Liber sextus cum apparatu Johannis Andreae
Pergament — IV, 100 Bl., IV — 41,5 × 27,5 cm — Frankreich (Avignon) — 14. Jh., Mitte
Lagen: 6 VI (72). 2 V (92). IV (100). Reklamanten am Ende der Lagen, gelegentlich mit Verzierung. Originale Lagenzählung durch Buchstaben (Minuskel) für die Lage und römische Zahlen für die Blätter der ersten Hälfte der Lage. Jeweils ein Binio (Papier) als vordere und hintere Vorsatzblätter, nicht nummeriert. Spätmittelalterliche Foliierung in arabischen Zahlen (schwarze Tinte). Generell im guten Zustand. Pergament stark gewellt, gelegentlich mit Flecken. Auf fol. 17 Riss an Vorderkante. Bei der Miniatur auf fol. 1r Farbausbrüche und pudernde Stellen. Unter den Benutzungsspuren auch Wachstropfen, z. B. fol. 87r. 3 bis 50 Zeilen (Haupttext). Bis 93 Zeilen (Apparat). Layout: Vier-Spalten-Klammerform, nach R[ubric]a und ad---d[iti]o.. Zum Phänomen der Additiones vgl. V. Colli, A proposito di codici d'autore dei giuristi medievali (sec. XII-XIV), in Iuris historia. Liber amicorum Gero Dolezalek, hrsg. von V. Colli und E. Conte, Berkeley 2008 (Studies in comparative legal history), S. 213-247. Fol. 73r von späterer Hand Verweis auf den Apparat zum Liber Sextus des Johannes Monachus, Zeitgenossen von Johannes Andreae: Idem Jo[hannes] Mo[nachus]…. Buchschmuck: Rubriziert (Text für die Rubriken auf dem Kopf- und Fußsteg gelegentlich noch sichtbar). I. Titelseite mit zentraler Miniatur (über die Breite des Textus inclusus) und langgezogenem Stab mit Rankenblättern im Interkolumnium und auf dem Fußsteg. II. Eine historisierte Initiale. III. Ornamentale Initialen (I-III: Deckfarbenmalerei). IV. Blau-rote, Rot-violette Fleuronnéeinitialen. V. Rote und blaue Lombarden im Wechsel. Rote und blaue Paragraphenzeichen. Die Lemmata im Apparatus mit gelber Tinte unterstrichen. Auf dem Kopfsteg, geteilt auf der linken und rechten Seite, in roter und blauer Tinte Titulus currens L[iber] VI. Dort auch später nachgetragene Zahl des jeweiligen Buches (1-3) in roter Tinte. Der Stil der Initialen mit vegetabiler Dekoration aus mehrfarbigen Akanthusblättern sowie die Ausführung der menschlichen Figuren und Gesichter mit grüner Schattierung sind mit der Ausstattung von einer Gruppe von Handschriften vergleichbar, die von verschiedenenen Künstlern aus Italien oder italienischer Prägung im eklektischen Stil um die Mitte des Jahrhunderts in Avignon illuminiert wurden. Insbesondere kommen folgende Handschriften für einen Vergleich in Frage: Lyon, Bibliotèque municipale, Ms. 5128 (Decretum mit Apparat von Bartholomaeus Brixiensis), für Figuren und Initialenausstattung; Paris, Bibliothèque Mazarine, Ms. 403 (Missale), für Initialenausstattung. Vgl. F. Manzari, La miniatura ad Avignone al tempo dei papi (1340 - 1410), Modena 2006, Kap. 3, hier S. 156-161; L. Alidori Battaglia, Committenza, scribi e miniatori tra Avignone e Reggio Emilia in due manoscritti per Rolando Scarampi, in Taccuini d'arte 5 (2011), S. 9-24. Zu der Produktion von Handschriften in Avignon im 14. Jh. mit heterogener, hybrider Ausstattung vgl. auch F. Manzara, Manuscrits liturgiques réalisés à Avignon dans la première moitié du XIVe siècle. Nouvelles découvertes dans les collections du Vatican, in Culture religieuse méridionale: les manuscrits et leur contexte artistique, hrsg. von M. Fournié, D. Le Blévec, A. Stones, Toulouse 2016 (Cahiers de Fanjeaux 51), S. 215-245. Ich danke François Avril und Francesca Manzari für diese Hinweise. Zu dieser Gruppe von Handschriften kann auch der Codex Bourges, Bibliothèque municipale, Ms. 184 (Liber sextus) zugerechnet werden. I. 1r: Auf einem Feld, 6 x 13,8 cm, Darstellung der Übergabe der Dekretalensammlung an den Papst. In der Mitte Bonifaz VIII. auf einem Thron sitzend. Hinter ihm ein Vorhang, giebelartig durch Ringe erhoben. Er ist von einem Bischof, drei Geistlichen und drei Laien umgeben. Zu seiner Rechten steht ein Bischof, der die rechte Hand auf die Schulter eines vor dem Papst knienden Geistlichen legt. Dieser, in der Tracht eines Gelehrten, übergibt ein Buch in die behandschuhten Hände des Papstes, der ihm zugewandt ist. Auf Grund der Entstehung der Sammlung durch eine Gruppe von drei vom Papst beauftragten Hauptredakteuren, Guillelmus de Mandagoto, Bischof von Embrun, Berengarius Fredoli, Bischof von Bezières, und Richardus Petroni de Senis, Vizekanzler der römischen Kirche, ist anzunehmen, dass die zwei Figuren, die dem Papst am nächsten stehen und ihm das Buch gemeinsam übergeben, zwei der Redakteure der Dekretalensammlung darstellen. Im Intekolumnium und auf dem Fußsteg Zierstab, in Weißlinienfiligran konturiert, unterbrochen von Blättern, Farbpollen und Knoten; er endet über die Miniatur mit Halbblättern in verschiedenen Farben, im Fußsteg mit einem spiralartigen Haken, durch den horizontal ein weiterer ähnlicher Zierstab läuft. Farben: Rot, Gelb, Blau, Hellblau, Grün, Rosa, Braun, Schwarz, Weiß. II. 1r: Historisierte Initiale: B(onifacius). Im unteren Binnenfeld des Buchstabens Büste des Papstes Bonifaz VIII. als Autor, mit Ornat und Mitra. Er hält einen Codex mit beiden Händen, wohl den von ihm 1298 promulgierten Liber sextus. Sonst gleich wie die ornamentalen Initialen. Farben (gilt auch für III): Rot, Grün, Blau, Hellviolett, Ocker, Rosa, Weiß. III. Drei- bis siebenzeilige (am Haupttext gemessen) hohe ornamentale Initialen (ohne Ausläufer) (ca. 1-4 cm), von gleicher Hand im Text und Apparat. Meistens rosa- aber auch hellviolett-, ocker- oder rotfarbener Stamm mit Weißlinienfiligran (Kreise, Punkte, konturbegleitender Faden, Faden mit eingerolltem Ende) vor rechteckigem blauem Grund. An den Enden wird der Grund durch andersfarbige, umgeschlagene Akanthusblätter mit weißem Filigran durchbrochen. Diese stellen in den meisten Fällen auch die Ausläufer der Initialen dar. Ähnliche Blattformationen oft auch als Besatz an den äußeren Kanten des Grundes. In Binnenfeld in verschiedenen Farben vegetabile Motive, vorwiegend Dreiblatt und Profilblatt (Halbpalmette), auch als Besatz auf den äußeren Seiten der Buchstabenbögen (fol. 1r) und mit weißem Filigran konturiert. Gelegentlich auch Knoten (beim Buchstaben I) oder einfache geometrische Farbenteilung des Binnenfeldes. 3r: I(pso). Hier Buchstabenstamm aus einer roten Drachenfigur mit grünen Flügeln gebildet, dessen Körper nach links, das Gesicht jedoch nach rechts in Richtung der Textspalte gerichtet ist. Als Ausläufer umgeschlagene Blätter wie bei den anderen Initialen. Vgl. die Darstellung eines Drachens auch auf dem Fußsteg von Paris, Bibliothèque Mazarine, Ms. 403, fol. 158v. Eine hybride Figur, halb Mensch, halb Drache, als Ausläufer ebenfalls ibid., fol. 8v. 60ra: Intiale Q(uia). Im Binnenfeld auf rosafarbenem Grund menschliches Gesicht, allerdings durch Farbensprung sehr beschädigt. Vgl. im Binnenfeld des Buchstabens C auch Lyon, Bibliothèque municipale, Ms. 5128, fol. 46r. IV. Schlichte zweifarbige Fleuronnée-Initialen, rot/blau in den blauen, violett/rot in den roten Initialen. Besatz: zwei Parallelfäden als Kontur und im Binnenfeld, mit Perlengruppen in der Mitte der Parallelfäden.
, Abb. 6. Schriftraum: 35-35,5 × 24 cm Rotunda von einer Hand. Am Rande Anmerkungen und Ergänzungen von verschiedenen Händen bis zum 15. Jahrhundert. Oft auch No[ta]-Zeichen, Maniculae, Hervorhebungen von Stellen durch Federstriche und gezeichnete Gesichter im Profil, z.B. 27r, 46v etc. Häufig von der ersten Hand die RandnotizenEine Restaurierung fand laut Dokumentation in der Restaurierwerkstatt der Universität Göttingen zwischen dem 23.12.1998 und dem 07.04.1999 statt (Protokoll Nr. 5115). Neuer Einband nach dem Modell und mit Resten des alten Einbandes fertiggestellt. Daraus resultieren: Neuer Ledereinband (Holzdeckel mit weiß gefärbtem Schweinsleder überzogen), vier Schließen, schildförmige Fensterlager, Hakenverschlüsse (Riemenbefestigung in brauem Leder mit Gegenblech). Fünf einfache Metallbuckel (Halbkugelform) auf VD und HD. Eckbeschläge mit Kantenleiste. Sieben Doppelbünde. Auf dem Rücken zwei moderne Papierschilder mit Signatur. Beigefüt zum Restaurierungsprotokoll fünf Diapositiven vom alten und vier vom neuen Einband. VS aus Pergament, aus der alten Handschrift wiederverwendet. Darin bibliothekarische Angaben (Bleistift): 2° Cod. Ms. jurid. 156. Cim.; 100 Bl. (Bl. 1 buntfarbige Miniatur). 3.3.80. Es folgt eine Sigel, wahrscheinlich Namen des Bibliothekars. Auf diesem Blatt auch fünf Löcher von den ehemaligen Buckeln und Rostflecken sichtbar. HS aus Papier, neu. Jeweils 4 Papierblätter als Vorsatz vor und nach dem Buchblock.
Herkunft: Hinweise zur Herkunft der Handschrift können durch die Merkmale von Schrift und Ausstattung gewonnen werden. Als Entstehungsort ist das Milieu von französischen und italienischen Schreibern und Künstlern in Avignon um die Mitte des 14. Jahrhunderts zu vermuten. Vgl. oben Buchschmuck. — Provenienz: Im 15. Jahrhundert war die Handschrift höchstwahrscheinlich im Besitz eines heute nicht identifizierbaren Philippus, der am 1. Juli 1432 eine Subskription auf dem ersten Blatt hinterließ. Aus dieser Formulierung könnte geschlossen werden, dass er wahrscheinlich als notarius oder cancellarius tätig war. — Ein schwarzer ovaler Stempel mit der Inschrift EX BIBLIOTHECA REGIA ACADEM. GEORGIAE AUG. befindet sich auf fol. 1r (Fußsteg, bei der Intersektion der dekorativen Balken). Dieser Stempeltypus war in Benutzung ab ca. 1850. Vgl. , S. 93, und liefert einen Terminus post quem für den Erwerb des Codex. In Bibliotheksarchiv, Kataloge, 67:4, S. 90d, unter Libri mssti 156 in Folio, Juridici, Jus Canonicum, wird den Inhalt beschrieben, aber keine weitere Angabe über die Erwerbung verzeichnet.
, S. 353.
1r-100v Liber sextus decretalium. Bonifacius episcopus servus servorum dei. De dilectis filiis doctoribus … — … legis nititur voluntatem. Idem explicit textus VI libri decretalium Deo gratias. (1r-100v) Apparatus. . Quia praeposterus est ordo … — … labores meos offeram iam licet noviter inchoatos. (1r) Auf dem Fußsteg spätere Anmerkung vom 01.07.1432: 1432 die primo Juli Philippus subscripsi. (100v) Eine andere Hand hat unter der linken Spalte des Haupttextes den Satz nachgetragen: [D]atum Rome apud sanctum Petrum V. Non[as] martii pont[ificatus] nostri anno quarto. Explicit apparatus domini Johannis Andreae supra VI libro decretalium. Edition : (Haupttext): 2, S. 935-1124. (Apparat): Sextus Decretalium cum certis additionibus Johannis Andree, Basel 1494 [= 4890]. Literatur: , S. 363-365. , S. 377. , S. 34-44 und 213-214 zum Apparat Johannes Andreae. Dort S. 43, Anm. 31, werden auch die zwei Handschriften in Göttingen erwähnt, allerdings ohne Nennung der Signaturen. Es handelt sich wohl um diese und 2° Cod. Ms. 155 jurid. Cim. T. Schmidt, Papst Bonifaz VIII. als Gesetzgeber, in Proceedings of the Eighth International Congress of Medieval Canon Law, San Diego, University of California at La Jolla, 21 - 27 August 1988, hrsg. von S. Chodorow, Città del Vaticano 1992 (Monumenta iuris canonici. Series C Subsidia 9), S. 227-245. Id., Bucheinteilungen im Liber Sextus Papst Bonifaz' VIII., in "Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert". Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, hrsg. von M. Ascheri, F. Ebel, M. Heckel, A. Padoa-Schioppa, W. Pöggeler, F. Ranieri und W. Rütten, Köln 2003, S. 905-911. Id., Die Rezeption des Liber Sextus und der Extravaganten Papst Bonifaz' VIII., in Stagnation oder Fortbildung? Aspekte des allgemeinen Kirchenrechts im 14. und 15. Jahrhundert, hrsg. von M. Bertram, Tübingen 2005 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 108), S. 51-64. Id., Palinsesto del "Liber Sextus", in Le culture di Bonifacio VIII. Atti del convegno organizzato nell'ambito delle celebrazioni per il VII centenario della morte; Bologna, 13 - 15 dicembre 2004, Roma 2006 (Bonifaciana 3), S. 47-62. Id., Publikation und Überlieferung des Liber Sextus Papst Bonifaz' VIII., in Proceedings of the Twelfth International Congress of Medieval Canon Law: Washington, D.C. 1 - 7 August 2004, hrsg. von U.-R. Blumenthal, K. Pennington und A. A. Larson, Città del Vaticano 2008 (Monumenta iuris canonici. Series C: Subsidia 13), S. 567-579. M. Bégou-Davia, Les origines doctrinales du Liber Sextus de Boniface Vlll. Une première ébauche, in Proceedings of the Fourteenth International Congress of Medieval Canon Law, hrsg. von J. Goering, S. Dusil und A. Thier, Città del Vaticano 2016 (Monumenta iuris canonici. Series C: Subsidia 14), S. 243-256. 2, Nr. 2, S. 477, mit weiterer Literatur.
:Abgekürzt zitierte Literatur
Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der abendländischen mittelalterlichen Handschriften der SUB Göttingen Lateinische Handschriften.