Die illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 1: 6. bis 11. Jahrhundert, beschrieben von Stefanie Westphal (in Bearbeitung) (Vorläufige Beschreibung)
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 81.17 Aug. 2°
Psalterium
Saint Bertin, Benediktinerkloster — 9. Jh., 2. Viertel
Provenienz: Innendeckel, rechte untere Ecke: R. D. Velis quod potes. Von Herzog August d. J. zwischen 1651 und 1665, wohl auf einer Auktion in Holland für die Bibliothek erstanden (Eintrag im Bücherradkatalog auf pag. 4087; , 26; , 113, hier mit den Erwerbungsjahren 1652/53 verzeichnet).
Pergament — 98 Bl. — 28,7 × 22,2 cm
Lagen: IV-1 (7). 5 IV (79). VI-1 (86). IV (94). III-3 (98). Neuere Tintenfoliierung. Schriftraum: 20,4 × 14,6 cm, zweispaltig, 26 Zeilen. Karolingische Minuskel von zwei Händen. 1. Hand: 1–96v, 2. Hand: 97r–98v. Incipitseite (1v) in goldener Capitalis. Überschriften und Textanfänge in Capitalis oder Unzialis. Zu Beginn des Psalters eine Incipt- und eine Initialzierseite. Ab Ps 10 jeder 10. Psalm und der Beginn der Cantica mit einer gerahmten Initialzierseite (Zierseite zu Ps 120 fehlt). Zu den restlichen Psalmanfängen kleinere Initialen oder einfache Kapitale.
Pappdeckel mit braunem Leder überzogen (18. Jh.)
INHALT
Psalterium. (1v–90v) Liber psalmorum iuxta editionem LXX interpretum a sancto Hieronymo presbytero emendatus. (91r–98v) Cantica 91r Canticum Isaiae. 91v Canticum Ezechiae regis. 92v Canticum Annae. Canticum Moysi. 93r Canticum Abacuc. 94r Canticum Deuteronomii. 95v Ymnus trium puerorum. 96r Canticum Zachariae. 96v Canticum sanctae Mariae. 97r Canticum Symeonis, Te deum laudamus …. 97v Quidam sapiens …. 98r Canticum angelorum, Oratio Dominica, Symbolum apostolorum, Fides catholica sancti Athanasii episcopi (zum Text und zur Reihung vgl. ausführlich , 107–114).
AUSSTATTUNG
6 Hohlbuchstaben. Zahlreiche Goldinitialen. Eine Incipitseite. 15 Initialzierseiten.Initialzierseiten und Incipitseite: Die Initalzierseiten als gerahmte Seiten mit je einer großen Initiale oder Initialligatur und anschließendem Text (2r Ps 1, 7r Ps 10, 12v Ps 20, 18v , 26v Ps 40, 32v Ps 50, 38v Ps 60, 44r Ps 70, 52r Ps 80, 58v Ps 90, 63r Ps 100, 72r Ps 110, 82v Ps 130, 86v Ps 140, 91r Beginn des Canticum Esaiae). Zur Initialausstattung vgl. oben. Die Rahmen den Initialen entsprechend mit breitem Goldrand und gefüllter Mittelpaneele. Als Gliederungs- und Eckelemente aus der Konturlinie hervorgehende Verflechtungen oder Rosetten (12v und 52r). Als Füllmotive der Zierseite des ersten Psalms (2r) in Minium ausgespart: Wirbelmotive, Vögel, gegenständige Profilpalmetten, Stauden, Ranken, Kreuze (2r). Als Füllmotive der restlichen Zierseite (außer der Inciptseite 1v - hier nur Flechtband): farbige Ranken (2r, 7r, 52r, 58v, 91r), Schraffuren (32v), Wellenlinien (18v, 26v, 72r, 82v, 86v), Seilband (38r), Pfeilmuster (44r), Zickzacklinie (58v).
Initialen und Hohlbuchstaben: Zu den Psalmenanfängen und auf den Initialzierseiten rotkonturierte Goldinitialen 3,5–16,0 cm. Initialstämme häufig durch freigelassene Segmente geteilt. Einige Buchstaben vollständig in geometrische Formen, wie z.B. Spirale oder Kreuz, übergehend (30r, 40r, 56r). In den Initialstämmen Panneele mit Flechtband vor schwarzem Grund. Diese in Aussparungstechnik, häufig auch mit Schlangenverzierungen (4r, 4v, 12r, 17v, 21v, 24r, 29r, 42v, 52r), gelegentlich mit farbigen Wellenlinien (33v, 36v, 38r). End- und Gelenkstellen mit farbig hinterlegten Verflechtungen. Die Initialstämme enden häufig in einfachen, doppelt oder aufwendiger verzierten Knospen (9r, 13v, 14v, 29v - kombiniert mit Profilpalmetten, 26v, 27v, 39v, 53r, 55v, 87v, 95v) und Tierköpfen (Fabelwesen: 2r, 4r, 12v, 16r, 16v, 48r, 63r, 64v, 72v; Vögel mit unterschiedlichen Schnabelformen, davon einige mit Zepter im Schnabel: 2r, 5r, 7r, 7v, 17r, 19v, 24v, 26v, 44r, 48v, 52r, 59v, 63v, 70r, 88r). Im Besatz und freistehend den Initialen beigegeben symmetrische Verflechtungen und Drahtgeflechte, teils farbig hinterlegt (12v, 24v, 27r, 41v, 54r, 61r, 64v, 67v, 69r, 72r, 82r, 85r, 86v). Unterschiedliche Blattformen: kräftige Profilpalmetten mit doppelt konturierten Lappungen, gestielten Fruchtständen, rückgebogenen Blattspitzen und fadenförmigen Ansätzen mit kugelartigen Einrollungen (14v, 20r, 53v, 61v, 63v, 83r, 91r, 96r), Palmetten aus der Draufsicht mit kreis- oder herzförmigen Ansätzen (8v, 29v, 30v, 33v, 35v, 37v, 50v, 71v), Blätter mit Äderung (13r, 13v), Zweige mit mehreren Blättern (55v, 87v), gestielte Herz- (35r, 62v, 73r, 74v, 83v, 84v, 89v, 90r) und Kleeblätter (73r, 89r), geometrische Blüten (meist als Zirkelschlagornament 36r, 41v, 42v, 45v, 51r). Ein Spiralbaum, Lebensbaum (58v ) und eine Staude (82v). Zu den hinzugefügten Cantica gefüllte Hohlbuchstaben von einer zweiten Hand 97r–98r; 2,1–4 cm. Die Initialstammenden mit eingerollten Serifen und umgeschlagenen Blattenden. Als Füllmotive Achterschlingen (97r), Pfeile (98r) und ein stilisierter Fisch (98r).
Farben: Reicher Goldauftrag, Gelb, Dunkelrot, Minium, Grün, Beige/Braun, Türkisblau, Blassrosa. Die gefüllten Hohlbuchstaben der hinzugefügten Cantica (vgl. 98r) in schwarzer Feder mit Minium.
STIL UND EINORDNUNG
Der Psalter Cod. Guelf. 81.17 Aug. 2°, mit seiner reichen Ornamentausstattung, gehört zu den Handschriften im sogenannten frankosächsischen Stil. Zusammen mit 5 weiteren erhaltenen Handschriften wurde er im 2. Viertel des 9. Jh. im nordfranzösischen Kloster Saint Bertin bei Saint Omer geschrieben und illuminiert, wobei die Ausstattung einer frühen frankosächsischen Stilstufe entspricht (auch als Untergruppe der sogenannte Hauptgruppe bezeichnet; zur Gruppe vgl. Berlin, SBBPK, Ms. theol. lat. fol. 58 (Ludwigspsalter), zur Handschrift vgl. , Nr. 73; Prag, Archiv Pražského Hradu, B 66; Rom, BAV, Pal. lat. 47; Boulougne-sur-Mer, BM, Ms. 71 und Saint Omer, BM, Ms. 254. Die Lokalisierung der Handschriften nach Saint Bertin/Saint Omer erfolgte aufgrund der in der Litanei des Berliner Psalter erfolgten Nennung der Heiligen Audomarus und Bertinus (vgl. , Die Regensburger Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, Leipzig 1901, 14; zum Kloster Saint Bertin vgl. , 15–22). Der Beginn der Buchproduktion lässt sich für Saint Bertin mit dem Berliner Psalter stilistisch im frühen 2. Viertel des 9. Jh. verankern. Nach schweren Normannenüberfällen (für die Jahre 860, 879 und 891 belegt) endete vermutlich bereits in den 60er Jahren die Tätigkeit des Skriptoriums und Handschriftenbestände sowie eventuell auch ausführende Künstler fanden im nordfranzösischen Kloster Saint Amand, das in der Zeit 844–864 durch das doppelte Abtamt Adalhards mit Saint Bertin verbunden war, eine neue Heimat. Die Ausstattung der Saint Bertin-Handschriften erfolgte ausschließlich ornamental, dies jedoch auf höchstem Niveau. Der Berliner Psalter, nachweislich für einen König Ludwig geschrieben (Ludwig der Fromme oder Ludwig der Deutsche; zur Diskussion vgl. , 67), zeigt enge Parallelen zum Wolfenbütteler Psalter, und wurde vermutlich für diesen in Saint Bertin als Vorlage verwendet. Sein Formenspektrum, das starke Anklänge an die am kaiserlichen Hof entstandenen Handschriften aufweist (Stauden, Kandelaber- und Rankenmotive der Rahmenfüllung; zur ornamentalen Ausstattung der Hofschulhandschriften vgl. ), wurde im Wolfenbütteler Psalter durch stark insular geprägte Formen (Tierköpfe - 2r und Tierinitialen - 16r) sowie geometrisch angelegte Abläufe und Initialformen (41r, 56r) und nordfranzösisch geprägte Initialausstattungen (Blattvarianten - 29v, 14v) ersetzt und/oder ergänzt (zum Ornament vgl. ausführlich ). Als besonders charakteristisch für die Gruppe gilt der Spiralbaum (58v). Auch im Text des Psalters liegt nachweislich insularer Einfluss vor. Der Text beinhaltete zunächst nur eine ältere, kürzere Cantica-Reihe, die in insularer Tradition steht (vgl. London, BL, Cotton MS Vespasian A I (Vespasianpsalter), Canterbury, 2. Viertel 8. Jh.). Diese wurde von einer zweiten Hand (ab 79r) ergänzt ( , 107–114.). Direkt in Anlehnung an den Wolfenbütteler Psalter entstand das etwas weniger reich ausgestattete Evangeliar aus Prag, die weiteren Handschriften folgten. Die Gruppe der Saint Bertin-Handschriften darf als Impulsgeber für die im Benediktinerkloster Saint Amand ab ca. 850 einsetzende frankosächische Schule bezeichnet werden (frühe Handschriften dieser Gruppe: Pruntrut/Porrentruy, Bibliothèque Cantonale jurassienne, Ms. 34, Ivrea, Biblioteca Capitolare, Ms. XXIX (15), Paris, BnF, lat. 259 und Paris, BnF, lat. 2773, 111r–123v, Ivrea, Biblioteca Capitolare, Ms. XXIX (15) und Paris, BnF, lat. 11956 (Evangeliar aus Noyon); vgl. , 129–145).
, Ein karolingisches Sakramentar aus Echternach und seine Vorläufer, in: Acta Archaeologica 2 (1931), 207–244; , Anm. 105.; ; , 53, 55 Anm. 15, 56, 57, 66, 58, 61, 62, 63, 65, 67, 108–110, 298–313, Taf. 128–136). Erhaltene Handschriften:, Nr. 2807 (Heinemann Nr.). — , Ein karolingisches Sakramentar aus Echternach und seine Vorläufer, in: Acta Archaeologica 2 (1931), 207–244, hier 237. — , 134, 153, Abb. 194, 195. — , 26, Nr. 53. — , 34. — , Anm 105. — , Der Werdener Psalter in Berlin Ms. theol. lat. fol. 358. Eine Untersuchung zu Problemen mittelalterlicher Psalterillustration Düsseldorf 1979 (Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmäler im Rheinland, Bd. 24), 124 Anm. 60. — , Illuminierte Psalter von den Anfängen bis um 800, In: The illuminated Psalter. Studies in the content, Purpose and Placement of its Images, hrsg. von , Kolloquiumsbericht zum internationalen Kolloquium zur Buchmalerei “Der illuminierte Psalter. Darstellungsinhalte, Bildgebrauch und Zierausstattung“, Universität Bamberg 4.-6. Oktober 1999, Turnhout 2004, 107–135, hier Anm. 82. — . — , 53, 55 Anm. 15, 56, 57, 66, 58, 61, 62, 63, 65, 67, 108–110, 298–313, Taf. 128–136. — , Nr. 7287. — , 407.
Abgekürzt zitierte Literatur