus der Schlossbibliothek Pommersfelden, um 1000, 1415, um 1463/64, in: Jahresbericht der Ernst Siemens Kunststiftung München, Bd. 32 [2014/15], 16–17). R. Kahsnitz erkannte in diesem Zusammenhang, dass die Zeichnungen des Schönbornschen Evangeliars im Vergleich zur Wolfenbütteler Handschrift weniger sicher und in den Umrisslinien weniger stimmig erscheinen und stufte dementsprechend die Schönbornsche Handschrift als direkte Kopie des Wolfenbütteler Evangeliars ein. Kahsnitz schließt für die Schönbornsche Handschrift, die einem Eintrag aus dem 15. Jh. nach aus dem Besitz des 1159 gegründeten Augustiner-Chorherrenstifts Rebdorf in Eichstätt stammt, eine Entstehung in Franken oder Süddeutschland aus. Trotz der von Bauer geäußerten Bedenken (Bauer, Bd. 1, XXI), plädiert Kahsnitz für eine niedersächsische Herkunft beider Codices. Hoffmann gibt die Wolfenbütteler Handschrift paläographisch nach Sachsen (Thüringen) mit einer Datierung gegen Ende des 10. Jh.

Butzmann Extravagantes, Novi, Novissimi, 358–361. — Milde, 29–31. — Bauer, Bd. 1, XXI-XXIII. — Buddensieg, 101–105, Abb. 17–20. — Die Grafen von Schönborn, Kirchenfürsten, Sammler, Mäzene, Ausstellung Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 18. Februar - 23. April 1989, Nürnberg 1989, 448f. Nr. 355 (R. Kahsnitz). — Krämer, Bd. 1,1.2, 111, 690. — A. Haucap-Neß, Die Stiftsbibliothek von St. Blasius in Braunschweig, in: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Vorträge gehalten anläßlich des 33. Wolfenbütteler Symposions vom 16. bis 19. Februar 1993, hrsg. von B. Schneidmüller, Wolfenbütteler Symposion 33, 1993, Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, Bd. 7), 217. — Hohmann Chorschranken, 73. — Heitzmann, Nr. 4. — Hoffmann Schreibschulen, 84, 85.


Abgekürzt zitierte Literatur

Bauer G. Bauer, Corvey oder Hildesheim? Zur ottonischen Buchmalerei in Norddeutschland, 2 Bde., Phil. Diss., Hamburg 1977
Buddensieg T. Buddensieg, Zur ottonischen Buchmalerei und Elfenbeinskulptur in Sachsen, in Studien zur Buchmalerei und Goldschmiedekunst des Mittelalters. Festschrift für Karl Hermann Usener zum 60. Geburtstag am 19. August 1965, hrsg. von F. Dettweiler, H. Köllner und P. A. Riedl, Marburg 1967, S. 93-114
Butzmann Extravagantes, Novi, Novissimi H. Butzmann, Die mittelalterlichen Handschriften der Gruppen Extravagantes, Novi und Novissimi, Frankfurt/M. 1972 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die Neue Reihe 15)
Heitzmann C. Heitzmann, "Ganze Bücher von Geschichten". Bibeln aus Niedersachsen, Wolfenbüttel 2003 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 81)
Hoffmann Schreibschulen H. Hoffmann, Schreibschulen und Buchmalerei. Handschriften und Texte des 9.–11. Jahrhunderts, Hannover 2012 (MGH Schriften 65)
Hohmann Chorschranken S. B. Hohmann, Die Halberstädter Chorschranken. Ein Hauptwerk der niedersächsischen Kunst um 1200, Berlin 2000 (Neue Forschungen zur deutschen Kunst 3)
Krämer S. Krämer, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Bd. 1–3, München 1989–1990 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsband 1)
Kunst und Kultur im Weserraum Kunst und Kultur im Weserraum 800–1600. Ausstellung des Landes Nordrhein-Westfalen, Corvey 1966, Bd. 2: Katalog, hrsg. von B. Korzus u. a., Münster/Westf. 1966
Milde Mittelalterliche Handschriften der Herzog August Bibliothek, ausgewählt und erläutert von W. Milde, Frankfurt/M. 1972 (Kataloge der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sonderbd. 1)
PL Patrologiae cursus completus. Series Latina, Bd. 1–221, hrsg. von J. P. Migne, Paris 1844–1865
Stegmüller RB F. Stegmüller, Repertorium biblicum medii aevi, Bd. 1–11, Madrid 1950–1980

Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Teil I (6.–11. Jh.).
  • Weitere Literaturnachweise im OPAC suchen.
  • Weitere Literaturnachweise suchen (ehem. Handschriftendokumentation)
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (copyright information)