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Beschreibung von Cod. Guelf. 643 Helmst. (geplant: Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil V: Cod. Guelf. 616 bis 927 Helmst., beschrieben von Bertram Lesser.)
Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil V: Cod. Guelf. 616 bis 927 Helmst., beschrieben von Bertram Lesser (in Vorbereitung).
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Programms Erschließung und Digitalisierung handschriftlicher und gedruckter Überlieferung

Chronica

Pergament — 216 Bl. — 21,5 × 16 cm — Norddeutschland — 14. Jh., 1. Hälfte

Lagen: 27 IV (214)! Reklamanten, dazu Kustoden (Bleistift bzw. Griffelritzung, möglicherweise nachträglich) in römischen Zahlen auf dem Fußsteg der letzten Versoseite jeder Lage: IXXVII. Zeitgenössische Tintenfoliierung in arabischen Ziffern: 1214 (auf den ersten Bll. stark verblasst), letztes Bl. ungez., Zählfehler: Bl. 189 doppelt gez. Schriftraum: 16 × 12 cm, zweispaltig (Spalten jeweils ca. 5–5,5 cm breit), 28 meist tintenliniierte Zeilen. Regelmäßige Textualis von einer Hand. Keinerlei Buchschmuck, Raum für Initialen bzw. Lombarden ausgespart.

Der ursprüngliche gotische Einband ist verloren. Gegenwärtig in einen Pappdeckelband mit durchgezogenen Bünden aus der Werkstatt des Buchbinders Anton Friedrich Wirck in Helmstedt gebunden. Rücken und Ecken sind mit ungefärbtem Pergament überzogen; die Deckel selbst wurden mit hellrotbraunem, fein marmoriertem Kiebitzpapier kaschiert. Auf dem Rücken befindet sich eine stark verblasste Titelaufschrift (18./19. Jh.): Chronica a mundo condito ad annum 1245. Fragmentum ex Fretello de locis quibusdam terre. S. Burchardi descriptio terrrae sanctae. Johannis presbyteri epistola de Abyssinia sive Aethiopia.

Herkunft: Nach den paläographischen Merkmalen und den wenigen inhaltlichen Kriterien wurde der Codex in der ersten Hälfte des 14. Jh. im norddeutschen Raum, vermutlich im Umkreis des Dominikanerordens, geschrieben. Eine genauere Lokalisierung ist nicht möglich, da der Buchschmuck, der originale Einband und konkrete Besitzvermerke fehlen. — Der Codex gelangte zu einem unbekannten Zeitpunkt in den Besitz von Matthias Flacius Illyricus, auf dem Kopfsteg von Bl. 1r Inhaltsangabe: Chronica (dieselbe Hand wie Cod. Guelf. 616 Helmst., Ir, nicht von Flacius, sondern von einem Mitarbeiter oder Sekretär der Centuriatoren). — Zusammen mit der übrigen Bibliothek des Matthias Flacius Illyricus am 20.4.1597 von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg erworben, 1614 im Gesamtkatalog der Bibliotheca Julia in Wolfenbüttel von Liborius Otho (Cod. Guelf. A Extrav., p. 114 [110]) unter Nr. K 29 der Libri historici nachgewiesen: Chronica in gros Quart pergamen manuscripta. — 1618 aus Wolfenbüttel in die Universitätsbibliothek Helmstedt überführt; 1644 in deren Handschriftenkatalog (Cod. Guelf. 27.2 Aug. 2°, 31v) unter den Miscellanei MSSti in quarto als Chronicon anonymi desinens in Friderico II. Fragmentum descriptionis Terrae Sanctae. In membrana ohne band beschrieben; auf dem Fußsteg von Bl. 1r die zugehörige Helmstedter Signatur Misc. 4to. 72. Im Handschriftenverzeichnis von 1797 (BA III, 52) unter Nr. 583 aufgeführt. Aus welchem Grunde nach 1805 auf Bl. I*v der sonst nur bei Drucken verwendete Besitzstempel der UB Helmstedt mit der Aufschrift: EX BIBILIOTHECA ACADEMIAE IVLIAE CAROLINAE HELMSTADII angebracht wurde, ist unbekannt. Vgl. dazu Bibliotheksstempel, 114 Nr. 75.

Ebert Handschriften, 10. — Heinemann Nr. 693. — Hartmann, 238.

1ra–215ra Chronica variis ex fontibus hausta. [S]icut sex diebus opera sua consummavit deus et in septimo requievit ita sex etatibus humanum genus in hoc seculo per successionem temporum operibus suis insignivit … — … in altera vero parte nemo potest scire quantum nostri dominii immensitas et spaciositas protendatur. Sit nomen domini nostri Ihesu Christi benedictum ex hoc nunc et semper. Bei dem in dieser Form unikal überlieferten Text handelt es sich um ein bearbeitetes, in Kapitel und Abschnitte gegliedertes, fortlaufendes Exzerpt aus folgenden Stücken: (1ra2va) Allgemeine Zeitalterlehre und Weltgeschichte I bis zur Sintflut: Vincentius Bellovacensis: Memoriale omnium temporum cap. 2 und 3 (= Speculum naturale 32,26 und 27, beide Kapitel fast vollständig). Alle übrigen Abschnitte bis Bl. 196r sind entnommen aus Vincentius Bellovacensis: Speculum historiale, wobei die stark gekürzten Exzerpte historische Ereignisse nur in Auswahl präsentieren und bis auf wenige Ausnahmen die umfangreichen Schriftstellerauszüge weglassen: (2va14vb) Erdteile, Völkertafel und Geschichte bis zu Moses (Buch 1); (14vb20va) Geschichte bis zur babylonischen Gefangenschaft Israels (Buch 2); (20va30vb) Perserreich und Israel (Buch 3); (30vb41va) Alexander der Große (Buch 4); (41va52va) Tod Alexanders bis Caesar (Buch 5); (52va59vb) Caesar und Augustus, Geburt Christi (Buch 6); (59vb79vb) Römische Imperatoren von Tiberius bis Valens (Bücher 7–14, besonders knapp gehaltene Auswahl ohne biblische Geschichte); (79vb85va) Gratian und spätantike Reiche in Asien und Europa (Buch 16); (79vb92ra) (West- und Ost-)Römische Kaiser von Theodosius I. bis Zeno und Odoaker, Franken und Briten (Bücher 17–20); (92ra97vb) Oströmische Kaiser von Anastasius I. bis Phokas, Merowinger bis Chlothar II. (Bücher 21 und 22); (97vb123va) Oströmische Kaiser von Herakleios bis Konstantin V., Franken bis zur Kaiserkrönung Karls des Großen (Buch 23, besonders ausführlich 98ra105vb aus den Kapiteln 39–57 zur Lebensgeschichte Mohammeds, vgl. dazu M. di Cesare, The pseudo-historical image of the Prophet Muḥammad in medieval Latin literature. A repertory, Berlin, Boston 2012 [Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients NF 26], 316–336 Nr. 40); (123va149va) Kaiser von Karl dem Großen bis Otto III., Frankreich (Buch 24, ausführlich die Rolandsgeschichte, 141va aufgrund durchschlagender Tinte freigelassen); (149va179va) Kaiser von Heinrich II. bis Heinrich IV. (Buch 25, bes. umfangreiche Auszüge aus den Kapiteln 91–105 zum ersten Kreuzzug und den Kapiteln 118–145 mit dem "Dialogus contra Iudaeos" des Petrus Alfonsi); (179va183vb) Heinrich V. (Buch 26, am Schluss Hugo von St. Victor mit folgendem, bei Vinzenz fehlenden Satz: Hic fertur oriundus de quadam villa Saxonie que vocatur Hamersleue); (183vb185vb) Lothar III. und Konrad III. (Buch 27); (185vb191va) Kaiser von Friedrich I. bis Otto IV., staufisch-welfischer Thronstreit (Buch 29, bemerkenswert 186vb187ra zu Elisabeth von Schönau und ihrem Werk "Liber viarum dei": Eodem tempore in villa Saxonie Scinomalis [!] Elizabeth mirabiles vidit visiones inter quas et angelus ei familiaris librum viarum dei annunciavit. Has visiones licet pulcherrimas auctor speculorum hic obmittit utpote gallicus qui gesta theutonicorum quantocumque memorabilia aut obmittere aut minus plene prosequi in suo opere a curiose [!] lectore poterit deprehendi nichil de theutonicis posuit nisi ea sine quibus gesta Gallicorum explanare non potuit unde ibi vicem in hoc opusculo reddidi, dazu Sondertext zum dritten Kreuzzug, vgl. MGH SS 24, 158 im Apparat, außerdem 188vb189ra zur Absetzung Heinrich des Löwen, die bei Vinzenz fehlt: Eodem anno [sc. 1182] dux Saxonie ab imperatore Frederico convictus et universorum imperii baronum iudicio condempnatur atque a ducatu in perpetuum deiectus vel deiciendus optinet graciam imperatoris et iurat se Saxoniam non intraturum nisi exiliaverit per septennium). (191va196ra) Friedrich II. bis 1244 (Buch 30, 192vb der Schluss des Kapitels 66 [Anno itaque domini 1216 confirmatus est fratrum praedicatorum ordo] modifiziert: Anno Frederici V qui fuit ab incarnacione M CC XVI scilicet sequenti anno post concilium Lateranensem generale confirmatus est ordo praedicatorum omnium ordinum preclarissimus, Schwerpunkt auf dem 5. Kreuzzug von 1217). Druck (kurze Ausschnitte, darunter der Schluss dieses Abschnitts): MGH SS 24, 154162 (mit dieser Hs., 156 genannt); Vincentius Bellovacensis 1, Sp. 2419B–2420C (Speculum naturale, vergl.); 4, Sp. 24–1285 (Speculum historiale, vergl.). Literatur: Rep. font. 11, 356–359; M. Paulmier-Foucart, Histoire ecclésiastique et histoire universelle: le Memoriale temporum, in: Vincent de Beauvais. Intentions et réceptions d'une oeuvre encyclopédie au Moyen-Âge, hrsg. von ders., S. Lusignan und A. Nadeau, Montréal, Paris 1990 (Cahiers d'études médiévales. Cahier spécial 4), 87–110; R. Weigand, Vinzenz von Beauvais. Scholastische Universalchronistik als Quelle volkssprachiger Geschichtsschreibung, Hildesheim 1991 (Germanistische Texte und Studien 36), 112f. Nr. 10 und 11 (Hs. genannt). Zum bereits in den Vinzenz-Auszügen erkennbaren Interesse des anonymen, aufgrund des zitierten Sonderguts vermutlich in einem norddeutschen Dominikanerkonvent zu suchenden Kompilators am Heiligen Land passen auch die ohne Binnengliederung direkt anschließenden Exzerpte:
(196ra211ra) Descriptio Terrae Sanctae ex descriptione Terrae Sancta Burchardi de Monte Sion deprompta. Der Auszug umfasst neben dem Prolog in z. T. abweichender Anordnung die Kapitel 8 (Jerusalem) und 9 (Umgebung Jerusalems), wobei insbesondere in letzterem Abschnitte aus den Kapiteln 6 und 7 aufgenommen wurden, wenn im laufenden Text auf diese verwiesen wird. Die auf dem Rückentext der Hs. vorgenommene Identifikation des Textes (inbesondere des dem eigentlichen Prolog vorangestellten Abschnitts 196ra–va) mit dem "Liber locorum sanctorum Terrae Jerusalem" des Rorgo Fretellus ist daher nicht zutreffend. Der vollständige Text der Langfassung in Cod. Guelf. 354 Helmst., 132va–167rb; eine abweichende Abschrift in Cod. Guelf. 41 Weiss., 179va–197rb. Druck: J. C. M. Laurent, Peregrinatores medii aevi quatuor: Burchardus de Monte Sion, Ricoldus de Monte Crucis, Odoricus de Foro Julii, Wilbrandus de Oldenburg, Leipzig 21873, 19–94, hier 19–21, 63–76 und 78–82; Liber de descriptione terrae sanctae, Textus conferendus, hrsg. von W. A. Neumann, Genf 1880. Literatur: Röhricht 56–60 Nr. 143 (57 Nr. 49 Hs. genannt); Potthast Wegweiser 1, 177; Thorndike/Kibre, 308.9; Rep. font. 2, 609; Kaeppeli 707 (Hs. genannt); CALMA 2, 519f. Nr. 1; I. Baumgärtner, Reiseberichte, Karten und Diagramme. Burchard von Monte Sion und das Heilige Land, in: Geschichtsvorstellungen. Bilder, Texte und Begriffe aus dem Mittelalter. Festschrift für Hans-Werner Goetz zum 65. Geburtstag, hrsg. von S. Patzold, A. Rathmann-Lutz und V. Scior, Wien, Köln, Weimar 2012, 460–507; I. Baumgärtner, Burchard of Mount Sion and the Holy Land, in: Peregrinations. Journal of medieval art and architecture 4 (2013), 5–41; J. Rubin, The manuscript tradition of Burchard of Mount Sion’s Descriptio Terre Sancte, in: The Journal of Medieval Latin 30 (2020), 257–286 (286 Hs. genannt, Sigle Wo3).
(211rbI*ra) Epistola presbyteri Johannis (recensio prima, partim). Der lückenhafte, ohne Übergang an das Vorhergehende anschließende Text enthält als bearbeitete Auswahl aus dem Text der Urfassung die Abschnitte § 1–7, 9–14, 21–321, 38–40, 42, 43, 452, 46–49, 51–68, 71–75, 972, 98 und 99 (Zählung nach der Ausgabe von Brewer, vgl. unten). Ein weiterer Textzeuge der Urfassung auch in Cod. Guelf. 42.3 Aug. 2°, 292v–294v; andere Redaktionen in Cod. Guelf. 205 Helmst., 103ra–104vb (Redaktion B, unvollständig); 420 Helmst., 2ra–6ra (Redaktion C, vollständig); 11 Aug. 4°, 205v–207v (Redaktion C, unvollständig); 13.6 Aug. 4°, 13ra–14ra (Redaktion E, unvollständig). Druck: F. Zarncke, Der Priester Johannes, in: Abhandlungen der Philologisch-Historischen Classe der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 7/8, Leipzig 1879, 830–1030, hier 909–924 (ohne Kenntnis dieser Hs.); K. Brewer, Prester John. The legend and its sources, Farnham u.a. 2015 (Crusade texts in translation 27), 46–66 (Text), 309 Nr. 191 (Hs. genannt). Literatur: B. Wagner, Die "Epistola presbiteri Johannis" lateinisch und deutsch. Überlieferung, Textgeschichte, Rezeption und Übertragungen im Mittelalter; mit bisher unedierten Texten, München 2000 (MTU 115), 127 Nr. 193 (diese Hs., Sigle Wo2), 163–166. – I*v leer.


Abgekürzt zitierte Literatur

Bibliotheksstempel Bibliotheksstempel. Besitzvermerke von Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von A. Jammers, Wiesbaden 1998 (Beiträge aus der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz 6)
CALMA C.A.L.M.A. Compendium auctorum latinorum medii aevi, hrsg. von M. Lapidge u.a., Bd. 1–, Firenze 1999–
Ebert Handschriften F. A. Ebert, Handschriften der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel zur älteren deutschen Geschichte, in: Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 6 (1831), 1–34
Hartmann M. Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters, Stuttgart 2001 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 19)
Heinemann O. von Heinemann, Die Helmstedter Handschriften, Bd. 1–3, Wolfenbüttel 1884–1888, ND Frankfurt/M. 1963–1965 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe 1–3)
Kaeppeli T. Kaeppeli, Scriptores ordinis praedicatorum, Bd. 1–4, Rom 1970–1993
MGH SS Monumenta Germaniae Historica. Scriptores (in Folio), Bd. 1–, Hannover 1826–
MTU Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, München 1961–, Tübingen 1994–
Potthast Wegweiser Bibliotheca historica medii aevi. Wegweiser durch die Geschichtswerke des europäischen Mittelalters bis 1500, 2 Bde., hrsg. von A. Potthast, Berlin 21896, ND Graz 1957
Rep. font. Repertorium fontium historiae medii aevi, Bd. 1–12, hrsg. vom Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, Rom 1962–2007
Röhricht R. Röhricht, Bibliotheca geographica Palaestinae. Chronologisches Verzeichniss der auf die Geographie des Heiligen Landes bezüglichen Literatur von 333 bis 1878 und Versuch einer Cartographie, Berlin 1890
Thorndike/Kibre L. Thorndike, P. Kibre, A catalogue of incipits of mediaeval scientific writings in latin, revisited and augmented edition, London 21963 (Mediaeval Academy of America publication 29)
Vincentius Bellovacensis Bibliotheca mundi seu speculi maioris Vincentii Burgundi præsulis Bellovacensis, ordinis Prædicatorum, Bd. 1–4, Douai 1624

Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der mittelalterlichen Helmstedter Handschriften Teil IV.
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