Lukas Wolfinger: In Vorbereitung: Katalog der mittelalterlichen volkssprachigen Handschriften der SUB Göttingen, beschrieben von Lukas Wolfinger. (Vorläufige Beschreibung)

Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 2° Cod. Ms. jurid. 72 Cim.

Sachsenspiegel Lehnrecht mit längerer Glosse - Richtsteig Lehnrechts

Papier — I, 260, I Bll. — 30,5-30,7 × 20,5-21 cm — Nürnberg (oder Bamberg?) — 15. Jh., 3. Drittel

Papier. Ochsenkopf (WZIS DE3270-jurid72_15); Ochsenkopf (WZIS DE3270-jurid72_14; Zwillingsmarke des vorhergehenden Wasserzeichens); Ochsenkopf (WZIS DE3270-jurid72_258); Ochsenkopf (WZIS DE3270-jurid72_260; Zwillingsmarke des vorhergehenden Wasserzeichens). Die vier Wasserzeichen sind analog gestaltet und jeweils zwei von ihnen gehören als Zwillingsmarken zusammen. Dabei kommt im ersten Teil der Handschrift (I: Bl. 1-222) - abgesehen von Bl. 217 und Bl. 219 - nur Papier mit den ersten beiden Wasserzeichen vor, während im zweiten (II: Bl. 225-260) nur Papier mit den letzten beiden verwendet wurde. Die Motivgruppe, der alle vier zuzurechnen sind (Fauna - Ochsenkopf - frei, mit Ober- und Unterzeichen an Stange - oben und unten einkonturige Stange - oben Blume - ohne weiteres Beizeichen - unten Dreieck - mit Schragen, drei Punkte - zwei Kreuzsprossen - mit Augen), ist vorrangig für die zweite Hälfte des 15. Jh.s nachgewiesen (und dann noch einmal um 1515). Der Schwer- bzw. Höhepunkt liegt dabei im Zeitraum von ca. 1460/65 bis 1477. Lagen: Neben je einem Vorsatz- und Nachsatzblatt aus Pergament (ehemaliger VS und HS?) besteht die Handschrift aus folgenden Lagen: 19 VI (228). V (238). VI (250). V (260); Kustode(n) und Reclamanten, die jedoch zum größten Teil dem Beschnitt des Buchblocks zum Opfer gefallen sind; Reste erkennbar auf: 12v (primus?); 48v (?), 156v, 180v, 192v, 216v, 228v, 238v. Bleistiftfoliierung (modern): 1-260. Die Handschrift erscheint wenig benutzt und weist deshalb abgesehen von den ersten und letzten Seiten kaum entsprechende Verschmutzungen oder Beschädigungen auf; im vordersten und hintersten Bereich (etwa bis Bl. 50 und ab Bl. 208) an den Blatträndern schmale Wasserflecken. Schriftraum: 20,2-21 × 11,8-12 cm; gleichbleibend 36 Zeilen (Blindlinierung), einspaltig. Ohne besonderen Aufwand, aber in regelmäßiger und geübter Bastarda (Text des Lehnrechts) und gotischer Buchkursive (Lehnrechts-Glosse und Richtsteig Lehnrechts) geschrieben. Rubrizierung und andere Gliederungs- oder Schmuckelemente sind nicht ausgeführt. Beide enthaltenen Texte wohl jeweils in einem durchgängigen Schreibprozess angefertigt und von einer Hand geschrieben. Kaum zutreffend ist hingegen die Angabe bei MGH Fontes iuris N.S. 9, Bd. 1, S. LXIX, dass die Handschrift von 'verschiedenen Händen' bzw. das Sachsenspiegel-Lehnrecht "nebst Glosse von mindestens zwei Händen" stamme; vielmehr scheint hier der Umstand, dass der Anspruch und die Form der Schrift einerseits mit unterschiedlichen Funktionen und/oder Positionen im Text und andererseits mit der wechselnden Aufmerksamkeit des Schreibers variieren, mit der Tätigkeit unterschiedlicher Hände verwechselt worden zu sein. Zwar ändern sich nämlich die verwendeten Formen durchaus immer wieder, doch sind auch Übereinstimmungen gut erkennbar. Weitere Stütze findet die Interpretation, dass es sich zwar um unterschiedliche Formen handelt, aber nicht um verschiedene Hände, erstens im Wasserzeichenbefund, der auf einen relativ geschlossenen Schreibprozess hindeutet (s. unter Wasserzeichen); und zweitens im Schriftrahmen, der durchgehend gleich bleibt; nur sehr wenige Korrekturen oder Benutzungsspuren (etwa auf 1r ein Nota-Bene-Vermerk, ebenso auf 2v - samt Unterstreichung). Wie bereits Frank Michael Kaufmann darlegt, fehlen der "unvollendeten Handschrift [...] alle zu rubrizierenden Bestandteile: Initialen, das Wort Glosa, weitestgehend auch die Artikelzählung (diese ist nur für Art. 71-80 vorhanden). Ferner fehlen lebende Kolumnentitel, Kustoden oder Reclamanten. Der Codex enthält keinerlei Marginalien." (MGH Fontes iuris N. S. 9, Bd. 1, S. LXIX; unzutreffend ist allerdings die Angabe, dass die Handschrift keine Reclamanten enthalte; s. dazu bei den Lagen; zudem im Vorhergehenden zu den äußerst wenigen Nutzerspuren, die doch vorhanden sind).

Aufwändig mit Lederschnitt gestalteter spätmittelalterlicher Einband: braunes Leder über Holzdeckeln; ehemals zwei Schließen und Metallbeschläge an den vier Ecken der Einbanddeckel (verloren); aus der in Bamberg - und zusätzlich vielleicht auch in Nürnberg - tätigen Werkstatt 'Mair bb' (Ulrich Meyer; Bamberg Karmeliterkloster; EBDB w000042), die bislang für den Zeitraum von 1471 bis 1481 nachgewiesen ist; verziert mit Blindstempeln, Streicheisenlinien und Lederschnitt. So wie bei einem großen Teil der anderen aus dieser Werkstatt bekannten Lederschnittbände ziert der Lederschnitt auch in diesem Fall das zentrale, hochrechteckige Feld des Vorderdeckels, das "von einer Kette von Stempeln umrahmt" ist, während der Rückdeckel "nur mit Einzelstempeln im gerautetem Mittelfeld bedeckt" ist (so Schunke/Rabenau, S. 24-25; s. ebd. auch die weiteren Angaben zur Werkstatt). Er zeigt das Vollwappen der Nürnberger Patrizierfamilie v. Thil mit Wappenschild, (Stech)Helm, Zimier und Helmdecke. Mehrere sehr ähnlich gestaltete Einbände, die dasselbe Wappen zeigen, sind in der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel erhalten (eine Zusammenstellung entsprechender Bände bietet Husung Die Lederschnitt-Wappenbände, S. 240; hinzu kommt noch Herzog August Bibliothek - Wolfenbüttel, 23.1 Phys. 2° bzw. EBDB k005372; für Abbildungen s. ebd. oder Herbst Alte deutsche Bucheinbände, S. 13 und Tafel II). An Blindstempeln sind für den Einband verwendet: Adler – heraldisch - Doppeladler - mit Krone (EBDB s000296 oder EBDB s002505 - Dublette?); Blumentopf (EBDB s002510); Einhorn - steigend/springend (EBDB s002508); Hund - springend (EBDB s005414); Rosette - mit einem Blattkranz - sechsblättrig - Blätter rundoval (EBDB s002513); Herzblattpalmette (EBDB s002511); Rosette - mit einem Blattkranz - sechsblättrig - Blätter rundoval (EBDB s002512); s. zur Gestaltung dieses Einbandes auch Schmidt-Künsemüller Corpus der gotischen Lederschnitteinbände, S. 16, Nr. 91 und Abb. 91; am oberen Rand des Rückens gedruckte Papierschildchen, eines mit der Göttinger Signatur (Cod. Ms. jurid. 72), das andere mit der Angabe Cim. Auf dem VS noch einmal eingetragen die Göttinger Signatur (Cod. Ms. jurid. 72; Bleistiftvermerk); auf den VS an- und aufgeklebt überdies die Handschriftenbeschreibung von W. Meyer sowie der gedruckte Bearbeitungsvermerkt der Preuss. Akad. d. Wiss. (Dr. Marie-Luise Dittrich, Mai 1938); zudem der moderne Bleistifteintrag mit Literaturverweis auf Herbst Alte deutsche Bucheinbände (s. dazu auch im Vorhergehenden); durchgehend Pergamentstreifen zur Falzverstärkung.

Herkunft: Da nichts dafür spricht, dass der Einband für die vorliegende Handschrift zweitverwendet wurde, dürfte sie so wie dieser für ein Mitglied der Nürnberger Patrizierfamilie Hack von Sul, genannt v. Thil, angefertigt worden sein, deren Wappen der Lederschnitt auf dem Vorderdeckel zeigt. Husung Die Lederschnitt-Wappenbände, S. 240, nimmt aufgrund von vergleichbaren Lederschnittbänden, die das betreffende Wappen als Teil eines Allianzwappens zeigen, an, dass Hans Hack von Sul, genannt von Thil, derjenige war, auf den die Anfertigung der Einbände zurückging (bzw. für den sie hergestellt wurden). Dieser, der "1481 'Genannter' des Größeren Rates, dann Pfleger des Nürnbergischen Amtes zu Lichtenau war" und 1492 starb, war nämlich seit 1481 mit Klara Imhof (gest. 1542) verheiratet und da das genannte Allianzwappen auf den Einbänden neben dem Thilschen Wappen auch jenes der Familie Imhof zeigt, lässt Hans Hack von Sul sich zumindest für diese Bände als Auftraggeber plausibel machen. Für die übrigen der betreffenden Lederschnittbände ist er deshalb als Vorbesitzer gleichfalls naheliegend. Die Schreibsprache des Bandes (Nordböhmisch mit nord- und mittelbairischen Einflüssen) lässt sich durchaus in dieses Entstehungsbild integrieren. Soweit die Einbandwerkstatt 'Mair bb' nicht - wenigstens zeitweise - doch in Nürnberg gearbeitet haben sollte, wäre am ehesten zu vermuten, dass die Handschrift in Nürnberg geschrieben und dann in Bamberg gebunden wurde (Husung Die Lederschnitt-Wappenbände, S. 240 nahm hingegen an, dass es sich bei dem verantwortlichen Buchbinder bzw. Einbandkünstler nicht um Ulrich Meyer in Bamberg handelte, sondern dass die Einbände von dem "Lederschnittkünstler Meir Jaffe aus Ulm gefertigt" seien, "dessen Tätigkeit gerade in Nürnberg [...] archivalisch festzustellen seinerzeit gelungen" sei). — Die weitere spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte der Handschrift ist nicht nachvollziehbar. Allerdings erinnert die Altsignatur 44. 22. Mss. auf 1r - worauf Frank Michael Kaufmann hinweist - "an die alte Signatur" einer Handschrift "im 'Bücherradkatalog' Herzog Augusts [...] und steht in offensichtlichem Zusammenhang mit jenem Eintrag; beide Handschriften beinhalten das Ssp.-Lehnrecht sowie den Richtsteig Lehnrechts" (MGH Fontes iuris N.S. 9, Bd. 1, S. LXIX). Ein Zusammenhang mit der von Kaufmann erwähnten Handschrift der Herzog August Bibliothek wird dadurch noch naheliegender, dass sich in Wolfenbüttel auch eine Reihe weiterer spätmittelalterlicher Bände mit Lederschnittbänden erhalten hat, die analog gestaltet sind und v.a. auch das Wappen der Familie v. Thil zeigen (s. unter Einband). Die Göttinger Handschrift könnte einst im Verbund mit diesen in die herzogliche Bibliothek gelangt sein. Spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts soll sie sich dann jedoch in der Schulbibliothek von S. Andreae zu Hildesheim (Ministerialbibliothek) befunden haben. Aus dem Bestand derselben gelangte sie laut Wilhem Meyer dann 1816 an die Bibliothek der Universität Göttingen (vgl. Göttingen 1, S. 325). Auf 1r dazu passend der älteste - kleinere - Bibliotheksstempel der Georgia Augusta.

Göttingen 1, S. 324-325. — Oppitz 2, S. 524, Nr. 591. — MGH Fontes iuris N.S. 9, Bd. 1, S. LXIX-LXX — Handschriftencensus.

1r-225v Eike von Repgow: Sachsenspiegel-Lehnrecht mit längerer Glosse. (1r-2r) Vorrede. [D]er menschenn gedancken geprechlich sind vnnd die schar der dingen ist in nit genug … — … darumb spricht Iustinianus in prohemio C. firme itaque studio. (2v-225r) Glosse. [W]er lehenrecht kennen wolde der volge dises puechs ler; aller erst sall wir wissen das der herschilt … — … So vint man er sei neher zu entgen als da stett et ff. de re iuris. l. fauorabiliores. Et l. non debet et C. de testibus l. 7 (?). etc. Das Sachsenspiegel-Lehnrecht ist hier unterteilt in 81 - großteils ungezählte - Artikel, der Text der Glosse folgt jeweils artikelweise. In Text und Glosse von c. 70 sind zwei Bll. in falscher Reihenfolge eingebunden (Bl. 203 und Bl. 204 sind vertauscht, letzteres müsste vor dem heutigen Bl. 203 stehen). Edition: MGH Fontes iuris N.S. 9, Bd. 1-3; der Text der Göttinger Handschrift endet ebd., Bd. 3, S. 1090, Z. 4 (zur vorliegenden Handschrift und Textfassung s. ebd., Bd. 1, S. LXIX-LXX). (225v) leer.

226-260v Richtsteig Lehnrechts. Incipit processus iudiciarius libri feudorum. [W]enne nirgen ein man sein treu an beweisen kan bilicher wenne an dem der in wol handelt … — … das sol er bei sechs wochen ausziehen, etc. Sic et finis est huius operis. Ohne Kapitelzählung, mit Remissionen; diese Textfassung gehört der Klasse III des Richtsteigs an (vgl. Oppitz 1, S. 66); Edition: Homeyer Das Sächsische Lehnrecht und der Richtsteig, S. 409-540; s. zur vorliegenden Textfassung auch MGH Fontes iuris N.S. 9, Bd. 1, S. LXX; allgemein zum Richtsteig Lehnrechts 2VL, Bd. 8, Sp. 62-64. (258r-260v) leer.


Abgekürzt zitierte Literatur

EBDB Einbanddatenbank (http://www.hist-einband.de/, besonders die Sammlung Wolfenbüttel)
Göttingen 1 Die Handschriften in Göttingen, Bd. 1: Universitäts-Bibliothek: Philologie, Literärgeschichte, Philosophie, Jurisprudenz, beschrieben von W. Meyer, Berlin 1893 (Verzeichniss der Handschriften im Preussischen Staate, Abt. 1: Hannover. Bd. 1: Die Handschriften in Göttingen 1)
Handschriftencensus Handschriftencensus. Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters. Online-Datenbank: https://handschriftencensus.de/
2VL Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1–12, hrsg. von K. Ruh u. a., 2., völlig neu bearbeitete Aufl., Berlin, New York 1978–2005, Ergänzungsbde.: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 1–3, hrsg. von F. J. Worstbrock, Berlin, New York 2005–2015
WZIS Wasserzeichen-Informationssystem. Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart (http://www.wasserzeichen-online.de/wzis/index.php)